Die alte Linke versteht die Welt nicht mehr.
„Die gemeinsame Macht der Linken ist zerbrochen, und der Zankapfel trägt einen sperrigen Namen: Identitätspolitik“,
seufzt Bernd Stegemann. Jede gesellschaftliche „Spaltung“ ist ein linker Albtraum. Die Utopie der klassenlosen Gesellschaft rückt in immer weitere Ferne. Linke lieben „breite Bündnisse“ und sehnen sich nach einer homogenen Gesellschaft Gleicher. „Bernd Stegemann ist Professor an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch und Dramaturg am Berliner Ensemble. 2018 initiierte er die linke Sammlungsbewegung Aufstehen“ (Freitag 45/2020).
Jede Ungleichheit ist der Linken ein Greuel. In ihrer heilen Welt stehen Arbeiter Seit an Seit, recken die nervigen Fäuste drohend ihren Ausbeutern entgegen und lassen sich nicht „spalten“: Klasseninteresse geht vor persönlicher Freiheit.
Weil das alles nicht erst seit 1989 so offenkundig altbacken und historisch ist, ersetzten „postmarxistische“ Ideologen flugs die nicht mehr existierende Arbeiterklasse durch diverse Minderheiten. Der 2014 verstorbene Kommunist Ernesto Laclau wußte Rat:
In welchem Umfang ist es notwendig geworden, das Konzept des Klassenkampfes zu modifizieren, um mit neuen politischen Themen – Frauen, nationale, ethnische und sexuelle Minderheiten, Anti-Atomkraft- und institutionskritischen Bewegungen – von eindeutig anti-kapitalistischem Charakter umgehen zu können, deren Identität jedoch nicht auf bestimmte Klasseninteressen ausgerichtet ist.“
Laclau / Mouffe, Socialist Strategy: Where next, in: Marxism today, Januar 1981.
So ersetzte die Linke ihre Ideologie der Bekämpfung des Kapitalismus durch eine andere. Diese neue Herrschaftsideologie besteht in einem rigiden Moralismus, der ein und dieselben inhaltlichen Ziele anstrebt wie zuvor der Marxismus. Gewechselt hat lediglich die metaphysische Letztbegründung. An die Stelle des historischen Materialismus trat der Glaube an einen spezifischen Moralismus. Standen der Verheißung aus marxistischer Sicht noch die Widersprüche von Kapital und Arbeit mitsamt ihrer Entfremdung des Menschen von seinen eigenen Werken entgegen, heißen die Erzschurken des neuen Moralismus: Kapitalismus, weißer Rassismus, Frauenunterdrückung oder Sexismus.[1]
Doch die von den verzweifelten Altlinken gerufenen neulinken Geister werden sie jetzt nicht los. Diese „spalten“ ihre Bewegung. Mit
„Identitätspolitik“ gemeint ist [..] eine Politik, die aus der ersten Person Singular oder Plural entsteht. „Ich als …“ oder „Wir als …“ wird zum Ausgangspunkt des Handelns. Die Stärkung der partikularen Interessen ist Kernaufgabe linker Politik, doch zugleich führen die Sonderinteressen zu immer neuen Frontstellungen innerhalb der linken Klasse. Und als wäre das nicht schlimm genug, hilft die Zersplitterung vor allem der Kapitalseite, da sie die Bruchlinien strategisch für ihre Interessen nutzt. Globaler Kapitalismus bedeutet: Amazon, Google und Co. sind gegen Diskriminierung, bekämpfen aber Gewerkschaften und vermeiden Steuerzahlungen.
Bernd Stegemann, Wem die Zwietracht nützt, Der Freitag 45/2020,
Tja, das hätte ich den alten Linken gleich sagen können. Proletarischer Internationalismus war immer schon ein Hirngespinst, eine Wunschvorstellung selbsternannter Revolutionäre. Es gibt keine natürliche Solidarität zwischen „Ausgebeuteten“ (Bernd Stegemann) etwa in Deutschland oder Indien. Solidarität bedarf eines wirklichen Zusammengehörigkeitsgefühls.
Dieses beruht auf der eigenen Identifikation mit jemandem, mit dem man dann solidarisch sein kann. Opferbereit für einen Mitmenschen wird man nur, wenn man eine gemeinsame Identität empfindet.
Wenn die Mitglieder einer Solidargemeinschaft sich von ihr entfremden, weil sie sich mit Neubürgern nicht mehr identifizieren können, treibt sie der Auflösung entgegen. Diese Auflösung ist das Ziel wesentlicher innerer Kräfte und äußerer Mächte. Sobald uns aber das einigende Band unserer nationalen Idee fehlt, werden wir keineswegs freier sein. Diese multikulturelle Illusion vergißt, daß es außer den Staatsnationen mächtige globale Akteure gibt, die es mit uns nicht so gut meinen wie unser „Vater Staat“. Für sie sind wir nicht seine Kinder, die er zu schützen hat. Wir zählen für sie nur als Arbeitnehmer oder als zahlende Konsumenten. Unser Land, in dem wir verwurzelt sind, bildet für sie lediglich einen Finanzmarkt, den sie abgrasen und dann weiterziehen können.
Klaus Kunze, Die solidarische Nation, erscheint am 30.11.2020.
Während Altlinke noch vom proletarischen Internationalismus träumen, haben neulinke „Identitätspolitiker“ ziemlich eigenwillige Vorstellungen von Solidarität. Sie beziehen sie nämlich vor allem auf ihre jeweils eigene Gruppe: Schwarze, Schwule, Migranten und alles was da an Minderheiten sonst noch so kreucht und fleucht. Dadurch fragmentieren sie tatsächlich die Gesellschaft in miteinander rivalisierende Gruppen mit Sonderinteressen, sie „spalten“. Unser Volk und unseren Staat möchten sie am liebsten auflösen. Daß wir ohne das einigende Band nationaler Solidarität aber schutzlos den Giganten des globalen Finanzkapitals ausgeliefert wären, bemerken die Neulinken nicht. Wie schön, daß der Altlinke Stegemann sie daran erinnert:
Chancengleichheit ist kein Thema allein für akademische Debatten, doch wenn sie vor allem in sprachlichen Regulierungen erfolgt, die im Seminar erfunden wurden, wird sie dazu gemacht. Linke Politik ist der Kampf gegen die Interessen des Kapitals. Doch wenn die Mittel, mit denen er geführt wird, dem Kapital nutzen, so breitet sich Frust aus. Daß dieser sich nicht immer auf der Höhe der Sprachsensibilität formuliert, vertieft die Gräben zwischen den Menschen, deren Herz links schlägt, und den linken Parteien, die diese Menschen als unanständiges Volk zurückweisen.
Bernd Stegemann, Wem die Zwietracht nützt, Der Freitag 45/2020
Die neuen Linken sind, wie Lenin formulieren würde, die nützlichen Idioten des Finanzkapitals. Sie kämpfen für eine Moral, auf deren Fuß die Weltbank, Google, Twitter, Facebook und die üblichen Verdächtigen des globalen Finanzkapitals folgen.
Wie jede Moral strebt auch die Moral des Reichtums und der großen Finanzströme nach Universalität. Die innere Logik des Finanzkapitalismus muß jede nationale Grenze und jedes Partikular-Bewußsein als Hemmschuh empfinden. Während es einem Patrioten gleichgültig sein kann, ob andere Nationen auch patriotisch sind, liegt dem Finanzkapitalismus eine universalistische Menschheitsmoral zugrunde. Diese „universale Moralität“ sieht er durch „gruppen- und nationalstaatsegoistische Haltungen gefährdet“[2], zu Recht: Freiheit und Selbstbestimmung führen dazu, auch selbst zu definieren, was moralisch hier und jeweils gelten soll.
Klaus Kunze, Die solidarische Nation
Die von den Neulinken durchgepeitschte neue Moral will uns die Freiheit nehmen, so zu reden, wie wir denken. Sie will uns immer neue Sprechverbote aufzwingen, Worte tabuisieren und Meinungen als „verbrecherisch“ unterdrücken. Und sie will weltweit gelten:
Sie ziehen ständig neue rote Linien des Sagbaren und alarmieren über jede Grenzverletzung mit Geschrei. Ihre Erregungswellen sorgen dafür, daß sich die unteren Klassen ständig streiten, anstatt ihre gemeinsamen Interessen zu vertreten. Die „woken“ Linken sind die Kettenhunde des Kapitals, denn sie halten sein Image sauber, indem sie schmutzige Worte anprangern und diese Reinheit als zivilisatorischen Gewinn verkaufen. Die Ausbeutung der Welt steigert sich, aber wir versehen die Ausgebeuteten heute mit einem Gendersternchen.
Bernd Stegemann, Wem die Zwietracht nützt, Der Freitag 45/2020
Durch moralisierende politische Korrektheit, Abkanzelungs-Unkultur („Cancel culture“) und ein engmaschiges System öffentlich-rechtlicher Meinungslenker ziehen sie die Schlinge um den Hals freien Redens immer enger. Ein konservativer Altlinker macht da nicht mehr mit, das ist für ihn gar nicht mehr links:
Das tonangebende Milieu, das sich selbst für links hält, ist heute weiter von einem Klassenbewusstsein entfernt, als es die Industriearbeiter des 19. Jahrhunderts je waren. Heute herrscht Verwirrung über die Werte einer gerechten Gesellschaft. So übte emanzipatorische Politik schon immer Religionskritik. Heute gilt alles, was mit dem Islam zu tun hat, für nicht wenige Linke als Tabu. Früher waren Kunst- und Meinungsfreiheit erklärte Ziele einer progressiven Politik. Heute wünschen sich viele Linke eine Einschränkung der Freiheiten, wenn dort Meinungen kundgetan werden, die sie ablehnen. Das erfolgreichste Motto der SPD war „Mehr Demokratie wagen“, heute haben vor allem die linken Parteien Angst vor dem Wähler. Vielen Linken scheint es nicht mehr um die Befreiung der Menschen aus bedrückenden Verhältnissen zu gehen, sondern um die Erziehung ihrer Mitbürger.
Bernd Stegemann, Wem die Zwietracht nützt, Der Freitag 45/2020
Die neue Linke hat den Weg zu einem neuen Totalitarismus des Denkens beschritten, der totalen Moral und der Umerziehung Andersdenkender. Es ist jene verabsolutierte, universalistische Moral, hinter der bekanntlich immer das Richtschwert wandelt.
So führt also die Verabsolutierung der je eigenen ethisch nicht legitimierten, unzulänglichen Morallehre, welche die Wahrheit ausgrenzt, sich ausschließlich am Gefühl festmacht und im Leid der vorgeblich Unterdrückten dieser Welt – der „Verdammten dieser Erde“, wie Frantz Fanon, der Vordenker der neuen Linken, es 1961 formulierte – ihren absoluten Bezugspunkt findet, zwingend zur absoluten Unmoral. Der neue Linke aber wird so zum neuen Totalitaristen.
Jürgen Fritz, Wie der Neue Linke zum neuen Totalitaristen wurde, 28.8.2017
Mit Einführung des Grundgesetzes und unserer unveräußerlichen Rechte auf Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit dachten wir, gewisse Zeiten hinter uns gelassen zu haben. Doch der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das Übel kroch.
[1] Klaus Kunze, Die mörderische Macht der Moralisten, Im Würgegriff der Gutmensch, Hrg. Die Deutschen Konservativen, 2020.
[2] Reese-Schäfer (1997) S.271.
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