Die Chancen rationaler Politik stehen schlecht. Die Massen-Medien-Demokratie belohnt es nicht, Interessen rational vorzutragen und zu vertreten. Ihre Spielregeln begünstigen Strömungen, die sich emotional geben und diese Gefühle in Form bestimmter Symbole gießen.

Symbolon nannten schon die antiken Griechen ein Wiedererkennungszeichen unter Freunden. Mit dem Verb symballein bezeichneten sie es, wenn ein zerbrochenes Stück wie ein Ring wieder aneinandergehalten wurde. Paßten die Teile zueinander, hatten sich die Richtigen gefunden. Symbole wurden zum festen Bestandteil menschlicher Kultur vom urchristlichen Fisch bis zum modernen Smiley. Sie symbolisieren zusammengehörende Menschen, aber auch ganze Wörter, Sätze, Gefühle oder Glaubensbekenntnisse bis hin zu komplexen Weltanschauungen.

In unserem Medienalltag haben sie das gesprochene Wort verdrängt und ersetzt. Das gilt überall da, wo eine Sendung produziert wird, um Menschen zu beeinflussen: bei der Produktreklame, in Nachrichtensendungen, in Vorabendserien. Bildsymbole erkennt jeder sofort als Symbol. Wer in der Sportschau das Symbol eines konkurrierenden Vereins sieht, schaltet innerlich schnell auf Abwehr.

Viel wirksamer, ja geradezu heimtückisch wirken nicht bildliche Symbole. Das EU-Parlament hat „symbolisch“ den „Klimanotstand“ ausgerufen, ein Minister legt „symbolisch“ einen Kranz nieder, man bildet eine Lichterkette, man ehrt am Volkstrauertag die Toten. Einen festen Ritus erkennen wir noch gut als Symbol.

Der politische Betrieb ist weitgehend ritualisiert und bedient sich feststehender Wortsymbole. Das sind so weitläufig formulierte Begriffe, daß sich eigentlich jeder etwas verschiedenes darunter vorstellen kann. Wenn die kommunistische SED früher die Parole ausgab: „Vorwärts zum Sozialismus!“, bildete dieser Begriff für sich allein bereits ein Symbol. Er stand für ein komplexes Gedankensystem, in dem die Führung des Volkes durch die SED einen zentralen Platz einnahm.

Einem diffus klingenden Wortsymbol einen eindeutigen Kern zu geben, ist ein Akt der Machtausübung. Die Macht hat, wer den Menschen immer dieselben Wortsymbole und Parolen einhämmert und über ihren konkreten Inhalt bestimmt. Dann wird nicht mehr darüber diskutiert, was „Sozialismus“ und all die anderen hübschen Wortsymbole alles bedeuten könnten. Es ist bereits reglementiert und wird vom Staats-Propaganda-Fernsehen täglich tausendfach eingeübt.

Die Macht der Symbole:
Bildmedien haben das Druckmedium symbolisch zur Strecke gebracht (A.Paul Weber)

Wortsymbole sind wie Etiketten, die man anderen Menschen aufkleben kann, um sie damit zu kennzeichnen. Ein unsicheres Leben hatten im Mittelalter Prostituierte und Juden, oft symbolisch durch farbige Abzeichen beziehungsweise spitze Kopfbedeckungen gekennzeichnet. Auf Kleidung aufnähbare Symbole sind veraltet. Wer seinen Gegner heute stigmatisieren will, benutzt immer dieselbe Wortsymbole und Stereotype und heftet sie dem anderen an, der sie genausowenig mehr loswerden kann wie einen pickligen Ausschlag.

Zum Ketzer wurde ein gläubiger Christ im Mittelalter nicht schon durch ketzerische Ansichten, sondern, indem er zum Ketzer erklärt wurde. Die Acht konnte über jemanden verhängt werden, der angeblich völlig außerhalb des Gesetzes stand. Heute findet gesellschaftliche Ächtung durch Wortsymbole statt. Das derzeitige Universalsymbol für diese Art Ächtung ist das N-Wort. Wie ein Dietrich in jedes Schloß paßt, kann jeder dieses Wort beliebig jedem anheften. Es soll dem Publikum das Nachdenken ersparen, soll stigmatisieren, soll ausgrenzen.

Mit Wortsymbolen schmücken sich die Guten, mit Wortsymbolen stigmatisieren sie die Bösen. Der Welt der Stigmatisierer ist so schlicht wie ein Paintballspiel. Es genügt, den Gegner mit etwas Farbe symbolisch zu bekleckern. Etwas hängen bleibt immer.

Die Spielregeln des politischen Machtgewinns und Machterhalts begünstigen nicht mehr den, der gute Argumente hat und sie wirksam in Worte kleiden kann. Es hört ihm nämlich niemand mehr zu. Worten darf man „keine Bühne bieten“ und stellt sich lieber symbolisch vor das Veranstaltungslokal, um die Worte zu verhindern. Dabei darf man sicher sein, daß die Medien reflexhaft darauf anspringen. Im Fernsehen wird niemand hören, was der verhinderte Redner nicht sagen durfte. Er wird aber die sich entfaltende Symbolik der Bilder verinnerlichen: Blockierer mit entschlossenen Mienen, Transparente mit gutherzigen Parolen, den ganze Ritus einer symbolischen Aufführung.

Diese Bildsymbole haften in den Köpfen von Medienkonsumenten. Die ganze symbolische Schau wäre wirkungslos und in sich sinnlos, würde sie nicht medial transportiert. Die Medien ihrerseits sind meistens unfähig oder unwillig, gesprochene Argumentation zu transportieren und den Zuschauern nahezubringen. Diese klicken nämlich als Medienkonsumenten in kürzester Zeit auf einen anderen Sender, wenn ihnen geistig zu viel und zu lange etwas abverlangt wird. Vom Medienkonsumenten über den von Symbolbild zum Symbol-O-Ton getriebenen Reporter bis hin zu den Symbole schaffenden Akteuren auf der politischen Bühne unterliegen alle denselben Gesetzlichkeiten.

Eine Parole wie ein symbolisches „Wir schaffen das!“ ist eingängiger als eine prägnante Argumentation. Lesen ist anstrengender als Symbolbilder anzuschauen. Die Verweildauer des Auges auf einem Objekt wird kürzer. Die Aufmerksamkeitsdauer vieler Menschen sinkt. Sie können sich nicht mehr so lange auf einen Text konzentrieren. Merken Sie es auch schon?

So konnte das Zeitalter der Symbole anbrechen. Da wäscht ein Papst drei Landstreichern symbolisch die Füße. Die scheinbare Demut und Nächstenliebe versinnbildlicht seine Deutungshoheit darüber, was Demut ist und was Nächstenliebe erfordert. Ein neuer Minister ruft auf zum „Kampf gegen Rechts“ und erhebt damit symbolisch den Machtanpruch, behördlich verbindlich zu bestimmen, was rechts ist und welche Konsequenzen das im einzelnen haben soll. Der Bundestag debattiert darüber, symbolisch als „Kinderrechte“ ins Grundgesetz zu schreiben, was Kinder an Grund- und Menschenrechten sowieso schon haben. Die Koalition zankt sich darüber, wieviel Geld sie den Steuerzahlern aus der rechten Tasche ziehen soll, um sie als Sozialleistungen in die linke zu stecken. Jede Partei möchte sich dem Publikum nämlich symbolisch als diejenige darstellen, die „für Gerechtigkeit“ eintritt.

Politik funktioniert nicht mehr nach Regeln argumentativer, interessengeleiteter Rationalität, sondern danach, wer die passenden, emotional aufgeladenen Bild- und Wortsymbole allgemein durchsetzt und so vielleicht die nächste Wahl gewinnt. Darum spielt reales Handeln eine geringere Rolle als „Zeichen zu setzen“. Nehme ich allerdings bloß mal eben einen Teller und ein Abtrockentuch zur Hand, um symbolisch meinen guten Willen zu zeigen und ein Zeichen zu setzen, bin ich ein schlechter Küchenhelfer. Von den Zeichen setzenden Haltungspolitikern sieht man gewöhnlich nichts mehr, nachdem die Kameras ausgeschaltet sind.

Derweil sondern sich Bevölkerungskreise unter verschiedenen Symbolen voneinander ab, igeln sich ein in Echokammern und medialen Seifenblasen ihres guten Gewissens. Sie kuscheln sich gern zusammen in Internetforen Gleichgesinnter. Hier wollen sie nicht gestört werden durch Menschen mit anderen, abweichenden Ansichten. Die Verwendung emotionaler Paßwörter und ideologischer Schlüsselwörter symbolisiert die Zugehörigkeit zum jeweiligen „Wir“. Wenn man die anderen gar nicht mehr hört und sieht, weiß man natürlich: „Wir sind mehr!“

Der politische Kampf hat sich dahin verlagert, wo Wortsymbole geschmiedet und den Gegnern aufgezwungen werden und wo die des Gegners unterdrückt werden. Es geht schon lange nicht mehr um rationale Erfassung zum Beispiel der deutschen Interessenlage, wenn man mal eben über eine Million Fremder ins Land läßt. Die politische Auseinandersetzung wird geführt, indem Wortsymbole wie „Ausländer“, „illegaler Einwanderer“ und dergleichen vermieden und durch Wortsymbole wie „Flüchtling“ oder „Migrant“ ersetzt werden. Die Entscheidung über Masseneinwanderung mutiert von einer – denkmöglichen – interessengeleiteten, rationalen Entscheidung zu einem symbolischen Akt der eigenen Moralität. Schließlich ist auch das Selbstgefühl, moralisch zu sein, eine symbolische Eigenpositionierung: in einem Gedankenkosmos, der zwischen den strahlenden Höhen des Guten und den schwarzen Abgründen des Bösen keine Grautöne erkennt.

Auch publiziert auf Wir selbst 1.12.2019