Der neue Autoritarismus
Führen uns „die dekultivierten Massen, die durch jahrelange Gehirnwäsche betäubt wurden, in die Tyrannei“? Der italienische Publizist Adriano Scianca befürchtet das.[1] Seit Computer die Sprachbarrieren abgebaut haben, öffneten sich in Europa auch geistige Kapillarströme. Übersetzungsprogramme erleichtern uns den Blick in andere Länder.
Unsere Nachbarn werden von den gleichen globalen Akteuren gepiesackt wie wir. Nicht überraschend: Sie stehen vor ähnlichen Problemen. Läuteten nicht auch bei uns die Alarmglocken und und warnen vor der „Merkel-Diktatur“, der „Impf-Tyrannei“ und ähnlichen Menetekeln? Während unsere Medien nicht müde werden, „die Demokratie“ zu retten, hält es ein beträchtlicher Teil unserer Bürger gar nicht mehr für eine Demokratie, was er tagtäglich so erfährt.
Darf sich der Autoritarismus unserer mehr oder weniger linken Regierungen und ihrer medialen Gefolgsleute noch Demokratie nennen? Wer unter dem schönen Wort einen freiheitlichen Staat versteht, hantiert leicht mit Begriffen wie Diktatur. Er empfindet als undemokratisch gern, was diejenigen befehlen, mit denen er nicht einverstanden ist.
Adriano Scianca widerspricht. So einfach ist es nämlich nicht. Die autoritär auftretende Linksrepublik schränkt zwar unsere Freiheiten ein. Zu einer sozialistischen oder ökologischen Diktatur würde aber mehr gehören als harte Gesetze.
Der Autoritarismus, mit dem wir es zu tun haben, ist kein Verrat an der Demokratie und der Verfassung, geschweige denn eine „Rückkehr des Faschismus“, sondern eine Hyperdemokratie, eine ungeduldige Demokratie, die bei der Verfolgung ihrer eigenen Fetische jedes verfahrenstechnische Hindernis, jede formale Finesse, ja sogar jede inhaltliche Feinheit mit Argwohn betrachtet.
Adiano Scianca, Ci avviamo verso la tirannide, ma non è fascismo: è iperdemocrazia, 4.11.2021
Eine „Hyperdemokratie“ kann tatsächlich dem Grundgedanken persönlicher Freiheit diametral entgegengesetzt sein. Die Verwirrung in den Köpfen ist durch jahrzehntelangen Mißbrauch des Begriffs Demokratie entstanden. Er ist nämlich keineswegs identisch mit unserer Verfassungsform, der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Daß diese auch „demokratisch“ sein soll, ergibt sich nur aus eben diesem Adjektiv. Das andere, „freiheitlich“, ist genauso wichtig.
Der Grundgedanke der Demokratie besagt nur, daß nach dem Willen des Volkes regiert werden soll, am liebsten durch das Volk selbst. Ist es sich nicht einig, entscheidet die Mehrheit. Diese soll sich im Bundestag verkörpern und repräsentiert sein. So besagt es die Doktrin des Parlamentarismus.
Wie dem auch sei, gibt jedenfalls das reine Demokratieprinzip keinem Individuum ein Recht, gegen den Mehrheitswillen aufzumucken. Als die Athener mit demokratischer Stimmenmehrheit beschlossen, Sokrates müsse den Giftbecher leeren, war an dem Todesurteil nichts Undemokratisches. Es war „hyperdemokratisch“. Grundsätzlich darf die Mehrheit alles, so will es die demokratische Doktrin, genießt man sie unverdünnt.
Unsere Staatsform ist demokratisch, aber keine Demokratie
Unsere Verfassungslehre lehnt darum eine solche Hyperdemokratie als nicht wünschbar ab. Das Grundgesetz enthält eine Fülle von Schranken gegen demokratische Willkür und schuf Bastionen für die freie Entfaltung des Individuums. Das Bundesverfassungsgericht nennt die Gesamtheit aller Regelungen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Die Mehrheit darf nicht alles. Dafür sorgt der Rechtsstaat.
Eine Demokratie ist nicht zwangsläufig auch ein Rechtsstaat. Darum richten sich die Angriffe der „demokratischen“ Systemveränderer seit Jahrzehnten gegen ihn. Sie kämpfen im Namen der Demokratie – ihrer „Hyperdemokratie“ – verbissen gegen die uns verbliebenen Reste persönlicher Freiheit. Ihr langer Marsch durch die Institutionen hat sie in den Bundestag geführt, auf die Regierungsbänke, ins Bundesverfassungsgericht.
Sie errichten ihren autoritären Staat unter demokratischem Vorzeichen. Das fällt ihnen leicht, seit sie die Macht über die Definitionen errungen haben. Demokratie ist für sie nur die Chiffre, unter der sich ihr absoluter Machtanspruch verbirgt. Unter Demokraten verstehen sie nur sich selbst und nennen alle anderen „Faschisten“. Der von ihnen errichtete autoritäre Staat dient noch zwei Staatszielen: erstens der egalitären Umverteilung und Rundumversorgung arbeitsloser Existenzen, und zweitens dem „antifaschistischen“ Kampf. Dieser richtet sich gegen alle, die auf ihre Freiheitsrechte pochen oder grundsätzlich anderer Meinung sind als die herrschenden Linken.
Begriffe sind wehrlos. Man kann sie leicht mißbrauchen. Selbst wer das Seelenheit anderer hüten sollte, ist nicht gefeit gegen die Versuchung des Mißbrauchs, und wer die Demokratie am lautesten im Munde führt, vermag sie als erster zu verdeuteln und zu verdrehen.
Jahrelange Demokratie-Rhetorik hat die Köpfe, insbesondere die jüngsten und einflußreichsten, des kritischen Denkens, des vollständigen Denkens, des Lesens der historischen Tiefe der Fakten, jeder Annahme beraubt, die nicht nur subjektiv ist. Dadurch ist ein formloser Fleck entstanden, der die Demokratie selbst verschlingt. Was davon ausgespieen wird, wird gar kein Faschismus sein, der damit nichts zu tun hat und gegenüber dieser Welt „ganz anders“ bleibt. Vielmehr werden wir am Ende eine Form der Hyperdemokratie haben, die grimmig, technokratisch und gleichzeitig polizeistaatlich ist, aber dennoch als gut, sehr, sehr gut gilt.
Adiano Scianca, Ci avviamo verso la tirannide, ma non è fascismo: è iperdemocrazia, 4.11.2021
Das ist kein rhetorisches Hexenwerk. Wie Jesuiten überall Ketzer aufspüren können, kann man bei entsprechender Begabung überall „Faschisten“ entlarven:
Allüberall Faschisten am Werk
„Faschisten“ sind überall. Sie glauben nicht an 97 diverse Geschlechter, feiern reaktionäre Feste wie Weihnachten, gehen täglich zur Arbeit, mögen dem Klima nicht ihren Wohlstand opfern, machen keine Gendersterchen und hissen schwarz-rot-goldene Fähnchen in ihrem Schrebergarten.
Bratwurstessen ist faschistisch, weil der stramme Antifaschist klimaschonenden Salat ißt. Autofahren ist faschistisch, weil es das Klima gefährdet. Querdenken ist faschistisch, weil Denken unkontrollierbar ist. Gegen die schrittweise Ersetzung der Deutschen durch Orientalen zu sein, ist sowieso faschistisch. Deutschland soll ja, antifaschistischer Doktrin zufolge, verrecken.
Für Antifaschisten gibt es viel horchen und zu gucken. Wer nicht mit ihrem Strom schwimmt, macht sich verdächtig. Dagegen ist kein Aufwand übertrieben: Wenn sich stundenlang Antifarazzi mit Teleobjektiv auf die Lauer legen, um „Faschisten“ zu fotografieren, später mit Steckbrief im Internet zu publizieren und dem linken Mobbing preiszugeben, empfinden sie das als demokratische Heldentat.
Wer von den Grunddoktrinen der Herrschenden abweicht, ist verdächtig, selbst wenn er nichts Verbotenes unternimmt. Er ist der Gedankenverbrecher. Gegen ihn darf man vorgehen, denn einen Verbrecher zu beseitigen kann ja wohl nicht selbst verbrecherisch sein. So lehrt es der angewandte Antifaschismus. Der ideologische Abweichler wird erst sozial, später vielleicht physisch, selektiert und ausgemerzt. Traumziel ist ein ideologisch homogener Volkskörper. Nach Abschaffung des Volkes aus dem Vokabular ist es die weltanschauliche Gleichförmigkeit:
Wir sollen jetzt alle divers sein, ohne Ausnahme, punktum! Das ist unsere neue Norm. Abweichendes Denken ist – „faschistisch“, natürlich. Die reine Lehre der Demokratie hatte für Minderheiten noch nie einen Gedanken übrig.
In Ländern wie Thüringen ist die Antifa bereits an der Macht. Ihr legaler Arm regiert das Land. „Antifaschistischer Grundkonsens“ ist eine Parole der stalinistischen KPD. Die ganze Bundesrepublik habe einen „antifaschistischen Grundkonsens“, beeilten sich selbst Unionspolitiker zu beteuern.
Dabei dachten sie wahrscheinlich an die bösen Leute von Anno Dazumal. Die guten Unionisten haben noch nicht gemerkt, daß viele von ihnen inzwischen selbst unter „ferner liefen“ im Schauspiel der Antifa auftreten.
Oligarchie, nicht Hyperdemokratie
Adriano Sciencas Schlußfolgerungen übersehen aber, daß in jedem Land und jedem politischen System immer nur relativ Wenige tatsächlich herrschen. Der Kölner Soziologe Robert Michels lehrte später in Mailand. Er hat dieses „eherne Gesetz der Oligarchie“ entdeckt und formuliert. Man kann eine herrschende Elite zwar ablösen. Die neuen Herrscher werden aber bald die gleichen Herrschaftstechniken anwenden und ebenso unter sich bleiben wie die alten. Die Revolutionäre von gestern werden die Reaktionäre von morgen sein.
Entscheidend ist, daß immer nur eine in sich relativ homogene Gruppe die Schalthebel der Macht beherrscht. Ob sie sich als herrschender „Senat“ konstituiert wie im alten Rom, ob sie den König „beraten“ wie in einer Monarchie, einen Parteiapparat mit Politbüro bilden oder sich als Parteiendemokratie verfassen, bleibt sich gleich: Wer an der Macht teilhaben will, muß erst zu ihresgleichen werden.
Die Theorie der offenen Gesellschaft vermochte nicht zu erklären, warum es daran selbst in der seit Jahrzehnten „offenen Gesellschaft“ unseres Landes nicht möglich war, dem ehernen Gesetz der Oligarchie zu entrinnen. In ihr ist zwar individueller „sozialer Aufstieg“ möglich. Schon in alten Monarchien konnte aber „geadelt“ werden, wer aufsteigen wollte. Am System änderte das nicht. Die „offene Gesellschaft“ ihrer liberalen Erfinder ist auch offen. Der Preis ist aber hoch. Wer sein Rückgrat an der Garderobe abgibt, sich dem ideologischen Erwartungsdruck beugt, die richtigen Phrasen drischt und in kein Fettnäpfchen tritt, darf eintreten.
Der Zugang einzelner Neumitglieder in den Kreis einer Oligarchie ändert aber nichts daran, daß sie eine Oligarchie bleibt. Die Gesinnungsoligarchie unseres Landes wird von Menschen gebildet, die in bestimmter Weise sozialisiert sind, den passenden Politjargon verinnerlicht haben und sich Seil um Seil nach oben hangeln. Wir finden sie in den Parteien, den staatsnahen Medien und führend in den politisch relevanten Staatsorganen wie dem Verfassungsschutz.
Unsere Parteien- und Gesinnungsoligarchie ist nichts weniger als demokratisch. Schon gar nicht ist sie hyperdemokratisch. Sie ist autoritär und sucht mit allen Mitteln an ihrer Macht zu bleiben. Im Sinne ihres Machterhalts steuert sie die Meinung der Masse. Dabei führt sie gern auch das Wort Demokratie im Munde.
Hyperdemokratie ist nur die Fassade, und demokratisch ist das Fähnchen auf dem Dach. Innen dürfen jetzt anscheinend die Genossen herrschen. Sie erklären der staunenden Masse, was es ab jetzt erfordert, noch als demokratisch zu gelten. Innerhalb des selbstrefentiellen Systems unserer Machteliten sind sie die kleinen Lichter und hängen am seidenen Faden ihrer Wiederwahl. Die großen Lichter ziehen es vor, hinter den Kulissen an den eigentlichen Fäden zu ziehen.
[1] https://www.ilprimatonazionale.it/cultura/ci-avviamo-verso-tirannide-ma-non-fascismo-iperdemocrazia-213303/
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