Die Flexibilität offener Systeme
Autokraten sind auf die Zustimmung ihrer Untertanen nicht angewiesen. Ein demokratischer Politiker muß dagegen flexibel sein. Wenn der Wind sich dreht, muß er sein Fähnchen schnell genug mitdrehen können. „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?“, fragte einst Konrad Adenauer.
Prinzipientreue Menschen rümpfen über solche Wetterwendigkeit die Nase. Auf der anderen Seite kann es ein entscheidender Vorteil eines offenen Systems und einer offenen Informationsgesellschaft sein, sich auf Veränderungen schnell einzustellen und mit der Lage angepaßten neuen Paradigmata zu reagieren. Putin hat diese Flexibilität der westlichen Gesellschaften unterschätzt. Er hat Pussy-Staaten gesehen und meinte, sie würden sich ihm willig anschmiegen, kätzchengleich einschmeicheln und unterwerfen.
Heute ähnelt die Stimmung in Europa anscheinend eher dem eines aufgereizten Wespenschwarmes. Der Wind hat sich gedreht. Die ihn machen und anfachen, sind Meister ihres Faches. Von heute auf morgen haben wir keine Angst mehr vor Corona, sondern noch größere noch vor Putin. Wie mit einem An- und Ausschalter läßt sich unsere Staatspropaganda von Friedensbetrieb auf Kriegsmentalität umstellen.
Die alten Überzeugungen und Phrasen werden eingemottet. Deutschland macht sich mental kriegstüchtig. Daß von unserem Boden nie wieder Krieg ausgehen dürfe und wir uns schämen müßten bis ins siebente Glied war gestern. Die Singularität deutschen Verbrechertums wird ad acta gelegt. Am 1. März hieß es im Tagesbefehl des Generalinspekteurs des Bundeswehr Eberhard Zorn:
Die Alliierten der NATO haben dem Oberbefehlshaber der NATO-Streitkräfte in Europa die notwendige Handlungsfreiheit gewährt, auf die beispiellose russische Aggression zu reagieren.
Eberhard Zorn, Tagesbefehl 1.3.2022.
Achten Sie auf die Feinheiten! Als beispiellose Aggression galten bisher Hitlers „Überfall auf Polen“ und sein „verbrecherischer Angriffskrieg“. Seit dem 1. März 2022 ist er nicht mehr beispiellos. Er wurde abgelöst und scheinbar übertroffen vom aktuellen „beispiellosen Angriff“ Putins auf die Ukraine. Schlaglichtartig werden die stereotypen Phrasen und historischen Superlative transparent und relativiert, mit denen man uns seit Jahrzehnten am Nasenring durch die Manege führt.
Die medialen Endlosschleifen
Unterdessen werden unsere Medien nicht müde, uns in Endlosschleifen das Leid ukrainischer Kinder und Mütter vor Augen zu halten. Die neuen Heldinnen sind junge Frauen, die sich in Kiew bis unter die Zähne bewaffnen, mal eben lernen, wie man mit einem Gewehr umgeht und jeden Zentimeter der heiligen ukrainischen Erde verteidigen wollen. Derweil laufen auf anderen Programmen noch die volkspädagogischen Endlosschleifen über jenen Kerl von 1933-45, der seinen Krieg Tag für Tag aufs Neue auf irgendeinem TV-Kanal verliert. Nie fehlen Bilder greiser und jugendlicher Volkssturmmänner, die im letzten, „sinnlosen“ Widerstand „verheizt“ wurden.
Um uns alle mental einzunorden, greift man zu Schritten, die bereits im 2. Weltkrieg den Durchhaltewillen schützen sollten: das Abschalten von Feindsendern. Das Dritte Reich konnte gegen die in London ausgestrahlten Sendungen nicht direkt vorgehen. Es verbot, sie zu hören und erklärte das Hören von Feindsendern für strafbar.
Heute sind wir da viel weiter. Den Empfang der Moskauer Sender RT und Sputnik schaltet man einfach im Internet ab. Am 2. März hatte das die EU dekretiert, und heute kann ich auch im Internet RT nicht mehr empfangen. Dabei war es stets amüsant, die verlogene Propaganda des östlichen Staatssenders mit der Propaganda unserer Staatssender zu vergleichen. Übrig bleiben die gewöhnlich sofort erkennbaren und darum harmlosen Twitter-Beiträge Moskauer Herkunft.
Sie sollen den Widerstandswillen lähmen, Zweifel am Sinn der Vertedigung wecken und Furcht einflößen. „Aus Rußland kommt keiner zurück!“ hatte Radio Moskau im letzten Weltkrieg geraunt. Jetzt warnt Putin vor Unvorstellbarem, falls die NATO der Ukraine beispringen sollte: „Abschreckungswaffen“ in Alarmbereitschaft. Bereitwillig sprang unsere Kampfpresse darauf an.
Der Wind schlägt um. Im Fernsehen und Rundfunk haben auf einmal Militärexperten, strategische Analytiker und pensionierte Generäle das Sagen. Herrn Habeck fällt auf einmal auf, daß unsere Energiesicherheit kurzfristig wichtiger ist als das Klima.
Der unentbehrliche ewige Nazi
Die Propagandaschlacht tobt an allen Fronten. Weil das bei uns doch sonst immer zieht, giftet Putin, die Ukraine sei von Nazis durchsetzt und müsse entnazifiziert werden. Unsere üblichen Nazi-Riechnasen halten die Füße merkwürdig still. Jeden patriotischen Deutschen haben sie jahrelang gern als Nazi entlarvt. Zumindest kennt er gewiß einen Nazi und hat sich nicht von ihm distanziert. Aber die Regierung unter dem jüdischen Präsidenten Selenski als nazistisch zu „entlarven“ wäre wohl zu abstrus um glaubwürdig zu sein.
Die mächtige Kölner Domglocke hatte am Tag der Wiedervereinigung Deutschlands schweigen müssen. Für die Ukraine durfte sie jetzt läuten.
Die deutsche Gesellschaft hatte einer Herde verstreut grasender Rinder geglichen. Über Nacht verwandelte sie sich in eine trotzige Gemeinschaft und droht nach außen hin mit einen Ring abwehrbereiter Hörner, die geflüchteten Frauen und Kindern in ihrer Mitte. Es walten dieselben massenpsychologischen Gesetzmäßigkeiten, die uns ab 1914 und 1939 zusammengeschweißt hatten.
Rückblickende Generationen haben das nicht mehr begriffen oder nicht mehr verstehen wollen. Vielleicht versteht der eine oder andere selbstkritische Gutmensch es heute besser. Menschenmassen waren und sind lenkbar. Druck erzeugt Gegendruck. Angst lähmt kurz und weckt dann Aggression. An Aggressivität lassen viele Äußerungen früherer Gutmenschen jetzt nicht mehr viel Luft nach oben.
Im Westen nichts Neues
Es gilt, was immer galt. Die Menschen sind, wie sie immer sind, und sie reagieren heute so berechenbar wie zu allen Zeiten. Vielleicht sprengt es jetzt nicht mehr die rationalen und emotionalen Möglichkeiten, die ins Grab gesunkenen Generationen zu verstehen, die bis zur letzten Patrone die Festungen Breslau und Königsberg verteidigt hatten. Man kann das nicht mehr im selben Atemzug als „sinnlos“ verdammen und die Kampfbereitschaft junger Ukrainerinnen bis hin zu alten Männern in Kiew bewundern. Es gibt Schlimmeres als den Tod. Das mußten viele Deutsche 1945 nach dem Zusammenbruch schmerzhaft erfahren.
Nicht unsere ganze Jugend besteht aus Weicheiern, Transvestiten, Schneeflöckchen, potentiellen Deserteuren und Defätisten. Künstlich unterdrückte Emotionen und Einstellungen werden sich wieder Bahn brechen, wenn uns genug Zeit bleibt. Lebten wir alle in einem Paradies, Seite an Seite mit Schafen und friedlichen Löwen, wäre Gemeinschaftsbildung, Gemeinsinn, Tapferkeit und Opferbereitschaft sinnlos. Unsere jüngeren Generationen lernen gerade, daß wir aber in einer solchen Welt nie lebten und daß sie voraussichtlich auch in Zukunft nicht in ewigem Frieden werden leben können. Sie wird von Computer-Kriegsspielen und heroischen Filmen wie „Dreihundert“ oder „Vikings“ aufblicken und der Realität ins Auge sehen müssen.
Jessica
Very well said. Maybe people in general will decide to fight to survive.
————————————————————————
Sehr gut gesagt. Vielleicht entscheiden sich die Menschen im Allgemeinen dafür, ums Überleben zu kämpfen.
Wolfgang+Meier
„Die alten Überzeugungen und Phrasen werden eingemottet. Deutschland macht sich mental kriegstüchtig. “
Der weibliche Häuptling der SPD, Eskens, sprach am Sonntag Abend im Fernsehen bereits von der Wehrmacht, womit sie die Bundeswehr meinte.