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Zweifellos ist sozial etwas ganz anderes als ideologisch sozialistisch zu denken, national nicht dasselbe wie nationalistisch und so fort. Skepsis ist geboten, wenn jemand hinter ein harmloses Adjektiv ein -ismus hängt. Gewöhnlich erhebt er dann Machtansprüche und möchte uns reglementieren.

Er möchte gern am Wesen seiner Ideologie die ganze Welt genesen lassen. Wie die derzeitige Amtsverwalterin unseres Außenministeriums macht er sich damit leicht global zum Gespött, etwa mit gerechter oder feministischer Außenpolitik, die er globalistisch durchsetzen will. Mit dem notorischen Feingefühl eines wilhelminischen Kolonialpolitikers bricht er, kaum gelandet, aus in ein dreifach donnerndes deutsches Hurra und verlangt, die Welt möge auf sein Kommando hören: „Gerechtigkeit!“, lautet heutzutage sein Schlachtruf.

Wir möchten hier dagegen subtiler vorgehen und uns einmal global umsehen, wie das globalistische Verständnis unserer Linken wohl global aufgenommen werden könnte. Wenn wir uns einmal mit den Augen der Fremden betrachten, lernen wir uns vielleicht selbst besser kennen. Unsere geistige Reise führt uns nach Indien: zweifellos ein relevantes Land mit über 1,5 Milliarden Menschen, von ihnen mehr als eine Milliarde Hindus:

Was Hindus glauben

Die geistigen Konzepte „Verteilungsgerechtigkeit“ und „Gleichheit“ müßte ein Hindu sich erst mühsam erklären lassen. Hindus teilen nicht die Religion der allgemeinen Menschengleichheit, sie glauben nicht an eine göttliche Schöpfung, keine Sünde und keinen jüngsten Tag mit Posaunenschall und Strafgericht. Darum ist ihnen auch das Konzept einer göttlichen Gerechtigkeit fremd, erst recht das linksradikale Gleichheitsdogma: Gleichheit bedeute Gerechtigkeit.

Der Inder Pattanaik hat sich jahrzehntelang mit Mythen befaßt, einem spannenden Thema, das auch uns hier schon beschäftigt hat. „Debadutta Pattanaik ist ein Mythologe und Schriftsteller. Er schreibt über Mythologie, das Studium kultureller Wahrheiten, die durch Geschichten, Symbole und Rituale offenbart werden. Er hält Vorträge über die Relevanz sowohl indischer als auch westlicher Mythen im modernen Leben. Seine Arbeit konzentriert sich hauptsächlich auf die Bereiche Religion, Mythologie und Management. Er hat über 50 Bücher verfaßt und illustriert“ (Wikipedia).

Devdutt Pattanaik (Bild: Deccan Herald)

Regelmäßig schreibt er Beiträge zum Beispiel für die große Tageszeitung Deccan Herald über religionsphilosophische Fragen.

Für ihn ist

„Gerechtigkeit der Wahn derer, die die Zeit ablehnen.“

Devdutt Pattanaik, Streben nach Gerechtigkeit in der Zeit, 15.4.2024, mit KI übersetzt.

Die Zeit hat nämlich aus hinduistischer Sicht keinen Anfang („Schöpfung“) und kein Ende, also kein „jüngstes Gericht“. Sie währt ewig. Pattanaik erkennt alle auch uns geläufigen Prinzipien und Konzepte als Mythen, die nur in unseren Köpfen existieren:

In Mythen geht es nicht nur um Götter, sondern auch um von Menschen geschaffene Konzepte, an die wir glauben. Eigentum ist zum Beispiel ein Mythos. Nicht natürlich, nicht real, sondern ein völlig erfundenes Konzept. Das gilt auch für die Menschenrechte. Gleichheit und Gerechtigkeit sind auch kulturelle Wahrheiten, die die Mythen von Eigentum und Menschenrechten voraussetzen. Ihre Existenz wird durch Gewalt und Regulierungsbehörden durchgesetzt. Sie existieren nicht außerhalb der menschlichen Vorstellungskraft.

Devdutt Pattanaik, Geschichte ist keine Mythologie, keine Mythosfiktion, Deccan Herald 25.10.2023

Greift der „westliche“ Mensch nach der „östlichen“ Weisheit, bleibt ihm diese oft fremd (Zeichnung: Devdutt Pattanaik)

Wenn wir diesen hinduistischen Standpunkt in unser Vokabular übersetzen, könnte er lauten: Eigentum, Menschenrechte, Gleichheit oder Gerechtigkeit gibt es nur als Vorstellungen in unseren Köpfen. Sie können, wie das Eigentum, zu gelebten sozialen Realitäten oder gar Gesetzen werden, aber eben nur dort, wo sie von Menschen tatsächlich angewandt werden. Darum sind sie keinesfalls universalisierbar oder können – globalistisch – fremden Menschen aufgezwungen werden.

Jeder Stamm hat seinen eigenen Mythos – seine eigenen Geschichten darüber, wie die Welt entstand, wie die Welt untergehen wird, warum wir existieren und was nach dem Tod passiert. Diese Ideen werden mithilfe von Geschichten, Symbolen und Ritualen übermittelt. Für den Insider sind sie real; nicht für Außenseiter. […] Mythen sind im Gegensatz zu Fakten weder objektiv noch universell. Es gehört zu einer Gruppe von Menschen, einer Gemeinschaft, einer Kultur. Daher werden sich niemals alle Menschen auf Ideen wie Eigentum, Menschenrechte, Gerechtigkeit und Gleichheit einigen.


Devdutt Pattanaik, Geschichte ist keine Mythologie, keine Mythosfiktion, Deccan Herald 25.10.2023

Wer sich mit dem Hinduismus und dem Buddhismus näher befaßt, gewinnt größere Klarheit auch über das Wesen unserer eigenen modernen Mythen: Abstrakte Begriffe erfüllen für uns häufig dieselbe Funktion wie in polytheistischen Religionen die Heerscharen der Götter und Heiligen: Indem wir ihnen folgen, versichern wir uns, im Einklang mit ewigen Gesetzen zu leben, die uns aufgegeben sind. Wir müssen uns klar machen,

daß der Polytheismus selbst unter uns noch durchaus lebendig ist, nur daß unsere Phantasie nicht mehr wie früher durch Athene, Baal, Astarte, Isis, Sarasvati, Kwan Yin und andere erregt wird, sondern durch Begriffe wie Demokratie, Fortschritt, Zivilisation, Gleichheit, Freiheit, Vernunft, Wissenschaft und dergleichen. Eine Vielheit persönlicher Wesen hat einer Vielheit abstrakter Begriffe Platz gemacht. Europa stand am Wendepunkt, als die Franzosen die Jungfrau Maria entthronten und ihre Zuneigung der Gottheit der Venunft zuwandten.

Edward Conze, Der Buddhismus, Wesen und Entwicklung, Kohlhammer-Verlag, Stuttgart 1953, ISBN 3-17-013505-8, S.37.

Es gibt keinen grundsätzlichen Funktions-Unterschied, ob wir „die Gerechtigkeit“ oder „die Gleichheit“ als personifizierte Göttin verehren oder als abstrakten Begriff, dessen jeweiliger Inhalt genauso nebelhaft ist wie das Wesen eine Gottesperson.

Schon die Stoa kannte neben der physischen und mythischen die politische Theologie, welche die Frage beantwortete, welche Götter von Staats wegen der jeweilige Bürger verehren und welche heiligen Handlungen und Opfer er machen soll.

Caspar von Schrenck-Notzing, Rund um die Politische Theologie, Rezension zu Taubes, Der Fürst dieser Welt, Carl Schmitt und die Folgen, Criticón 1984, 184.

Lange bevor Menschen das Konzept persönlicher Götter erfanden, behalfen sie sich mit magischen Weltdeutungen, die bis heute der herrschenden politischen Theologie zugrundeliegen. Wie wenig es noch darum geht, heilige Begriffe wie Gerechtigkeit, Gleichheit oder Demokratie mit halbwegs rationalisierbaren Inhalten zu füllen, erleben wir tagtäglich. In unseren Staatsmedien fragt niemand mehr, warum Ungleichheit eigentlich ungerecht und Gleichheit gerecht sein soll. Die Behauptung ist in die Sphäre eines Dogmas entrückt, eines Glaubenssatzes, den nur Ketzer anzweifeln.

Beim Dogma der Demokratie fragt ebensowenig jemand, worin sich zum Beispiel die selbsternannten Demokraten „unserer Demokratie“ von einer politischen Rechten wie der AfD unterscheiden, und zwar eben in ihrer Stellung zum Demokratieprinzip. Es gibt nämlich keinerlei Hinweis darauf, aus Reihen der AfD werde dieses angezweifelt. Tatsächlich haben die Verfechter „unserer Demokratie“ das Zauberwort in den Rang religiöser Verklärung erhoben, der sich nicht mehr damit abgibt, rationalisierbare Gründe dafür zu finden, die AfD sei nicht demokratisch rechtgläubig. Das Wort Demokratie wird nur noch wie magisch beschworen und dient „unseren Demokraten“ funktional dazu, sich selbst zu segnen, die Rechte aber zu verfluchen und zu bannen.

Das seit ewigen Zeiten und für ewige Zeiten bestehende Neben- und Gegeneinander einer Macht des Lichts, der Wahrheit, Reinheit und Güte und einer Macht der Finsternis, der Lüge, Unreinheit und Bosheit war letztlich nur eine unmittelbare Systematisierung des magischen Pluralismus der Geister mit ihrer Scheidung von guten (nützlichen) und bösen (schädlichen) Geistern, der Vorstufen des Gegensatzes von Göttern und Dämonen.

Max Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen II, Hinduismus und Buddhismus, 1917, hier zitiert nach: Max Weber, Religion und Gesellschaft, Dörfler-Verlag 2011, S.560.

Max Weber wußte das schon lange

In gewisser Weise gab es in Indien seit der Eroberung durch Indoarier vor rund 4000 Jahren viele in sich homogene Ethnien, die einen multikulturellen Flickenteppich verschiedener Kasten bildeten. Die spirituellen Grundlagen vereinten die meisten von ihnen im hinduistischen Glauben. Max Weber (1864-1920) hat sie schon 1917 im Rahmen seiner gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie akribisch analysiert.

Hindus glauben, daß sie immer wieder geboren werden, bis es ihnen gelingt, durch strenge Einhaltung ethischer und ritueller Regeln dem ewigen Kreislauf zu entkommen und ins Nirwana einzugehen. Diese Regeln – das Dharma einer Person –  sind aber keineswegs für alle Menschen dieselben. Die Sozialethik richtet sich vielmehr nach der Kastenzugehörigkeit und ist dieser jeweils angepaßt.

Es konnte – im Prinzip – ein Berufs-Dharma für Prostituierte, Räuber und Diebe ganz ebenso geben wie für Brahmanen und Könige. Und es gab die allerernsthaftesten Ansätze zu diesen äußersten Konsequenzen auch tatsächlich. Der Kampf des Menschen mit dem Menschen in allen seinen Formen war prinzipiell ebensowenig ein Problem, wie sein Kampf mit den Tieren und auch mit den Göttern und wie die Existenz des schlechthin Häßlichen, Dummen und des vom Maßstab des Dharma eines Brahmanen oder sonstigen „Wiedergeborenen“ aus gesehen – schlechthin Verwerflichen. Die Mensehen waren nicht – wie für den klassischen Konfuzianismus – prinzipiell gleich, sondern wurden zu allen Zeiten ungleich geboren.

Max Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen II, Hinduismus und Buddhismus, 1917, hier zitiert nach: Max Weber, Religion und Gesellschaft, Dörfler-Verlag 2011, S.684.

Darum fehlt von Anfang an jeder „archimedische Punkt“, von dem aus irgendetwas als schlechthin gerecht oder ungerecht bezeichnet werden könnte. Wer sich ethisch verfehlt und entgegen seinem Dharma handelt, wird halt dereinst wiedergeboren und muß eine Ehrenrunde drehen, vielleicht als Wurm. Es gibt aber kein göttliches Tribunal und keine Scheidung der Menschen in Selige und Verworfene.

Die Konzeption eines „radikal Bösen“ war in dieser Weltordnung überhaupt nicht möglich, denn eine „Sünde schlechthin“ konnte es ja nicht geben. Sondern immer nur einen rituellen Verstoß gegen das konkrete, durch die Kastenzugehörigkeit bedingte Dharma. Es gab in dieser in ihrer Abgestuftheit ewigen Welt keinen seligen Urständ und kein seliges Endreich, und deshalb auch keine – im Gegensatz zur positiven Sozialordnung – „natürliche“ Ordnung der Menschen und Dinge, also auch kein „Naturrecht“ irgendwelcher Art. Sondern es gab – für die Theorie zum mindesten – nur heiliges, ständisch besondertes, aber positives Recht und innerhalb der von ihm – als indifferent – unreglementiert belassenen Gebiete positive Satzungen.

Max Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen II, Hinduismus und Buddhismus, 1917, hier zitiert nach: Max Weber, Religion und Gesellschaft, Dörfler-Verlag 2011, S.685.

Somit stimmt Max Weber – vor über hundert Jahren – völlig überein mit Pattanaik:

Denn es gab schlechthin eben keinerlei ‚natürliche‘ Gleichheit der Menschheit vor irgendeiner Instanz, am allerwenigsten vor irgendeinem überweltlichen ‚Gott‘. Dies ist die negative Seite der Sache. Und diese ist die wichtigste: sie schloß die Entstehung sozialkritischer und im naturrechtlichen Sinn ‚rationalistischer‘ Spekulationen und Abstraktionen vollständig und für immer aus und hinderte das Entstehen irgendwelcher ‚Menschenrechte‘.

Max Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen II, Hinduismus und Buddhismus, 1917, hier zitiert nach: Max Weber, Religion und Gesellschaft, Dörfler-Verlag 2011, S.685.

Und wo es keine „natürliche Gleichheit“ gibt, da kann auch keine „natürliche Gerechtigkeit“ verlangen, eine solche Gleichheit herzustellen. Hindus sind immun gegen jeden quasireligiösen Gleichheitswahn.

Weisheit

Der Begriff Weisheit ist in Deutschland aus der Mode gekommen.

Weisheit bedeutet zu erkennen, daß jeder seine eigene Wahrheit hat. Unterschiedliche Wahrheiten schaffen unterschiedliche Kulturen. Oft stehen Wahrheiten im Widerspruch zueinander. Dies ist die Quelle des Konflikts. Rationalität wird dieses Problem nicht lösen.

Devdutt Pattanaik, Geschichte ist keine Mythologie, keine Mythosfiktion, Deccan Herald 25.10.2023

Philosophische „Wahrheit“ kann es immer nur in Bezug auf eine Weltdeutung geben. Deren gibt es viele. Jeder kann die Welt „deuten“, wie er will.

Seit unserer Christianisierung haben wir aber ein Gerechtigkeitskonzept tief verinnerlicht, das von zentralen Dogmen abhängt, die wir gefälligst glauben sollten.

Der Gerechtigkeitsdiskurs hat seine Wurzeln im Nahen Osten, im Judentum, im Christentum und im Islam. Sie setzen eine endliche Zeit voraus, in der alles, was in der Vergangenheit falsch war, in etwas Gutes umgewandelt wird. Gott sitzt am Jüngsten Tag am Ende der Geschichte zu Gericht, ein Konzept, das Hindus, Buddhisten und Jainas fremd ist. Die Welt dreht sich weiter. Es gibt keinen Punkt. Keine ewige Verdammnis. Buddhas kommen und gehen weiter. Die Welt sehnt sich weiter und leidet.

Devdutt Pattanaik, Streben nach Gerechtigkeit in der Zeit, 15.4.2024, mit KI übersetzt.

„Der Gerechtigkeitsmythos“, betont Pattanaik, „prägte christliche und islamische Gesellschaften.“

Ohne Wissen ist Weisheit nicht zu haben. Weisheit hat zur Voraussetzung, daß wir die in uns gepflanzten Mythen, Dogmen und Prinzipien überhaupt erkennen als das, was sie sind: zeitbedingt, kulturbedingt und bedingt durch die Macht derer, die einst die Häupter unserer Ahnen in demütiger Gottesfurcht zu beugen verstanden.

Selbsterkenntnis fällt umso leichter, wenn wir das Fremde kennengelernt haben und das Eigene relativieren können. Ohne Selbsterkenntnis finden wir keinen Weg in die Freiheit.

Wer von seinem Kinderglauben und seinem Jesulein nicht lassen kann, dem würde ein Hindu lächelnd sein Dharma lassen: zu knien, zu beten, Buße zu tun oder gegen die Armen Gerechtigkeit zu üben. Aus hinduistischer Sicht spricht nichts dagegen, jeden nach seiner Facon selig werden zu lassen.

Nur soll er uns dann mit seiner Gerechtigkeit der Gleichheit bitte verschonen.