Konservativ sein …
Konservativ sein, heißt nicht an Altem zu hängen, wenn es verkehrt ist. Schon gar nicht verlangt es, alles Gegenwärtige unbedingt zu erhalten.
Der Konservative weiß um die Flüchtigkeit der Gegenwart. Von der periodischen Umstürzung aller Verhältnisse könnten die Generationen der um 1890 bis 1960 Geborenen viel erzählen: würden ihnen die Jüngeren nur zuhören.
Den Zeitgeist zu heiraten, hat schon viele schnell zu Witwern gemacht. Konservativ sein bedeutet darum, zu leben aus dem, was immer gilt. Die Progressiven hingegen bestreiten, es gebe überhaupt etwas ewig Geltendes.
Dieses Geltende sind die zwischenmenschlichen Spielregeln. Hunderttausende von Jahren haben Menschen sich in kleinen Familien- und Sippenverbänden um ihre Lagerfeuer geschart. Über die biologischen ererbten Grundlagen unseres Sozialverhaltens können wir uns auch hinwegsetzen. Es erfordert aber starke innere Überwindung und beschert ein schlechtes Gewissen, die evolutionär erworbenen und auch kulturell überlieferten Grundregeln menschlichen Zusammenlebens zu verletzen.
Homer: Sitte und Satzung
Was eber „gilt immer“? Die Entscheidung kann jeder nur für sich selbst treffen. Für die ethische Gretchenfrage: „Was soll ich tun?“ gilt das erst recht. Die Aufklärung hat uns von den Imperativen der Sitte befreit, und der jeweiligen „Satzung“ gehorchen wir als gesetzestreue Bürger.
Für den Tragödiendichter Sophokles war klar: Die Sittengesetze sind göttlichen Ursprungs und wichtiger als die Satzung: Antigone mußte ihren Bruder beerdigen, auch wenn der König ihr das verbot.
Sitte und allgemeinmenschliche Satzung kamen nach allgemeiner Meinung der alten Griechen von den Göttern. Alles Unerklärliche führte man auf sie zurück. Der im 8. Jahrhundert v.Chr. lebende Dichter Homer schenkte uns mit seiner Ilias und der Odyssee ein Kompendium dessen, was „Sitte und Satzung“ verlangten. Die Gesänge, später Bücher, wurden zur „Bibel“ des klassischen Griechentums.
Sie sind bis heute klassisch, und ihr Sinn lebt fort. Homer führt uns nämlich aus sener Sicht vor Augen, „was immer gilt“, und was aus denen wird, die sich nicht daran halten. Unter der vordergründigen Schilderung der vor Troja geleisteten Heldentaten in der Ilias und den in eine Rahmenerzählung eingebetteten Märchen der Odyssee verbirgt sich ein stetiger Subtext. Ein Subtext ist oft wichtiger als der Gang der Erzählung. Er steht zwischen den Zeilen und verhält sich zur Handlung wie der Kern einer Sache, verhüllt von einem zufälligen Mantel. Homers Subtext: Lebe aus dem, was immer gilt, weil die Götter es gesetzt haben!
Das heilige Gastrecht
Zu ihm gehört das heilige Gastrecht. Wer als Fremdling flehend bittet und um Schutz fleht, den nimmt sein Gastgeber freundlich auf. Bevor er noch irgendeine Frage an den hungrigen und müden Wanderer richtet, läßt er ihn sich erst einmal waschen, essen und ausschlafen. So gelangte Osysseus nach jahrelanger Irrfahrt wieder auf seine Heimatinsel Ithaka. Pallas Athene hat ihm durch Zauber das Aussehen eines Greises verliehen.
Der Schweinehirte Euryklos erkennt in dem Bettler seinen Herrn nicht. Trotzdem gibt er ihm Essen, Wein und eine Schlafstelle. Lesen wir einmal Homer im 14. Gesang, Zeile 53 ff., nach:
Und Odysseus freute sich dieses Empfanges, und sagte:
Homer, Odyssee
Zeus beschere dir, Freund, und die andern unsterblichen Götter,
Was du am meisten verlangst, weil du so gütig mich aufnimmst!
Ihm antwortetest du, Eumaios, Hüter der Schweine:
Fremdling, es ziemte mir nicht, und wär‘ er geringer als du bist,
Einen Gast zu verschmähn; denn vom Gott sind ja alle
Fremdling‘ und Darbende.
Viele Jahrhunderte nach Homer erzählt uns auch Ovid in seinen „Metamorphosen“ die Sage des armen, alten Ehepaares Philemon und Baucis. Sie bekamen unerkannt Besuch von Zeus und Hermes – ein auch aus der germanischen Göttersage bekanntes Motiv, wenn Wodan als Wanderer unerkannt an die Tür klopft. Von dem Geringen, das Philemon und Baucis noch haben, geben sie den scheinbaren Wanderern das Beste ab und werden dafür später belohnt. Die abweisenden anderen Dorfbewohner aber trifft ein göttliches Strafgericht.
In Zeiten, als es noch weniger bewohnte Landstriche gab, aber viele wilde und ungastliche, war Gastlichkeit für Reisende überlebenswichtig. Ein Fremder wird da willig aufgenommen, von Philemon und Baucis auch zwei. Der Fremdling kommt zwar, doch man weiß: Er wird auch wieder gehen. in unserem Land gilt nach uralt-Väter-Sitte: Fisch und Gäste fangen nach drei Tagen an zu stinken.
Fremdling: Gast oder Eroberer?
Doch wenn nun die Fremden nicht allein oder zu zweit bittend an die Tür klopfen, sondern deren Dutzende? Hunderte? Tausende? Millionen? Wenn sie nicht wieder gehen wollen, sondern es ihnen zu bleiben beliebt, solange der Vorrat reicht? Was vom heiligen Gastrecht gilt für uns heute – noch immer?
Zu Homers Zeiten waren schon Dutzende Fremder keine Hilfsbedürftigen, die dem göttlich gestifteten Gastrecht heilig waren. Bei Dutzenden oder gar Hunderten fing nämlich die Invasion an. Dann galten andere Spielregeln, zumal, wenn die Ankömmlinge nicht demütig und kniefällig dem Hausherrn nahten, sondern hinter seinem Rücken eigenmächtig eindrangen und seinen Besitz verpraßten.
Was wenn sie die Hausherrin bedrängten, die Mägde ins Bett nahmen und sich über Jahre aufführten wie die neuen Herren im Hause? Gerade so erging es dem jungen Sohn des verschollenen Odysseus, Telemachos, und Odysseus treuer Frau Penelope, die sich der Freier der vermeintlichen Witwe kaum noch erwehren konnte.
Wer aber eigenmächtig in fremden Besitz einbricht, frech die Frauen bedrängt, den Sohn des Hauses verspottet und bedroht und sich von den Knechten mit Speis und Trank durchfüttern läßt, ist kein Gast. Ihn schützt das Gastrecht nicht, er bricht es ja selbst in frecher Anmaßung. Damit verstößt er in todeswürdiger Weise gegen die göttergegebene „Sitte und Satzung“: Der Knecht Eimaios erkannte seinen alten Herrn nicht und hielt ihn für einen Bettler. Er (Zeile 80 ff.)
setzte dem Gaste sich gegenüber und sagte ermunternd:
„Iß jetzt, Fremdling, was Knechten zusteht, Braten von Ferkeln!
Aber das Fleisch der gemästeten Eber verschlingen die Freier,
ohne die Götter zu scheuen und ohne Erbarmen zu zeigen.
Ruchloses Handeln können die seligen Götter nicht leiden,
rechtliches Handeln schätzen sie und Wahrung des Rechtes.
Die abscheulichen Seeräuber fahren, sofern sie an fremder Küste
zu landen vermochten und Zeus sie durch Beute beglückte,
mit den beladenen Schiffen schleunigst zurück in die Heimat;
sie auch empfinden zutiefst die Furcht vor der Strafe der Götter.
Homer, Odyssee
So ward Zeus Wille vollendet
Unterdessen muß Odysseus – von Athene verschleiert – mit ansehen, wie seine Mägde nachts zu den Freiern ins Bett stiegen (20.Gesang, 5 ff.).
Allda lag Odysseus, und sann dem Verderben der Freier
Wachend nach. Nun gingen die Weiber aus dem Palaste,
Welche schon sonst allzeit der Freienden Buhlschaft pflagen,
Schlichen hinaus und scherzten und kicherten untereinander.
Aber dem Könige ward sein Herz im Busen erreget;
Und er bedachte sich hin und her mit wankendem Vorsatz:
Ob er sich plötzlich erhübe, die Frechen alle zu töten;
Oder er ließ noch einmal sie zu dem Bette der Freier,
Jetzt das letzt- und äußerste Mal. – Im Innersten bellte sein Herz ihm:
So wie die mutige Hündin, die zarten Jungen umwandelnd,
Jemand, den sie nicht kennt, anbellt, und zum Kampfe hervorspringt.
Also bellte sein Herz, durch die schändlichen Greuel erbittert.
Homer, Odyssee
Auch seinen Sohn Telemachos ermunterte Pallas Athene (1.Gesang, Zeile 294 ff.):
Siehe dann denk‘ umher, und überlege mit Klugheit,
Wie du die üppige Schar der Freier in deinem Palaste
Tötest, mit heimlicher List, oder öffentlich! Fürder geziemen
Kinderwerke dir nicht, du bist dem Getändel entwachsen.
Die Strafe der Götter folgte den Freveln der Freier auf dem Fuße. Geleitet von Pallas Athene gab sich Odysseus in seinem Haus erst zu erkennen, nachdem er sich gewappnet und seinen alten Bogen gespannt hatte. Telemachos stand ihm zur Seite.
Keiner der vielen Freier und der unzüchtigen Mägde entging der Strafe; so ward Zeus Wille vollendet.
Andreas aus E.
Das Odysseus die verkommenen und gierigen Freier erlegte, das fand ich bei meiner Lektüre des Homer sehr gut. Aber warum das Massaker an den Mädels?
Die „unzüchtigen Mägde“ werden doch einfach mal etwas Spaß gehabt haben wollen, also die Stelle des sonst wohlgeschätzten Klassikers mochte ich nie.
Klaus Kunze
Ich habe diese Passage absichtlich weggelassen, obwohl, wie sie wie die Drosseln baumelten, rein dichterisch hohe Poesie ist. Thematisch gehört das aber nicht direkt zum Thema meines Beitrags, dem Mißbrauch des Gastrechts.
Andreas aus E.
Gut, so verstanden gehe ich da völlig mit.
Ihnen einen schönen Sonntag!