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Seit Alice Weidel am 9. Januar 2025 im Gespräch mit Elon Musk die Nationalsozialisten, namentlich Adolf Hitler, als Kommunisten oder Sozialisten bezeichnet hat, nimmt das alte Schwarze-Peter-Spiel wieder Fahrt auf. Die Spielkarte mit dem Adolf will kein Mitspieler haben und schiebt sie den anderen zu. In linksextremem Sprachgebrauch dürfen die Nationalsozialisten grundsätzlich nur Nazis heißen, um den geheiligten Begriff des Sozialismus nicht zu beschmutzen.
Die Antwort auf die umstrittene Frage nach der Natur des Nationalsozialismus hängt von der eingenommenen Perspektive des Betrachters und darum davon ab, welche konkreten Merkmale er für wesensbestimmend erklärt. So bildete der Kommunismus aus Perspektive Hitlers, der aber gewöhnlich von Bolschewismus sprach, geradezu das Gegenteil von Hitlers eigener Weltanschauung. Zwischen Bolschewismus, Kommunismus und Sozialismus unterschied er nicht weiter. Die Sicht unserer grünen und roten Neosozialisten stimmt damit auffällig überein, Sozialismus sei etwas völlig anderes als Nationalsozialismus.
Betrachtet man beide Phänomene hingegen aus liberaler oder gar libertärer Perspektive wie Alice Weidel und Elon Musk, verhalten sie sich zueinander geradezu wie Zwillinge. Sie bilden gemeinsam den krassest denkbaren Gegensatz zur staatskritischen, hoch individualistischen Theorie des Liberalismus.
Die Totalitarismustheorie
Herfried Münkler hatte 1988 „die Fiktion einer unverwechselbaren und eindeutigen Ideologie des Nationalsozialismus“ zurückgewiesen, weil dieser „nicht nur in seiner Herrschaftsstruktur polykratisch, sondern auch in seinen Visionen und Rechtfertigungen polyideologisch gewesen ist.“[1] Hitler selbst verstand sich „weder als Politiker der Rechten noch der Linken.“[2]
Die Strukturähnlichkeiten zwischen seiner Ideologie und dem gleichzeitigen Bolschewismus überwogen bei weitem die wenigen, wie auf ein Kostüm aufgeklebten rechts wirkenden Versatzstücke. Die fast identische Herrschaftsstruktur mit Einparteiensystem, faktischer Einmanndiktatur mit Willkürherrschaft, Massenorganisationen kollektivistischer Gleichschaltung und innerer Homogenisierung führte zur Totalitarismustheorie,[3] die diese Herrschaftsform als eigenständig begreift. Homogenisierung hieß hier Ausmerzung angeblicher rassischer Minderheiten, dort Ausmerzung der Klassenfeinde.
Der Nationalsozialismus war strukturell ein diktatorischer, sozialistischer Kollektivismus und inhaltlich ein polyideologischer Flickenteppich. In seinen letzten Jahren tendierte er immer deutlicher weg von einem traditionellen Verständnis deutscher Kultur, das auch Rechte haben, hin zu einem pangermanischen, eine angebliche Rasse betonenden Kollektivismus, der blonde Niederländer, Dänen oder Norweger gern einschloß, schwarzhaarige oder gar „nicht arische“ Deutsche aber nicht. Die personelle Zusammensetzung der Waffen-SS in den letzten Kriegsjahren und ihr spezifisches Selbstverständnis verdeutlichen, daß es hier nicht mehr um Deutschland und das deutsche Volk ging, sondern um eine rassische Utopie auf europäischer Ebene.
Polyideologische Gebilde gibt es auch heute immer mehr. Stringentes, in sich widerspruchsfreies Denken war schon immer eine intellektuell anspruchsvolle Aufgabe. Der Nationalsozialismus hatte sich viele inhaltliche Positionen von rechts und links angeeignet, es aber nicht vermocht, diese zu einem kohärenten, in sich widerspruchsfreien Weltbild zu verbinden. Diesen Ehrgeiz hatte sein Führer wohl auch gar nicht.
Hinsichtlich der inneren Stringenz muß dem Nationalsozialismus ein durch wenige Differenzierungen nuanciertes negatives Zeugnis ausgestellt werden. Mag sich die NS-Ideologie auf dem Feld der Geschichtsdogmatik wie gesehen durchaus kohärenter darstellen als oftmals in der Literatur vorschnell behauptet wird, so überwiegen im Gesamtbild und gerade auch auf den untersuchten Feldern der Wurzeln/Vorläufer, der Geschichtspolitik und der Feindbilder/Negationen eindeutig die Widersprüchlichkeiten und die Unstimmigkeiten.[4]
Manuel Becker, Ideologiegeleitete Diktaturen in Deutschland, Zu den weltanschaulichen Grundlagen im Dritten Reich und in der DDR, 2009, ISBN 978-3-416-8, S.184 [5].
Das ist der Grund für die unterschiedlichen Perspektiven, die man gegenüber Hitlers Sozialismus einnehmen und willkürlich Aspekte einblenden oder ausblenden kann. Um ein kohärentes Weltbild ging es ihm nie, oder er war dazu nicht fähig. Hitler verabscheute die Intellektuellen,[6] und bei Stalin saßen sie in sibirischen Arbeitslagern, froren und hungerten sich tot. Wenn wir die Bedeutung der strukturellen Gemeinsamkeiten beider Herrschaftssysteme vergleichen und ihnen die inhaltlichen Unterschiede gegenüberstellen, überwiegt die strukturelle Gleichheit ihres Denkens und erweist beide als Ausprägungen eines kollektivistischen Sozialismus mit metaphysischer Letztrechtfertigung.
Aus den Aufzeichnungen von Wilhelm Scheidt, dem Adjuanten von Hitlers Beauftragtem für die Militärgeschichtsschreibung Scherff, wissen wir, daß Hitler immer stärker „die innere Verwandtschaft seines Systems mit dem so heiß bekämpften Bolschewismus“ erkannt und ausgesprochen habe. „Auch vor Stalin müsse man unbedingten Respekt haben“, erklärte Hitler im inneren Kreis, „seine Wirtschaftsplanung sei so umfassend, daß sie wohl nur von unseren Vierjahresplänen übertroffen werde“.
Der Nationalsozialismus war insoweit links. Josef Goebbels tönte sogar: Der Idee der NSdAP entsprechend sind wir die deutsche Linke! Nichts ist uns verhaßter als der rechtsstehende nationale Besitzbürgerblock.“[7] Beide Sozialismen verhalten sich geradezu antipodisch zu rechtem Denken.
Weltbild und Herrschaftsstruktur
Erhellender als die Suche nach inhaltlichen Einzelelementen in verschiedenen Weltanschauungen ist die Frage, welche Merkmale ihres Denkstiles sie unterscheiden oder verbinden.
Die Totalitarismustheorie hat seit Jahrzehnten erkannt, daß die strukturellen Merkmale beider Diktaturtypen sich weitgehend gleichen. Unter wehenden Fahnen marschierte man singend und winkend vor einer Ehrentribüne vorbei, eingereiht in Massenorganisationen, die von der Wiege bis zur Bahre die Herrschaft über Denken und Handeln beanspruchte. Die Herrschaftsorganisation hatte Hitler geradezu von Lenin und Stalin kopiert.
Gegeneinander antretende Feinde müssen sich auf struktureller Ebene immer stärker ähneln. Man muß werden wie der Feind, sonst kann man ihn nicht besiegen. In einem Ritterturnier ähneln sich zwei gegeneinander Anreitende strukturell vollständig, auch wenn der blaue Ritter sich vom roten in der Schildfarbe unterscheidet. Fußball-Ultras mögen untereinander verfeindet sein: die Grün-Weißen meinetwegen gegen die Schwarz-Blauen. Strukturell sind sie aber Brüder im Geiste und nur in einer Äußerlichkeit verschieden. Für welchen regionalen Club sie jeweils schwärmen, darüber mag ein Außenstehender nur milde lächeln. Nicht der Denkinhalt begründet die ausschlaggebende Ähnlichkeit, sondern die Denkstruktur.
Eine Frage des Denkinhaltes ist es zum Beispiel, ob die verhaßten Kapitalisten als „Kapitalistenklasse“ umgebracht werden oder als „Geldjuden“. In den praktischen Auswirkungen war es gleichgültig, ob ein Parteiterror sich auf den metaphysischen Glauben an geschichtliche Gesetze und Notwendigkeiten speiste, den historischen Materialismus, oder an die metaphysische Verworfenheit einer „jüdischen Rasse“.
Manuel Becker faßt diesen Diktaturtypus, zu dem auch die DDR gehörte, als „ideokratischen Herrschaften“ zusammen im Gegensatz zu anderen, nicht primär ideologischen Diktaturen:
Die klassische Totalitarismustheorie konnte mit ihrem besonderen Augenmerk auf das Merkmal Ideologie zu einem tieferen Verständnis der ideentheoretischen Grundlagen beitragen. Gerade ihre dynamischen Fortschreibungen halfen dabei, den ideokratischen Charakter der beiden Regime gegenüber anderen Diktaturformen abzugrenzen.
Manuel Becker, Ideologiegeleitete Diktaturen in Deutschland, Zu den weltanschaulichen Grundlagen im Dritten Reich und in der DDR, 2009, ISBN 978-3-416-8, S.186 f.[8]
Jede Weltanschauungsdiktatur beruht auf einer spezifischen Herrschaftsideologie. Sie benötigt immer einen übermächtigen Feind, vor dem die Herrschaft „retten“ muß – koste es, was es wolle. Ob diese Rettung nun einen rücksichtslosen Ausrottungskampf gegen den „Klassenfeind“ erfordert, oder ob der Feind ein „Rassenfeind“ ist, oder ob man schließlich in aller geistigen Schlichtheit „gegen Rechts“ kämpfen soll, wirkt sich erst auf der organisatorisch-technischen Ebene aus. Es kann zu mehr oder weniger an totalem Machtwillen führen, je nach Stärke des „inneren Feindes“.
Seinen Höhepunkt erreicht der Wille zur alleinigen Macht im Strukurmodell des „Sozialismus“. Ihn zeichnet das Ideologem eines alle umfassenden, großen Wir aus, die wir alle „zusammenstehen“ sollen gegen den schuftigen Feind, gegen den wir uns unterhaken und keinen beiseite stehen lassen sollen. Die Versatzstücke dieses Denkens hatte der Nationalsozialismus ebenso aufgewiesen wie der Stalin-Bolschewismus und die DDR-Ideologie, und selbst dem Noch-Bundeskanzler Olaf Scholz kommen solche Formulierungen noch gern über die Lippen: die Gemeinschaft die Anständigen läßt schön grüßen und kämpft gegen Rechts.
Im Vergleich zwischen der kommunistisch-sozialistischen Diktatur der DDR und der nationalsozialistischen faßt Becker zusammen:
Daß zwei Ideologien aus weltanschaulich entgegengesetzten Regimen in ihrer formalen Grundstruktur so beträchtliche Schnittmengen aufweisen, legt den Schluß nahe, daß die in dieser Arbeit entwickelten Grundzüge auch in eine generelle Theorie der Weltanschauungsdiktatur überführt werden könnten. Eine solche könnte im einzelnen auf den folgenden Leitlinien aufbauen, die sämtlich in den vorangegangenen Ausführungen vertreten sind: (1) Herrschaftslegitimation auf der Grundlage arbiträr und dezisionistisch bestimmter Dogmen, (2) dichotomisch bis manichäisch angelegte Deutungsmuster, (3) überidealisiertes Selbstbild, (4) geschlossene Geschichtsdogmatik, (5) pseudo-wissenschaftlicher Anstrich, (6) notwendige innere Unstimmigkeiten, (7) konfliktgeladener Widerspruch zwischen Machtzynismus und Erlösungsglaube, (8) Imitation religiöser Ausdrucksformen sowie (9) weltimmanente Heilsvision.
Manuel Becker, Ideologiegeleitete Diktaturen in Deutschland, Zu den weltanschaulichen Grundlagen im Dritten Reich und in der DDR, 2009, ISBN 978-3-416-8, S.183 f.[9].
Volksgemeinschaft und klassenlose Gesellschaft
Wenn wir abschließend Anlaß, Verlauf und Publikum der Plauderei zwischen Alice Weidel und Elon Musk betrachten, hat Weidel einen politikwissenschaftlich vertretbaren Standpunkt eingenommen. Im Rahmen eines solchen Gesprächs mußte dieser notwendigerweise thesenhaft im Raum stehen. Für Redakteure oder Kommentatoren aus der linken Blase mußte er unverständlich bleiben. Den eigenen Standpunkt objektiv zu analysieren, ist man dort nicht gewohnt.
Zur Behauptung von Alice Weidel schließlich, ob Hitler gar Kommunist war, hängt alles davon ab, was man unter den Begriffen Sozialist und Kommunist versteht. Er selbst hilft uns da wenig weiter, eben weil er gewöhnlich nur von Bolschewismus sprach. Für ihn lief das mehr oder weniger auf das Gleiche hinaus. Auch Marx hilft uns nicht, denn für den Marxismus bildet der Sozialismus gerade ein historisch zwangsläufiges Zwischenstadium auf dem Weg zum Kommunismus. Wer also einen Sozialismus im marxistischen Sinn fordert, muß sich gefallen lassen, auch als Kommunist im Sinne der kommunistischen Utopie bezeichnet zu werden. Diese besagt, im endlichen Kommunismus werde jeder nach seinen Fähigkeiten arbeiten und aufgrund gesellschaftlicher Güterzuteilung nach seinen Bedürfnissen leben. Hitlers Volksgemeinschaft ähnelt erstaunlich der klassenlosen Gesellschaft im Kommunismus.
Wie das funktionieren soll, weiß niemand, wie das bei allen Utopien der Fall ist. Das gilt ebenso für Hitlers programmatische Forderung nach einer Volksgemeinschaft, die der sozialen Disziplinierung diente und ebenfalls entweder ein emotionaler Wunsch oder aber eine Utopie war. Utopien wie die Volksgemeinschaft oder die glückliche klassenlose Zukunftsgesellschaft scheitern aber immer am Konkurrenzdenken und Machtstreben der realen Menschen.
[1] Zitiert nach Armin Mohler, Der Nasenring, ISBN 3-926650-26-5, 1989. S.75.
[2] Rainer Zitelmann, Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs, 1989, S.27.
[3] In der Sache schon 1957 bei Walther Hofer, Frankfurt 1957, S.88, Hermann Rauschning, Gespräche mit Hitler, Zürich 1940, S.365.
[4] Manuel Becker, Ideologiegeleitete Diktaturen in Deutschland, Zu den weltanschaulichen Grundlagen im Dritten Reich und in der DDR, 2009, ISBN 978-3-416-8, S.184., https://www.politik-soziologie.uni-bonn.de/personal-bilder-und-dokumente/weitere/manuel-becker/ideologiegeleitete-diktaturen-in-deutschland.pdf
[5] Manuel Becker, Ideologiegeleitete Diktaturen in Deutschland, Zu den weltanschaulichen Grundlagen im Dritten Reich und in der DDR, 2009, ISBN 978-3-416-8, S.186 f.
[6] „Ich will keine intellektuelle Erziehung. Mit Wissen verderbe ich mir die Jugend.“ Zitat: Hofer, Walther, Der Nationalsozialismus, Dokumente 1933-1945, herausgegeben und kommentiert von Walther Hofer, Frankfurt 1957, S.88, Hermann Rauschning, Gespräche mit Hitler, Zürich 1940, S.237.
[7] Josef Goebbels 6.12.1931 in der Zeitschrift „Der Angriff“, Gauzeitung der Berliner NSDAP.
[8] Manuel Becker, Ideologiegeleitete Diktaturen in Deutschland, Zu den weltanschaulichen Grundlagen im Dritten Reich und in der DDR, 2009, ISBN 978-3-416-8, S.186 f.
[9] Manuel Becker, Ideologiegeleitete Diktaturen in Deutschland, Zu den weltanschaulichen Grundlagen im Dritten Reich und in der DDR, 2009, ISBN 978-3-416-8, S.186 f.
Schüßlburner, Josef
Hitlers Weltanschauung ist weitgehend dem sozialdemokratischen Ideenvorrat des 19. Jahrhunderts entnommen, das allerdings ins Vergessen verdrängt wurde. Im staatsrechtlichen Denken ist der SPD-Gründer Lassalle als Vorbild zu annehmen; Hitlers sozialistischer Antisemitismus leitet sich von Dühring ab, der nur aufgrund des Anti-Dühring von Engels noch ein Begriff war, aber aufgrund seines wirtschaftstheoretischen Ansatzes auch als Vorläufer des Godesberger Programms eingestuft werden kann. Dies und anderes mehr ist meinem Werk: Roter, Brauner und Grüner Sozialismus zu entnehmen; als Einstieg hierzu vielleicht:
https://links-enttarnt.de/wp-content/uploads/2022/07/SoziBwltg-XXI-NSSozdem.pdf und https://links-enttarnt.de/sozialismusbewaeltigung-teil-27