Alles nur Konstrukt?

Wem die Gegenwart gehören soll, muß sich der Vergangenheit bemächtigen. Die metapolitische Deutung der Geschichte hat mit objektiver Geschichtsforschung nichts zu tun. Sie sucht vielmehr Belege, um eigene Macht- und Herrschaftsansprüche an der Vergangenheit zu legitimieren.

Welches filmische Bild von ihr gezeichnet wird, hängt auch davon ab, welche gesellschaftspolitischen Ambitionen es stützen soll. Vor allem die neue Linke weigert sich notorisch, eine objektive Geschichtsschreibung anzuerkennen. Wie in unserer Gegenwart auch hätte es einst nur „Konstrukte“ gegeben: Völker, Stämme, Reiche, Sippen, Hierarchien, Wirtschaftsformen – für einen radikalen Dekonstruktivisten spielte und spielt sich das alles nur in den Köpfen ab. Aber auch die frühere Geschichtsschreibung hatte dazu geneigt, die ferne Vergangenheit in die Schubladen ihrer zeitgenössischen Lebensverhältnisse einzuordnen und zu deuten.

Wenn sich ein neuer Film mit der in den Köpfen gebildeten Konstruktion ferner Zeiten nicht verträgt, klingeln darum alle Alarmglocken. Umso lauter schrillen sie, wenn das filmische Bild der Historie erkennbar das Weltbild des ideologischen Gegners befeuern könnte. So warnt der britische Guardian vor einem Wikingerfilm:

Die Gesellschaft der Nordmänner im 10. Jahrhundert scheint einheitlich weiß und entlang patriarchalischer Linien fest gespalten zu sein. Männer regieren und töten; Frauen machen Pläne und Babys machen. Sein Held, gespielt von Alexander Skarsgård, ist keine Million Meilen von dem „Macho-Stereotyp“ entfernt, über das Eggers klagte – ein stämmiger Krieger, der die meisten Streitigkeiten mit einem Schwert und ohne Hemd schlichtet. Skarsgårds Liebesinteresse, gespielt von Anya Taylor-Joy, könnte die Traumfrau des rechtsextremen Mannes sein: schön, blond, loyal zu ihrem Mann und entschlossen, seinen Nachwuchs zu gebären. Noch vor der Veröffentlichung des Films gaben rechtsextreme Stimmen auf der anonymen Forenseite 4chan ihre Zustimmung: „Northman ist ein basierter [annehmbarer] Film, alle mit weißer Besetzung und zeigt pure, rohe Männlichkeit.“ „Robert Egger. Er gibt unserem Volk mit seinen großartigen Filmen den Stolz zurück. The Northman wird episch … Heil Odin.“

Steve Rose, Norse code: are white supremacists reading too much into The Northman?, The Guardian 22.4.2022, hier zitiert nach automatischer Übersetzung.

Der Regisseur des Filmes The Northman, Robert Eggers, war aus Sicht des Guardian anscheinend zu naiv, die Gefahren zu erkennen. Der rechte Feind lauert nämlich überall:

Eggers wäre zweifellos entsetzt, mit solchen Bewegungen in Verbindung gebracht zu werden, aber The Northman zeigt, wie das Kino auf eine Weise zweckentfremdet werden kann, die seine Macher nie beabsichtigt hatten. In den letzten zwei Jahrzehnten wurde die gesamte Kulturlandschaft – und insbesondere Filme über die europäische Geschichte – von der extremen Rechten bewaffnet und politisiert. Ein Leitfaden zur rechtsextremen Denkweise wurde 2001 auf Stormfront, der berüchtigten weiß-nationalistischen Website, erstellt. Ein Mitwirkender namens Yggdrasil (da ist wieder diese nordische Mythologie) begann einen Thread über „Inhalte, die wir wiederholt ansehen können“, und legte sie dar Richtlinien und Vorschläge machen und erbitten. Der Thread umfaßt jetzt 154 Seiten. Zu Yggdrasils Kriterien für einen guten weiß-nationalistischen Film gehören: „Positive Darstellung von Weißen zur Verteidigung gegen die Verwüstungen des Liberalismus, Kriminalität und Angriffe außerirdischer Rassen“; „Positive Darstellung heterosexueller Beziehungen und Sex, Ehe, Zeugung und Kindererziehung“; „Darstellungen von weißen Männern als intelligent, sensibel und stark – in positiven Führungsrollen und/oder romantischen Hauptdarstellern“; und „besonders intensive Darstellungen weißer weiblicher Schönheit in nicht entwürdigenden Rollen“. Zu den disqualifizierenden Themen gehören Homosexualität, Rassenmischung, negative Darstellungen des Christentums und Darstellungen von Weißen als minderwertig.

Steve Rose, Norse code: are white supremacists reading too much into The Northman?, The Guardian 22.4.2022, hier zitiert nach automatischer Übersetzung.

Wir bewegen uns also auf metapolitisch vermintem Gelände. Umso sorgfältiger prüfen Regisseure und Drehbuchautoren die erreichbaren historischen Fakten, um der Filmkritik möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Liefert ein Film den volkspädagogisch erwünschten Hintergrund, muß man es mit den Fakten nicht mehr so genau nehmen. So kam in der populären Filmserie Vikings (2013-2020) die klassische Männerphantasie der nordischen Schildmaid ausgiebig zu Ehren. Die Schauspielerin Katheryn Winnick ist Tochter ukrainischer Eltern und verkörpert perfekt das Männerideal der schönen Schwertkämpferin. Wer als Ungeübter schon einmal ein Langschwert von 1-2 Kilo eine Weile mit ausgestrecktem Arm gehalten oder geschwungen hat, weiß die Kraft der Film-Wikingerin Lagertha zu schätzen. In Schlachten wird selbst über Stunden ihr Arm nicht müde.

Kein Wunder, war die „echte“ (Lathgertha) der nordischen Sagas doch im Ursprung eine Walküre, die der Historiker Saxo Grammaticus (1160 bis nach 1216) als „im Rücken des Feindes herumfliegend“ (circumvolans) beschrieben hatte.

„Ladgerda, die trotz ihrer zarten Statur einen unvergleichlichen Geist hatte, verdeckte durch ihre herrliche Tapferkeit die Neigung der Soldaten zum Schwanken. Denn sie machte einen Ausfall und flog dem Feind in den Rücken, überraschte ihn und wendete so die Panik ihrer Freunde gegen das Lager des Feindes.“

Saxo Grammaticus, (originales Quellenzitat)

 Zu Saxos Zeiten war die Dame allerdings schon einige hundert Jahre tot. In der nordischen Sage und im Film „Vikings“ freilich hatte sie eine Truppe kriegerischer Mädels um sich geschart, die schon in Germanenzeiten als Walküren die Phantasie beflügelte und Männerherzen höher schlagen ließ. Es gab sie tatsächlich: in den Köpfen!

Entzückt ist auch der Guardian, ordnet Schildmaiden flugs unter den Belegstellen für angebliche Kriegerinnen ein und weist „auf eine kürzlich in Schweden gefundene DNA-Analyse der Überreste eines hochrangigen Wikingerkriegers hin, die sie als weiblich identifizierte.“ Dieser Hinweis trifft archäologisch zu, doch ist die Bezeichnung „Wikingerkrieger“ ein Konstrukt, weil die Archäologie uns nicht sagt, warum in dem Frauengrab Waffen lagen. Sie könnten auch Insignien oder Anzeichen für einen hohen sozialen Status sein.[1] Es gibt keinen historischen Beweis für die Existenz der „Schildmaiden“ aus den Sagas, auch wenn sie den Protagonisten der Emanzipation entgegenkommen und einen Beleg für die Rolle der Frauen im frühen Mittelalter abgeben sollen.

Filmemacher Michael Hirst hält seinen Film für eine feministische Serie.

„Vikings“ hat eine sehr signifikante weibliche Hauptfigur und starke Frauenfiguren. Innerhalb von drei Staffeln waren wir in der Rollenverteilung von handlungsentscheidenden Figuren bei 50:50. „Vikings“ ist eine feministische Serie.

Michael Hirst im Interview mit Doris Priesching, Der Standard 20.12.2020

Er hat Recht, daß Frauen zur Hälfte die Handlung tragen. Allerdings war dies historisch immer so, denn schon hinter antiken herrschenden Männern standen oft Frauen, die ihnen an Ehrgeiz nicht nachstanden und das Schicksal ihrer Männer teilten. „Vikings“ zeigt die Vergangenheit in historisch objektivierbarer Weise und weder tendenziös patriarchalisch noch feministisch.

Mit Ragnar Lodbrok in die Schlacht

Die Kriegerin Ladgertha galt den nordischen Sagas teilweise als eine von drei Frauen des Wikingers Ragnar Lodbrok, in anderen kommt sie nicht vor. Er ist der Held der kanadisch-irischen Filmserie „Vikings“. Anführer wikingischer Angreifer in Frankreich und des großen dänischen Heeres in England brüsteten sich historisch, seine Söhne zu sein.

Wo sie an Land gingen, waren Gemetzel nicht weit (Filmserie Vikings, Szenenfoto, Amazone Prime Video, aus dem Interview-Artikel des Standard)

Das Filmepos „Vikings“ zeichnet die Wikingerzeit ab der Plünderung Lindisfarnes 793 nach. Dabei folgt es den bekannten historischen Fakten, soweit bekannt, ergänzt sie durch die später erzählten Sagas, soweit diese sich nicht untereinander widersprechen, und ergänzt die Handlung durch Szenen, wie sie in dieser Art hätten geschehen sein können. Den sich über 150 reale Jahre hinziehenden Stoff rafft das Drehbuch auf die Lebensspanne eines Menschen zusammen.

Dabei bemühen sich die Filmemacher, bis ins Detail dem überlieferten Tatsachen- und Sagenstoff zu folgen. Als der Wikinger Ragnar Lodbrok von König Ælle von Northumbrien (König 862-867) gefoltert und in die Schlangengrube geworfen wird, drohte der Film-Ragnar ihm mit den Worten, wie die jungen Ferkel erst grunzen werden, wenn sie erfahren, wie der alte Eber leiden mußte. Der Dialog ist nicht erfunden, sondern findet sich in den Quellen.

Friedrich Heinrich von der Hagen (1780-1856), Ragnar-Lodbroks-Saga, Breslau 1828, S.81. In der Fußnote (*) der Ausgabe steht, darüber berichte auch Saxo Grammaticus.

Auch die Ausstattung gibt sich Mühe. Die bemalten Augen des Protagonisten „Floki“ wirken vielleicht schlecht erfunden oder kitschig, bis man liest, daß ein arabischer Händler Ibrahim ibn Jaqub nach einer Reise nach Haithabu tatsächlich berichtete, daß Männer und Frauen Augenschminke benutzt hätten, und tätowiert waren sie auch.

Der historische, um 830 geborene Flóki Vilgerðarson segelt um 868 mit seinem Schiff nach Island und läßt sich dort nieder (Bild: History Channel), hier gespielt von Gustaf Skarsgård mit ummalten Augen.

Thors Hammer und Odins Raben

Als das große Wikingerheer 865 unter Führung von „Ragnars Söhnen“ in Ostengland landete, glaubten die Nordmänner an ihre angestammten Götter. In einem in Derbyshire aufgefundenen Massengrab Gefallener fanden sich auch „die Knochen von zwei Männern, die mit einem Wikingerschwert und einem Thorshammer-Anhänger bestattet wurden.

Ihre angelsächsischen Gegner nannten sich Christen. Die Filmdialoge zwischen Anhängern beider Religionen zählen für den Interessierten zu den Leckerbissen der Filmreihe. Das frühe Mittelalter war eine brutale, gewalttätige Zeit, und ihre Götter grausam. Wir sehen, wie Wikinger-„Priester“ mit untergehaltener Opferschale das Blut eines geopferten Menschen auffangen und es mit Wedeln segnend über die Versammelten spritzen. Schnitt. Die nächste Einstellung blendet auf den englischen Schauplatz, in denen der Priester „das Blut Christi“ eingießt und den Abendmahlsgästen zu trinken gibt, woraufhin sie mit Weihwasser bespritzt werden.

Der gefangene Todfeind eines Wikingers wird mit dem „Blutadler“ bestraft, dessen genaue Schilderung ich uns hier aus Zartgefühl erspare. Schnitt. In Northumbrien hängt ein Gefangener am Kreuz und wird wie Jesus gerichtet. Als Mönch in Lindisfarne war er von den Wikingern versklavt worden, nahm aber ihren Glauben an und kehrte als Wikinger zurück nach England, wo er erneut gefangen und als „Apostat“ einem grausamen Tod überantwortet wurde, begleitet von salbungsvollen Reden des Bischofs von seinem Jesus. Die „Heiden“, lautet der Lerneffekt solcher Szenen, waren grausam zu ihren Feinden, aber dabei ehrlich, die Christen nicht minder grausame Heuchler.

In Gräbern haben Archäologen mit einem Kreuzanhänger und zugleich einem Thorhammer Bestattete gefunden. Im Film zieht Ragnars Sohn Ubbe, notgedrungen getauft, vorsichtshalber mit Kreuzanhänger und einem Armring für Odin in eine Schlacht. Engländer wie Nordmänner wußten nicht viel vom Jesus der biblischen Buchreligion. Für die einen garantierten und repräsentierten ihre alten Götter den Zyklus des Lebens. Sie belästigten die Menschen nicht mit Geboten und Verboten, versprachen ihnen aber auch nichts. Als ein Bischof einem Wikinger die Erlösung von seinen Sünden versprach, erntete er nur Erstaunen: „Was sind „Sünden?“ Entsprechend freizügig handelten die Nordleute: im Film wie auch im realen Leben, soweit überliefert, ließen sie nichts anbrennen.

Kulturelle und politische Umbruchzeit

„Wieso an Thor glauben?“, fragte der Wikinger Ivar der Knochenlose im Film den Bischof. „Ich weiß doch, daß es ihn gibt, schließlich höre ich ihn, wenn er seinen Hammer schwingt und es donnert und blitzt.“ Das als Wirklichkeit Erlebte bildet für ihnen den Maßstab, und was ihm Bischof Heahmund ihm da von Erlösung erzählt als ausgedacht, empfand er als weit hergeholt, quasi als „Konstrukt“. Gesellschaftliche Umbruchzeiten verunsichern ihre Zeitgenossen, aber umgekehrt führen auch Verunsicherungen zu gesellschaftlichen Umbrüchen. In „westlichen“ säkularisierten Gesellschaften ist der christliche Glaube funktionslos geworden. Der Altar stützt keinen Thron mehr. Die industrielle Massengesellschaft ist postmodern und gottlos geworden, die christlichen Rituale wie ein „Trinken des Blutes des Herrn“ unverständlich. Man kann diese Entwicklung besser im Vergleich mit den Umbrüchen vom nordischen Altertum in die frühmittelalterliche Welt der Ritter und Burgen, der Klöster und Kleinstädte verstehen.

Die Nordmänner waren Fischer und Bauern. Ihr Weltverständnis war familiär, konkret, und es ruhte unmittelbar auf der greifbaren Erfahrung des jährlichen Werdens und Vergehens. Der Tod gehörte zum täglichen Lebensschicksal. Die Sachsen lebten dagegen in England schon in den Relikten der römisch-antiken Herrschaft, bildeten größere territotiale Einheiten und begannen sich kulturell an das christliche Reich Karls des Großen anzulehnen. Sie kannten kein Schicksal mehr. Was ihre Götter – Vater, Sohn und ein heiliger Geist, ihnen abverlangten, erfuhren sie nicht ehrfurchtsvoll durch Seher, sondern aus ihrer biblischen Offenbarung. Die Buchreligion erwies sich nachhaltig als die der neuen Zeit und Gesellschaftsstruktur besser angepaßte Religionsform. Das Frankenreich Karls des Großen verlangte nach einem einheitlichen Reichsgott. Anstelle des Herrschens als Abkömmling Odins trat die Herrschaft von Gottes Gnaden mit etwas anderen, aber häufig ähnlichen Riten und Bräuchen.

Die Dialoge in „Vikings“ spiegeln diese Umbruchszeit wider. Der filmische „Einsatz von Gewalt und Machtmotiven folgt nicht in erster Linie dem Spannungserhalt, sondern übergeordneten existentiellen Fragen.“ Neben tief gläubigen Anhängern des alten wie auch des neues Brauchs gibt es Wankende, Zweifelnde und Glaubenslose, wie es auch in einer nordischen Saga überliefert ist:

Neben solchen, die sich um die Rituale bemühten, gab es viele, die an nichts glaubten. Als sich eine Gruppe von Wikingern König Olav auf seinem allerletzten Heereszug anschließen wollten, fragte dieser ihren Anführer Gauka-Þórir, ob sie Christen seien. Er antwortete, sie seien weder Christ noch Heide:

„Höfum vér félagar engan annan átrúnað en trúum á okkur og afl okkað og sigursæli og vinnst okkur það að gnógu.“

„Wir Gesellen hier haben keinen anderen Glauben, als dass wir auf unsere eigene Macht und Kraft uns verlassen und unser gutes Siegesglück. Das ist für uns genug.“

– Heimskringla. Olafs saga helga Kap 201. Übersetzt von Felix Niedner

„Ähnliche Äußerungen sind noch andernorts überliefert. Zu den Göttern gab es keine persönliche Beziehung, wie es für eine Frömmigkeit Voraussetzung ist.“

Das eigene Denken ist eine Angewohnheit, die man nicht mehr ablegen kann, wenn man sie sich einmal angewöhnt hat. Sie ist in Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs und der Zweifel ausgeprägter, als wenn die Lebensumstände jahrhundertelang bleiben, wie sie sind. Darum ist die Filmserie „Vikings“ hochaktuell. Sie hilft uns, unsere Gegenwart zu deuten.


[1] Es handelte sich um die „Frau von Birka“, vgl. im einzelnen Klaus Kunze, Das ewig Weibliche im Wandel der Epochen – Von der Vormundschaft zum Genderismus 2019, ISBN 978-3-938176719, S. 34 ff.