Der Kampf um den Begriff der bürgerlichen Mitte
Im großen Spiel um politische Positionen und Begriffe ist plötzlich die bürgerliche Mitte der Hauptpreis. Jeder möchte zu ihr gehören. Aber wie im Gesellschaftsspiel der Reise nach Jerusalem gibt es immer zu wenig Plätze.
Linke können sich auf die Schenkel klopfen vor Lachen. Ungläubig staunend stehen sie links eines Bürgertums, das sich wechselseitig die Bürgerlichkeit bescheinigt oder auch abspricht, je nach Parteipräferenz. Der Nachweis, zu bürgerlichen Mitte zu gehören, wird hoch gehandelt wie vor 1945 der Ariernachweis oder danach der Persilschein für die „Unbelasteten“.
Die Linke war nie bürgerlich. Sie ist Kind des proletarischen Milieus. Die Bürger waren immer die Besitzbürger, verspottet von roten Funktionären aber heimliches Vorbild des proletarischen Fußvolks, das auch gern bürgerlichen Besitz gehabt hätte. Jene alten Zeiten sind vorbei. Die Milieus der Arbeiterklasse haben sich aufgelöst. Übrig gelassen haben sie eine Massenklientel, die nicht mehr von ihrer Hände Arbeit lebt und keine bürgerlichen Besitztümer hat. Sie bildet heute die primäre Zielgruppe der Sozialneid-Parteien SPD und SED (Linke).
Mit Bürgerlichkeit meinen die Sozialwissenschaften nicht die juristische Tatsache des staatlichen Bürgerrechts. Sie meinten ursprünglich eine durch Besitzverhältnisse abgrenzbare Bevölkerungsgruppe. Diese hatte im 19. Jahrhundert ihr Hoch und krönte es im liberalen Verfassungsstaat. Sein politisches Vermächtnis konkretisiert sich idealtypisch in der freiheitlichen demokratischen Grundordnung.
Seit dem 19. Jahrhundert hat er innenpolitisch einen sozialen und einen nationalen Flügel. Der soziale sorgte sich um das Wohl der Armen aus Angst, diese revolutionären Agitatoren zu überlassen. So motivierten sich Bismarcks Sozialgesetze. Der nationale Flügel des Bürgertums sorgte sich um Gefährdungen des Besitzstandes aus Angst vor ausländischer Konkurrenz und Handelskriegen.
Habituell läßt sich das Bürgertum immer noch gut von anderen Milieus abgrenzen. Eine gewisse saturierte Behäbigkeit, das Familienauto vor der Tür des Eigenheims oder doch der Wunsch nach einem solchen Hort bürgerlicher Gemütlichkeit sind häufige Merkmale. Signifikanter aber ist die emotionale Grundierung:
Die bürgerliche Mitte verinnerlicht heute noch die klassischen bürgerlichen Tugenden des Fleißes, der Zuverlassigkeit, der Pflichterfüllung, des Anstandes, der Verläßlichkeit und Pünktlichkeit, des Aufstiegsstrebens und der familiären Verbundenheit.
Geblieben sind aber auch ein Hang zum Gehorsam vor der Obrigkeit, ein seltsam weltfremdes Nichtverhältnis zum Politischen und die überwältigende Feigheit dessen, der weiß, was er zu verlieren hat. Wenn auf der Straße die Revolution marschiert, finden wir den Bürger immer hinter der Gardine. Je nach Sieg oder Niederlage einer Partei im Bürgerkrieg hat der echte Bürger schon die passende Hißflagge in der Schublade.
Seine Werte sind ihm lieb und teuer, aber nicht so lieb und teuer wie sein Status, sein Einkommen und sein Besitz. Bürgerliche kämpfen nicht und widerstehen keiner Bedrohung. Der Sprecher der Werte-Union Ralf Höcker trat letzte Woche zurück:
„Mir wurde vor zwei Stunden auf denkbar krasse Weise klar gemacht, dass ich mein politisches Engagement sofort beenden muß, wenn ich keine ‚Konsequenzen‘ befürchten will“, schrieb Höcker auf Facebook. „Die Ansage war glaubhaft und unmißverständlich. Ich beuge mich dem Druck und lege mit sofortiger Wirkung alle meine politischen Ämter nieder und erkläre den Austritt aus sämtlichen politischen Organisationen.“
Der Bürgerliche Thomas Kemmerich von der FDP kündigte seinen Rücktritt vom Amt des Thüringer Ministerpräsidenten an, nachdem ihn sein „Parteifreund“ Lindner in wohl im Beichtstuhl ein wenig in die Mangel genommen hatte. Beide, Höcker und Kemmerich, sind geradezu Musterexemplare bürgerlichen Mutes: Er endet, wo die Angst beginnt.
Der Bürgerliche hat ein feines Gespür für kollektivistische Bedrohungen. Gleichmacherei erkennt er sofort als Gefahr für seinen Status und Besitzstand. Das historische Bewußtsein des Bildungsbürgers sieht die gerade Linie vom Terror der französischen Revolution über die gelungene Oktoberrevolution und die mißlungenen Spartakus-Aufstände in Deutschland, die DDR und ihre Enteignungen bis hin zu Mauerbau, Schießbefehl und tausenden politischen Gefangenen. Marschierende Massen und aufpeitschende Agitatoren sind ihm ein Greuel.
Bis zur „Wende“ 1989 hatte sich das Bürgertum mehrheitlich in der CDU gesammelt, wenige auch in der FDP. Seine sogenannten Werte zentrierten sich um zwei Pole: systemerhaltende und allgemein-moralische. Die ersteren besagen, daß Freiheit nur in einem demokratischen Rechts- und Verfassungsstaat gewährleistet werden kann. Die anderen fordern moralisierende Bekenntnisse ab, meist säkularisierte Varianten des christlichen Glaubens.
Weil alle diese Werte scheinbar von keiner relevanten Kraft bezweifelt wurden, bestand die realpolitische Funktion der Union darin, einen Kanzlerwahlverein zu bilden. Alle führten die Werte der Partei im Munde. Tatsächlich war sie für viele nur das Vehikel, persönliche Karriere zu machen. Ich habe solche jungen Köfferchenträger saturierter Abgeordneter in den 1970er Jahren zur Genüge kennengelernt, und zwar als CDU-Mitglied wie auch auf vielen Seminaren der Konrad-Adenauer-Stiftung der Union. Aus den Köfferchenträgern von einst sind Parteipolitiker geworden, deren Werte immer genau in dem bestehen, was mutmaßlich gerade angesagt ist: „Realos“ der Bürgerlichkeit gewissermaßen.
Für Postenjäger zählen nur Machtteilhabe und persönliche Karriere als Politiker im Hauptberuf. Sie sind die erbitterten Gegner der Unions-„Fundis“ der Werte-Union. In der Werte-Union hat man klar erkannt, daß eine bürgerliche strategische Mehrheit nur in einer Koalition mit der AfD zu gewinnen ist. Die Alternative besteht in einer weiteren Anbiederung an die Linke und einer „Volksfront“, die schließlich auch die Union umfassen würde: als antifaschistisch gewendete Blockpartei wie in DDR-Zeiten nach dem Satz Ulbrichts: „Es muß demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.“
Für Unions-Realos ist kein Gegner so abscheulich wie die Werte-Union. Diese appelliert nämlich ständig an das demokratische Gewissen und die Werte der Union, Dabei stört sie empfindlich bei rein strategischen Machtspielen. Diese Machtoptionen sehen offenbar mittelfristig eine Koalition aus Union, Grünen und vielleicht der linken SED vor. Während selbst die AfD für Friedrich Merz nur „Gesindel“ ist, bezeichnet Elmar Brok die Werte-Union als Krebgeschwür. Im CDU-Präsidium denkt man bereits über eine Unvereinbarkeit nach.
Wer die Gründung der WerteUnion, ursprünglich als konservativ-liberaler Arbeitskreis in der CDU/CSU konzipiert, durch Alexander Mitsch und zahlreiche weitere frühere Stipendiaten der Konrad Adenauer Stiftung miterlebt hat, kann diese Formulierungen und Vorschläge nur als absurd und partei- und demokratieschädigend empfinden. Die WerteUnion besteht zum größten Teil aus engagierten jüngeren Mitgliedern der CDU/CSU, die es sich angesichts gravierender inhaltlicher Kurswechsel der Union in zentralen politischen Themen zur Aufgabe gemacht haben, die konservativen Wurzeln der Partei wieder sichtbarer zu machen. Auf diese konservativen Fundamente hat sich die CDU neben weiteren liberalen und sozialen Aspekten in ihrer Programmatik aber seit ihrer Gründung stets berufen.
Mechthild Löhr, Die WerteUnion ist kein Krebsgeschwür, The European 14.2.2020.
Während sich CDU-Realos durch Formulierungen wie Krebsgeschwür habituell immer weiter von der Bürgerlichkeit entfernen, weist die AfD alle Merkmale der bürgerlichen Mitte auf. Entgegen einem von linker Seite verbreiteten Vorurteil rekrutiert sie sich keineswegs aus zu kurz Gekommenen, sondern aus bürgerlichen Kreisen. Ihr Bundes-Parteiprogramm soll dem der CDU von 2005 entsprechen, schrieb die ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach auf Twitter. Das bürgerliche Spektrum umfaßt zur Zeit soziologisch und programmatisch die AfD, die FDP und die Union. Alle gegenteiligen Etikettierungen sind substanzlos.
Wer sein Leben lang bürgerlich-konservative Werte vertreten und diese niemals geändert hat, bleibt bürgerlich und gehört immer noch zum demokratischen Spektrum, auch wenn sich die Union inzwischen mehrheitlich sozialdemokratisiert hat und sich anschickt, der „antifaschistischen“ Deutungshoheit der Linken zu unterwerfen.
Der von Seiten der Union immer haßerfülltere Kampf gegen Werte-Union und AfD gilt der Lufthoheit über den bürgerlichen Stammtischen. Sie erhebt einen Alleinvertretungsanspruch der Bürgerlichkeit. Linke stören diese Union nicht, aber AfD und Werte-Union sind Fleisch vom Fleische der Union. Hier geht es ihr an die Substanz. Darum wird jeder rechte Demokrat als Extremist verteufelt, mag er auch dieselben Werte vertreten wie die Union noch vor wenigen Jahren. Der Kampf wird um die Deutungshoheit über den Begriff der Gutbürgerlichkeit geführt.
Geführt wird der Kampf seitens der Union nicht mit argumentativen Mitteln. Es wäre auch zu peinlich, immer wieder eingetunkt zu bekommen, daß Werte-Union und AfD die von der CDU geräumten Positionen der alten bürgerlichen Mitte vertreten. Geführt wird der Kampf darum mit Methoden der Stigmatisierung, der Ausgrenzung, der Verleumdung, der Falschbehauptung, der Beleidigung und des Etikettenschwindels.
Natürlich ist die AfD keine Nazi-Partei. Sie ist auch nicht rechtsextrem. Der Verfassungsschutz in Deutschland hat ja ein Auge auf die Partei geworfen und geprüft, ob sie extremistisch sei. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat letztes Jahr ein umfangreiches Gutachten über die AfD vorgelegt, das – durch ein Leak – auch im Internet veröffentlicht worden ist. Daraus ergibt sich: Nach der Einschätzung des Verfassungsschutzes kann die AfD – für den Zeitraum der Prüfung – nicht als extremistisch eingeordnet werden. Es habe lediglich einige, wie sich der Verfassungsschutz ausdrückte, «Verdachtssplitter» gegeben dafür, dass es in der AfD verfassungsfeindliche, extremistische Tendenzen gibt. Und deshalb hat man die Partei zum sogenannten Prüf-Fall gemacht. Doch bis dato gibt es keine Erkenntnisse, dass die AfD als Gesamtpartei tatsächlich extremistische, antidemokratische Tendenzen verfolgt.
Dietrich Murswiek, Verfassungsrechtler Murswiek: „Antidemokratisches Vorgehen in den Parlamenten“, in: Tichys Einblick 19.2.2020.
Dieser besteht darin, jemandem ein Nazi-Etikett aufzukleben. Daß dieses sogar gegenüber harmlosen FDP-Leuten wirkt und wie es wirkt, haben die letzten Tage gezeigt. Auf die falschen Etiketten folgen die antifaschistischen Hilfstruppen der sich bildenden Volksfront mit Gewalt gegen Personen und Andersdenkende auf dem Fuße.
Schreibe einen Kommentar