Abenddämmerung der Demokratie

Anscheinend nimmt die junge Generation Abschied von der Demokratie. Im Ergebnis von 160 Ländern gilt:

Die Mehrheit der „Millennials“, also der Altersgruppe der 25- bis 35jährigen, hat ein Problem mit der Demokratie. […] Erstmals steht eine Altersgruppe der 25- bis 35jährigen dem Konzept der Demokratie mehrheitlich skeptisch gegenüber. Keine vergleichbare Kohorte zuvor hatte sich auch nur annähernd so negativ geäußert.

Ramin Peymani, Die Cambridge-Studie: Das gestörte Verhältnis junger Menschen zur Demokratie, 2.11.2020

Die im Oktober 2020 erschienene Arbeit der Universität Cambridge ist im Internet nachlesbar. Offenbart sie einen Blick in unsere Zukunft? Diese wird dereinst von den jetzt Jungen gestaltet werden. Wie jede andere Generation vor ihnen sind sie unter konkreten gesellschaftlichen Bedingungen aufgewachsen. Deren Veränderung hat sich seit 200 Jahren von Generation zu Generation beschleunigt. Jede hat ihre spezifischen Schlüsselerfahrungen gemacht.

Offensichtlicher Wendepunkt war die Staatsschuldenkrise. Wer heute um die 30 Jahre alt ist, hat als Jugendlicher mitbekommen, daß seinerzeit nicht Währungen und Staaten gerettet wurden, sondern Finanzkonzerne und Großinvestoren. Vor allem aber verfügt er heute über einen deutlich geringeren Wohlstand als die Altersgenossen in den Vorgängergenerationen.

Ramin Peymani, Die Cambridge-Studie: Das gestörte Verhältnis junger Menschen zur Demokratie, 2.11.2020

Der Mentalitätswandel hat aber deutlich tiefere, strukturelle Gründe. Ich habe als Kind noch in der Kölner Innenstadt auf Kriegstrümmern gespielt. Meine Mutter sagte immer: „Wir kommen durch, und wenn wir Steine kloppen müssen!“ Nach der Generation der „Kinder, die es einmal besser haben sollten“, kam die Generation der Kinder, denen es anscheinend zu gut ging. Auf die tüchtigen Generationen folgten die Wohlstandsverwahrlosten und antiautoritär Unerzogenen, die alles kurz und klein schlagen möchten, wenn sie ihren Willen und ihren Lutscher nicht kriegen. Die Studie aus Cambridge

legt auch eine narzißtische, selbstzentrierte und zugleich von Hypersensibilität geprägte Mentalität offen, die sich vor allem bei den Nachfolgern der „Millennials“, den „Snowflakes“ zeigt. Das Streben nach maximaler persönlicher Zufriedenheit ist das alles überstrahlende Lebensmotto. Der Wunsch, alles immer und überall tun zu können, sich rund um die Uhr völlig flexibel und ohne Verpflichtungen oder gar Zwänge selbst zu verwirklichen, ist dabei ebenso ausgeprägt wie der Reflex, an allem und jedem Anstoß zu nehmen.

Ramin Peymani, Die Cambridge-Studie: Das gestörte Verhältnis junger Menschen zur Demokratie, 2.11.2020

Auf allgemein gesellschaftlicher und kultureller Ebene führte das zum Phänomen der Spaßgesellschaft und des Hedonismus: Die harte Arbeit haben die Generationen vor uns erledigt, da sucht man sich allenfalls noch einen „guten Job“, in dem man früh Feierabend im buchstäblichen Sinn machen kann. Der konsumierende Verbraucher entspricht in seiner Mentalität funktional den Erfordernissen der industriellen Massengesellschaft. Seine hedonistische Gefühlswelt ist eine Anpassungsleistung.

Es könnte spannend werden, zu beobachten, wie die postbürgerliche Spaßgesellschaft auf die ihr durch die Regierungsmaßnahmen auferlegten Einschränkungen zur Seuchenbekämpfung reagieren wird. Wenn Schluß ist mit lustig, können sich andere Tugenden als die hedonistischen wieder durchsetzen. Auf geistiger Ebene hat die Spaßgesellschaft ihre Entsprechung in einer spezifischen Philosophie. Sie leugnet, es gebe so etwas wie eine durch Fakten belegte Wahrheit. Ihr gilt unsere Lebenswelt durchweg als bloß konstruiert, als bloße Konvention oder gar Einbildung.

Wenn Realitäten wie Ehe, Familie, Volk oder Demokratie bloße Konstrukte sind, gibt es scheinbar nichts Erhaltenswertes zu verteidigen, nichts, für das es sich zu leben oder – horribile dictu! – zu sterben lohnt.

„Auf Kosten der Identi­tät, auf Kosten einer be­wuß­­ten, kriti­schen und ak­ti­ven Hal­tung gegen­über der Realität,“ for­mu­­lierte Frank Böckelmann, „werden un­ein­ge­schränkte Trieb­befrie­di­gung gewährt und die läh­men­de Kon­trolle des Ge­wis­sens und der Ge­sell­­schaft ent­fernt.“ Un­ab­hängig ge­worden von den Insti­tutio­nen staat­li­cher und mo­rali­scher Ordnung ver­fällt der homo oecono­micus hilf­los den neuen ge­sell­schaftli­chen Macht­trä­gern, die über die Res­sour­cen des Kon­sums verfügen. „Un­sozia­li­siert und deshalb gefü­gig nährt sich der Lust­­verbraucher an der Kon­sum­­brust. Die Reiz­qualitäten der mit un­­ter­­schwel­ligen Appel­len über­sät­­tig­ten Au­­ßenwelt er­lauben ihm nicht, aus dem Traum zu er­wachen. Aber der Traum ist die Wirk­lich­keit. Um aus der Wirk­lich­keit zu er­wa­­chen, müß­te er eine innere Ver­ge­­wal­­ti­gung vollbringen, die einem Selbst­­­mord gleich­kä­me.“[1] So wird die Grundhal­tung des Nur­ver­brau­­chers beglei­tet von einer Wahr­­­neh­mungs­­verweigerung, die alle ande­ren möglichen Werte er­greift.

Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, 1995, S.126.

Wenn antiautoritäre Konsumenten ihren Schnuller nicht bekommen

Die Neue Linke speist sich aus dem emotionalen Reservoir antiautoritär erzogener Konsumenten. Sie reagieren auf den Einbruch von Realität und Wahrheit in ihre heile Welt wie ein Baby, dem man seinen Schnuller wegnimmt.

Zwangsläufige Folge dieser Preisgabe, dieser Destruktion der Wahrheit sind eine Infantilisierung zunächst des Einzelnen und schließlich der ganzen Gesellschaft, ein Rückfall in einen frühkindlichen Ego- und Anthropozentrismus sowie der Verlust der Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit.

Jürgen Fritz, Wie der Neue Linke zum neuen Totalitaristen wurde, 28.8.2017

Das läßt sich an neuen Ideologien studieren, die systematisch ausblenden, was naturwissenschaftliche Fakten belegen. So weigert sich der Genderismus prinzipiell, die biologische Verschiedenheit der Geschlechter zur Kenntnis zu nehmen. Anthropologie und Geschichtswissenschaft sind für ihn belangloses Teufelszeug, erfunden von „alten weißen Männern“. Der Neue Linken hält jede Realität für konstruiert.

Menschen, die ihn auf seine inneren Widersprüche hinweisen (Denkfehler) oder auf Widersprüche zur beobachtbaren Wirklichkeit (Fehlvorstellungen), machen ihn nicht selten aggressiv. Er empfindet das als Angriff auf seine angenehmes Lebensgefühl, zu welchem oftmals Harmonie mit allen anderen als zentrales Element gehört. Der Vernunftorientierte wolle ihm nur unangenehme Gefühle vermitteln und stört die Harmonie – einen anderen Maßstab kennt der neue Linke ja nicht. Also muß das ein böser Mensch sein, der aus seiner Boshaftigkeit heraus, wahrscheinlich weil er selbst ein Unglücklicher ist, der seine Unzufriedenheit auf andere übertragen will, andere ebenfalls unglücklich machen will.

Jürgen Fritz, Wie der Neue Linke zum neuen Totalitaristen wurde, 28.8.2017

Die Aufhebung aller Herrschaft

Die Neue Linke empfindet jede staatliche Institution als pure Provokation, als unerträgliche Ausübung von Macht, von illegitime Herrschaft von Menschen über Menschen. Darum kann sie den gesellschaftlichen Systeme, die in der Cambridge-Studie vereinfachend als „Demokratien“ bezeichnet werden, nicht positiv gegenüberstehen. Diese stellen komplizierte Regelwerke dar, um die Herrschaft von Menschen über Menschen an die Zustimmung von Mehrheiten rückzubinden und rechtlich einzuhegen.

Es wird von einem zunehmenden Teil der jungen Menschen offenbar nicht mehr begriffen, daß diese Rechtsstaatlichkeit mit ihren Garantien für Grundrechte wie Meinungsfreiheit verhindern soll, daß im Namen irgendeiner Ideologie wieder Menschen geschunden oder ermordet werden. Der Schoß ist wieder fruchtbar, aus dem ideologischer und religiöser Haß immer krochen. Wen er vergiftet hat, sieht andere Meinungen als die eigene „nicht als Meinung, sondern als Verbrechen.“

Die Cambridge-Studie hat ergeben, dass viele „Millennials“ politisch Andersdenkende als „moralisch fehlerhaft“ betrachten – das verbindende Element sämtlicher Kampagnen des linken und grünen Spektrums. Offene gesellschaftliche Diskussionen, das Ringen um die besten Lösungen, das Finden von Kompromissen – all das ist ein anstrengender und oft auch frustrierender Prozeß. Für „Millennials“ ist dieses zentrale Element lebendiger Demokratien wohl zu anstrengend. Tatsächlich scheinen die Studienergebnisse nahezulegen, daß gerade dies ihre Demokratieskepsis nährt. Wer sich moralisch auf der richtigen Seite wähnt, sieht wenig Anlaß, sich in der Überzeugungsarbeit mit dem politischen Gegner aufzureiben. Demokratische Gepflogenheiten können da nur stören.

Ramin Peymani, Die Cambridge-Studie: Das gestörte Verhältnis junger Menschen zur Demokratie, 2.11.2020

Viele der historisch schlimmsten Greueltaten wurden nicht von Staaten begangen, sondern von gesellschaftlichen Gruppen, wenn sie sich weitgehend eines Staats bemächtigt hatten. Inzwischen geht ein heftiger Gesinnungsdruck von neulinken Ideologen aus und entlädt sich in brennenden Autos, Straßenschlachten und persönlichen Überfällen auf Andersdenkende. Die Lokomotiven des Totalitarismus stehen bereits wieder unter Dampf. Noch ist der Totalitarismus der neuen Linken nicht mehrheitsfähig.

Diese sind unfähig, eine grundlegende Funktionsvoraussetzung der Demokratie auch nur zu begreifen: die Bereitschaft, eine Herrschaft nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit friedlich zu akteptieren.

Noch haben sie nicht alle Bastionen unseres Rechtsstaates geschleift. Die neue Cambridge-Studie läßt allerdings die Abenddämmerung unserer Freiheitsrechte fürchten. Wir sollten sie verteidigen: Wenn nicht jetzt, wann dann?

Abenddämmerung unserer Freiheit? Was hinter dem Horizont liegt, hängt von uns selbst ab.


[1] Böckelmann, Frank, Die schlechte Aufhebung der autoritären Per­sönlich­keit, 1971, 2.Aufl.1987,

S.58,69.

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  1. Krönert

    genau so,ganz genau so ist es!aber was soll man dagegen tun?

  2. Ivo Edersleben

    Es neigen die meisten Menschen dazu, die eigene Zeit für die fortschrittlichste zu haltten. Aber wenn wir uns umschauen, ist die Demokratie in Europa seit über 2000 Jahren bekannt. Und sinngemäß immerhin 1900 Jahre davon (oder mehr) hat man dazu „Nein, danke.“ gesagt.

    Ein geschichtlich interessierter Mensch wird alleine deswegen schon ahnen, daß die weitere Geschichte Europas nicht dauerhaft unter demokratischen Umständen verlaufen wird.

    Aber daß womöglich ausgerechnet der Neuen Linken die geschichtliche Aufgabe zufallen wird, die Demokratie abzustreifen, ist in der Tat bemerkenswert.

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