Fett und impotent?

Sterben wir nach und nach aus, weil wir fett und impotent geworden sind? Der Historiker Hellmut Diwald erinnerte an den Wunschdeutschen des Kriegssiegers Winston Churchill:

Wir sind zu der Figur geworden, in die Winston Churchill den Deutschen der Zukunft verwandelt sehen wollte: fett und impotent.

Hellmut Diwald, Deutschland einig Vaterland, Geschichte unserer Gegenwart, 1990, S.99.

So verwandelte man die 1945 überlebenden Deutschen von Kriegern in Verbraucher. Den geistigen Überbau besorgte die angelsächsische Variante des Liberalismus: Die Li­be­ra­­li­sierung aller Lebensbereiche brachte die Auf­lö­­­sung al­ler eigenständigen meta­physi­schen und morali­schen Werte und führ­te zu ei­ner allge­meinen Öko­nomi­sierung des geistigen Le­­bens. Da­mit be­schränkte man sich auf eine „Gei­stesver­fas­sung, die in Pro­­duk­­tion und Kon­sum die zen­tra­len Ka­te­go­rien menschli­chen Da­seins fin­­det.“[1] Bert Brecht sprach aus der Seele: „Erst kommt das Fres­sen, dann die Moral.“ Gerade das Fressen wurde zur alleinigen Moral des Bundesbürgers. Er beschritt bis­her kon­sequent den Weg vom Prinzip Ord­nung zur in­di­vi­­duellen Be­liebig­keit, die keine Ordnung über ihm anerkennt und damit auf das Prinzip Chaos zusteuert.

Alle nicht ökonomischen Sichtweisen und Kategorien des Empfindens wurden ausgeblendet. Es waren alle die­jenigen un­lieb­samen Begleitumstände sozia­len Le­bens, auf die andere Men­schen mit konkre­ten Wert­hal­tungen ant­worten:

Auf die Emp­fin­dung der über­wältigenden Menge an Leid und Elend dieser Erde ant­wortet der Christ mit dem trö­sten­den Glau­ben an einen er­lösenden Heiland. Der So­zia­list beob­achtet die ungleiche Vertei­lung von Gü­tern und Le­bens­chan­cen und ent­wickelt daraus sein Ethos der Menschen­gleich­heit. Auf das in der Ge­schichte schon im­mer be­ste­hen­de Phänomen des Krieges und des Kamp­fes ant­wortet der heroi­sche Rea­list mit einer idea­lisierten Kampf­­be­reit­schaft. Er ent­wickelt die Vor­stellung von einem un­ent­rinnbaren Schicksal, auf­grund dessen wir am Ende der Dinge eben nie sie­gen können, und ant­­wor­tet dem Schick­sal mit einem trotzigen Den­noch.

Die inhärenten Gefahren der Speckquote

Aus ihren fatalen Fehlern nach 1918 hatten die Siegermächte gelernt. Ein ausgehungertes Deutschland hatte sein Schicksal nicht als unentrinnbar hingenommen, sondern Kampfbereitschaft und Heroismus in bisher nie gekanntem Ausmaß zu Staatstugenden erklärt. Nach 1945 waren die Alliierten schlauer. Sie erlaubten den Deutschen, den Wohlstandsspeck anzusetzen, nach dem sie sich so sehnten.

Je geringer der Anreiz für Entbehrungen, Opfern und Höchstleistungen ist, desto mehr verwandelte sich Deutschland in ein Land potentieller Opfer – wehr- und kampfunwillig und bald auch unfähig. Die industrielle Post-Mangel-Gesellschaft schien einem Perpetuum mobile zu gleichen. Die weltweit ältesten Berufsanfänger verwandelten sich gern in die jüngsten Rentner.

Sich aus den psychischen und physischen Schokoladenringen zu befreien, erfordert ein unabweisbares Motiv. Bestreben der politischen Linken ist es seit Jahrzehnten, uns in einen undurchdringlichen Sozialfürsorgekokon einzuspinnen und zu demotivieren: Bürgergeld – arbeitsloses Einkommen, soziale Absicherung: wozu überhaupt noch arbeiten?

Aus soziologischer Sicht haben alle Werthaltungen einen funktionalen Zweck. Entfällt er, sterben die Werthaltungen aus. Überfluß benötigt keine Askese. Fleiß ist bei arbeitslosem Einkommen für alle überflüssig. Wo alles erlaubt ist, wird Redlichkeit zum Luxus. Treue erscheint als konstruktivistischer Sicht als reaktionäres Fossil. Die Familie stört nur die „soziale Mobilität“. Dem Leitstern eines Wertes zu folgen, ist anstrengend und scheinbar überflüssig, solange es „mir doch gut geht“.

Damit wir aus unserem Verdauungsschlaf nicht aufwachen, hat man uns den vergleichenden Blick auf unsere Geschichte vermiest. Diese lehrt aber, daß es eine friedliche Existenz in Wohlstand noch niemals auf Dauer gab. Sobald wir erkennen, daß diese Existenz gefährdet ist, werden wir uns in eine andere Facon versetzen müssen. In der schläfrigen Verfassung blinder Maden, die sich nur um ihre individuelle Speckquote sorgen, werden wir weder als Volk noch als freier Staat das nächste Jahrhundert erleben.

Rückkehr des Kriegertypus?

Einer Hypothese zufolge ist der Zug der Geschichte für uns abgefahren. Wir halbieren uns demografisch von Generation zu Generation. Sobald die Bildungsschicht der alten, weißen Männer ausgestorben sein wird, steht unsere Jugend mit mit vielen bunten Luftballons und Gendersternchen wie auf einem Kindergeburtstag im rauhen Wind der Weltgeschichte – als Opfer geboren und zum Opfer erzogen.

Die optimistischere Hypothese dagegen rechnet mit der Fähigkeit aller Menschen, sich auf völlig geänderte Verhältnisse einzustellen. Kann eine andere innere Einstellung aus einem blökenden Opferlamm einen Krieger formen, aus einer Melkkuh einen Bullen? Wenn ihm genug Zeit bleibt, kann sie es vermutlich. Wir sollten unsere Sicht nicht einseitig auf die Scheinwelt richten, die unsere staatlichen Propagandasender uns vorgaukeln. Es gibt noch leistungsbereite und -fähige Teile unserer Jugend.

Wo es funktional erforderlich ist, passen auch unsere jungen Leute diesen Erfordernissen an und entwickeln entsprechende Werthaltungen. Überraschenderweise gibt es sogar noch Helden!

Das Stimmung der Verbraucher ist freilich unheroisch: Der Soziologe Rafael Behr sieht sie so:

Herfried Münkler (2007: 749) beschreibt westliche Gegenwartsgesellschaften infolge eines allgemein postulierten Egalitarismus und dem weit verbreiteten utilitaristischen Glücksstreben als „postheroische“ Gesellschaften, in denen Heldentum fremd bzw. suspekt und funktional obsolet geworden ist. Kapitalismus funktioniert im Alltag besser ohne Helden, mindestens dort, wo es um eine Disziplinierung zur Arbeit geht.[2]

Rafael Behr, Polizei, Kultur, Gewalt. Polizeiarbeit in der „offenen Gesellschaft“, Lehr- und Studienbrief für Bachelor- und Masterstudiengänge der Polizei … an der Universität Bochum. 19.4.2018, S.129.

Wo er sozial und funktional erforderlich sei, entwickelt sich notwendigerweise Heroismus. Aus gesellschaftlicher Perspektive erscheint er nicht als individuelle Charaktereigenschaft, sondern als eine Haltung, die man je nach Lage einnehmen muß, um zum Ziel zu gelangen. Der auf dem Gebiete der „Polizeiwissenschaften“ forschende Soziologe Behr verweist auf solche Notwendigkeiten, wo Polizeibeamte in geschlossenen Einheiten gegen innere Feinde unserer Rechtsordnung vorgehen müssen, wie etwa die paramilitärische Polizeieinheit BFE+. Die Funktionalität zieht dann die innere Werthaltung zwingend nach sich:

Heroismus ist in der Polizei – besonders unter den „handarbeitenden Polizisten und Polizistinnen“ – durchaus verbreitet, er ist aber weder öffentlichkeitstauglich noch karriereförderlich. So wird z.B. „heroisches Gewalthandeln“ zwar in einzelnen Organisationseinheiten praktiziert, aber nicht offiziell geschätzt. Es wird temporär zugelassen, solange es funktional tauglich ist.

Rafael Behr, Polizei, Kultur, Gewalt. 19.4.2018, S.131.

Immer wenn potentiell kämpfende Menschen eine Gefahrengemeinschaft bilden und sich dieser Gefahren bewußt sind, leben Korpsgeist, Tapferkeit, Solidarität und andere soldatische Tugenden. Andernfalls zerfällt der Haufen nach der ersten „Feindberührung“. Die politisch gewünschte Polizeikultur des Schutzmannes an der Ecke muß sich im Ernstfall in etwas Andersartiges verwandeln, das wir historisch gut kennen.

Wenn der Feind vor den Mauern steht, bilden die Verteidiger eine Gefahrengemeinschaft und ist ihr „Heroismus“ ein Gebot der Funktionalität (Philipp Mönch, Kriegsbuch, 1496, Uni Heidelberg)

Polizeikultur spielt eine Rolle als wertbezogene Ausgestaltung der Idee einer demokratischen Verankerung staatlicher Herrschaft. Dies würde aber nicht funktionieren, wenn sie nicht durchbrochen beziehungsweise gestützt würde durch nichtbürokratieförmige Handlungsmuster der Polizisten vor Ort (insbesondere deren Männlichkeitskonstruktionen, in denen Tugenden wie Solidarität und Tapferkeit vorkommen, oder deren Berufsehre, die sich in den Handlungsmustern ebenfalls widerspiegelt). Die Handlungsmuster der street cops sind nicht immer und nicht notwendigerweise menschenfreundlich und menschenrechtskonform.

Rafael Behr, Polizei, Kultur, Gewalt. 19.4.2018, S.150.

Die Funktionalität bestimmt die „Werthaltung“

Nicht ein „Zeitgeist“, nicht eine voraussetzungslose Ideologie oder eine willkürliche Zielvorgabe bestimmt das menschliche Verhalten und formt seine Einstellungen. Es kommt immer auf die konkrete Lage an, in der ein Mensch handelt. Dann tut er, was er muß, und dann denkt er so, wie sein Tun es erfordert.

Funktionalen Handlungsnotwendigkeiten bestimmen unsere innere Haltung und die Einstellungen zu Werten. Man kann kein Puzzle ohne Fleiß zusammensetzen, und man kann in einer Auseinandersetzung mit einer feindlich gesinnten Gruppe nicht bestehen ohne Heroismus. Der freundliche Schutzmann an der Ecke ist in Friedenszeiten gut. Für sie sind unsere politischen Vorgaben gemacht:

Die offizielle Polizeikultur tendiert zur Androgynität, d.h. zu einer Verwässerung von Geschlechtermerkmalen. Man braucht dort in erster Linie zuverlässigen Mitarbeiter, ob das Männer oder Frauen sind, ist in dieser Sphäre gleichgültig. In der Cop Culture wird dagegen Männlichkeit deutlicher sichtbar. Ich unterscheide analytisch zwei Varianten, nämlich den „Schutzmann“ und den „Krieger“. Der Schutzmann repräsentiert eine auf den Erhalt des sozialen Friedens ausgerichtete Männlichkeit. Im Mittelpunkt seiner Identitätskonstruktion steht die Moderation von Konflikten und Interessen. Die Kriegermännlichkeit stellt in den Mittelpunkt ihrer Identität die Konfrontation, auch und besonders die physische.

Rafael Behr, Polizei, Kultur, Gewalt. 19.4.2018, S.151.

Unser Sozialstaat, die leistungslose Rundumversorgung und die Doktrin, Deutschland sei nur „von Freunden umgeben“ entzogen jedem Ansatz heroischer Mentalität die Notwendigkeit. Es war ja auch sehr angenehm, als „es uns allen gut ging“. Kein vernünftiger Mensch sehnt sich nach Konflikten und Mangel. Der Liberalismus hat unterdessen alle bestehenden Gemeinschaften aufgelöst und durch in sich zusammenhanglose Gesellschaften ersetzt. Mit ihnen hat er die geistigen und emotionalen Wurzeln zerstört, aus denen früher Zusammengehörigkeitsgefühl, Solidarität, Opferbereitschaft und Heroismus erwuchsen. An deren Stelle hat er den ultimaten Vorrang der Geldmacht gesetzt.

Das Ganze funktioniert nur, wenn es mehr ist als die Summe seiner Einzelteile (Philipp Mönch, Kriegsbuch, 1496, Uni Heidelberg).

Auf Dauer eines Wimpernschlages der Geschichte ist das knapp gutgegangen. Bei halbwegs realistischer Lageeinschätzung können wir uns aber nicht darauf verlassen, daß es so bleibt. Unsere Existenz kann Flexibilität erfordern. Mit der bisherigen Politiksimulation, alles drehe sich nur um „gerechte Teilhabe“, werden wir bei den sich abzeichnenden globalen Verteilungskämpfen nicht weit kommen.

Zur Not schicken wir unsere emotionale Kindergartengeneration mit ihren hübschen bunten Luftballons, Genderbeauftragten, Sozialarbeitern, Quotenmiezen und Queer-Stänkerern in einen für sie passenden Stuhlkreis. Da dürfen sie sich im Kreis Gendersternchen zuwerfen. In der Not werden wir Menschen brauchen, die aus einem anderen Holz geschnitzt sind.

Diese Not wird bemerkbar werden, sobald die Kapelle auf der Titanic aufhört, das Lied von der besten aller Welten zu spielen. Dann wird die Realität uns lauter aufspielen als die Konstrukte unserer Medien-Scheinwelt.


[1] Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, S.83.

[2] Rafael Behr, Polizei, Kultur, Gewalt. Polizeiarbeit in der „offenen Gesellschaft“, Lehr- und Studienbrief für Bachelor- und Masterstudiengänge der Polizei sowie für die Module „Policing“ im weiterbildenden Masterstudiengang Kriminologie am Institut für kriminologische Sozialforschung der Universität Hamburg und „Angewandte Polizeiwissenschaft“ des Masterstudiengangs „Kriminologie und Polizeiwissenschaft“ an der Universität Bochum. 19.4.2018, S.129.