In welchem Zeitalter erschienen auf unserer Erde die ersten Schmetterlinge?
Friedrich Schnack, Das Leben der Schmetterlinge, 1928
Gebannt las ich die Frage am Beginn des Buches, das ich mir eben für 1 Mark antiquarisch gekauft hatte. Ich war neun Jahre alt und auf Ferienfahrt in Bad Zwischenahn mit meinem Kölner Judo-Club Wu Wang. Auf dem Buch im Wühltisch vor dem Laden prangte ein Schmettelings-Stich von Merian und stach mir ins Auge. Sofort griff ich zu. Ich habe das Buch noch als Kind unzählige Male gelesen.
Sein Lyriker Friedrich Schnack fragte sich:
Ich wüßte gern, ob damals schon Blumen blühten und welche, auf dem vom Beben geschüttelten Land, in jener menschenlosen Vorzeit, als auf der Erdenflur die Berge hüpften wie Wogen auf Meeren. Die Blumen, hatten sie ihre Schmetterlingsspeise, den Nektar, schon erfunden?
Seine Zeiten überspannende Phantasie entzündete meine kindliche Neugierde bis heute. Und heute endlich beantworten mir neueste molekulargenetische Studien die Fragen des Dichters aus seinem Buch von 1928. Das Wissen seine Zeit beschränkte hatte sich noch auf steinerne Spatenfunde:
Ausgrabungen in der Juramasse förderten einige fossile Reste schmetterlingsähnlicher Insekten herauf. Viel lehrten sie uns nicht. Über die leichte Geisterwelt der Urfalter hat sich die Steindecke der Erde gelegt.
Was Fossilien sind, wußte ich freilich schon 1963 als neunjähriger Junge, und in urzeitliche Szenarien sah ich große Tropenfalter um mampfende Saurier in dampfenden Urwäldern gaukeln.
Doch gefährlich ging es damals zu, wußte ich aus großen, bebilderten Büchern meines Vaters über „die Welt, in der wir leben“.
Diese friedlichen Wesen nahmen an den Entwicklungsstürmen teil, und ihr Schicksal waren die Elemente. Vielleicht haben Wirbelstürme die Schmetterlingsheere zerstäubt, Wolkenbrüche ihre Geschwader ersäuft, Vulkane ihre Züge verbrannt, in jener zeitlosen Zeit, als die Faltervölker, angezogen vom Schein der Krater, funkensprühend in die Flammen stoben.
Friedrich Schnack
In solchen Sätzen schwelgte ich in kindlicher Begeisterung, bis ich sie auswendig konnte. Die Vorstellungskraft des Dichters ist schneller als die Wissnschaft. Fast sechzig Jahre mußte ich warten, bis gestern auf wissenschaft.de
ein Artikel erschien: „Seit wann Nachtfalter hören können“, verbunden mit einem Link auf eine Arbeit vieler fleißiger Wissenschaftler:
Den Link zu öffnen war mir wie Weihnachtsgeschenke auspacken. Friedrich Schnack hatte 1928 ja so Recht!
Die ersten Vorformen der Schmetterlinge entwickelten sich im späten Karbon vor 300 Millionen Jahren. In der mittleren Trias erfanden sie vor rund 241 Millionen Jahren ihre typischen Saugrüssel. Sie paßten sich damit schnell den sich gleichzeitig gedeihenden blühenden Pflanzen an. Schmetterlinge und Blumen gehörten schon immer zusammen!
Was intuitiv einleuchtet und Schmetterlingsdichter schon immer wußten, heißt heute Koevolutionstheorie: Hand in Hand blühten Blumen und Schmetterlinge zu ungeheurer Artenvielfalt auf. Man hat schon 160000 Schmetterlingsarten entdeckt. Indem Schmetterlinge Blüten bestäubten, halfen sie ihnen, sich weithin auszubreiten.
In der späten Kreidezeit vor 98 Millionen Jahren verließen die Schmetterlinge das Dunkel der Nächte. Die ersten Tagfalter haben tatsächlich Saurier umkreist. Haben sie Saurierschweiß getrunken, falls es den gab? An werdenden Koprolithen gerüsselt? Große Schillerfalter mögen das heute noch und setzen sich saugend auf schwitzende Pferde und ihre Hinterlassenschaften.
Jahrmillionen bevor Fledermäuse sich in die Luft erhoben und dicke Nachtfalter jagten, konnten diese schon hören. Heute lassen sich manche Arten zu Boden fallen, sobald sie von der Echopeilung der Luftjäger getroffen werden.
Aus dichterischer Sicht beherrschen Schmetterlinge nicht nur solche Flugkünste. Sie können auch zaubern:
Jedenfalls können sie die Herzen kleiner und großer Jungs verzaubern und auf ewig binden. Es gab da einst in Köln einen blassen, achtjährigen Großstadt-Jungen. Von Friedrich Schnack wußte er noch nichts. Seine Spielwelt waren die Trümmergrundstücke rund um die stehengebliebene halbe Häuserzeile zwischen Bahndamm und Moltkestraße. Jährlich wurde er vom Gesundheitsamt auf sechs Wochen zur Kur geschickt.
Im Bombenhagel waren die Häuser bis auf die Grundmauern vernichtet, die Grundstücke aber schon enttrümmert. Wer klein und pfiffig war, fand zwischen Maschendrahtzäunen und Reklametafeln Schlupflöcher. Abgebrochenen Zahnstümpfen gleich ragten dort die Kellermauern übermannshoch, deckenlos, haltlos. War man schwindelfrei, konnte man aber gut auf ihnen balancieren, zwei Steinbreiten Platz genügen kleinen Füßen.
Oben muß man wandeln, denn unten wuchert das Dickicht. Sechzehn Jahre nach dem Bombentod erblühte dort pflanzliches Leben, Gestrüpp – Brennesseln – und: Buddleja! Ungestört breiteten sie sich dschungelhaft aus. Mochte es in dem früheren Kellerloch auch nach nassem Ziegelschutt stinken, mochten dort Asseln kriechen und Spinnen lauern, hier oben reckte sich der Sommerflieder üppig der Sonne entgegen.
Und auf ihm saßen: Schmetterlinge!
Admirale! Zitronenfalter! Füchse! Tagpfauenaugen! Dem Achtjährigen gingen die Augen über. Der Duft! – Sommer, Sonne, Buddleja und Schmetterlinge ließen Schutt, Trümmer und brandenden Autokrach vergessen. Hier war der Himmel. Der Kleine-Jungen-Himmel. Jedenfalls so ähnlich müßte er sein.
Seitdem hat sich der Himmel nie wieder ganz schließen können. Immer gibt es irgendwo einen Sonnenstrahl, in dem von fern ein Falterflügel winkt. –
Klaus Kunze 29.10.2019
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