Die Linke ist mutiert. Als ich 1968 Schüler war, klopfte sie gern den Spruch: “Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment”. Das Establishment waren die Bösen: alte, repressive, reaktionäre Spießer, Fossilien des klerikal-faschistischen Syndroms der BRD. Und dieses gehörte natürlich weggeräumt, um alle Unterdrückten ins kommunistische Paradies zu führen.
Heute sind die linken Revolutionäre von einst selbst die Spießer. Schon Robert Michels hatte 1911 festgestellt: Im Besitze der Macht geht in dem Revolutionär eine Umwandlung vor, an deren Endpunkt er, wenn nicht der weltanschaulichen Legitimation, so doch der Substanz nach, den Entthronten so ähnlich wird wie ein Haar dem anderen.
In meiner Kindheit konnte ein nackter Busen in einer Illustrierten noch den Staatsanwalt auf den Plan rufen. Bald ist es wieder soweit. Nackte Busen gelten als “sexistische Werbung”. Wer im Betrieb mit einer anziehenden Kollegin anbändeln möchte, läuft Gefahr, wegen sexueller Anmache gefeuert zu werden. Mir gegenüber rekelten sich vor zwei Jahren zwei bildschöne Frauen im Pool, und eine klagte ihrer Freundin: Sie habe sich so ein hübsches Kleid gekauft, aber: “Glaubst du vielleicht, irgendeiner hätte mir mal ein Kompliment gemacht?”
Studien zufolge soll die sexuelle Aktivität der heute 15-25jährigen deutlich unter der damaligen Frequenz vergangener Altersgruppen liegen. Sind das alles frustrierte, verklemmte Typen, feministisch verunsichert in ihrer Geschlechtsrolle, oder sind sie bloß feige und trauen sich einfach nicht mehr? Angetreten war die antiautoritäre Linke 1968 mit dem Versprechen fröhlicher sexueller Selbstverwirklichung. Was hat die heutige Linke zu Spießern mutieren lassen?
Die moderne Linke, jedenfalls in ihrem akademischen Teil, scheint vor allem mit der Frage beschäftigt, wie sie dafür sorgen kann, dass niemand vom rechten, also linken Weg abkommt. Ihre ganze Energie ist darauf gerichtet, dass die Menschen nicht das Falsche sagen. Oder die falschen Witze reißen. Oder die falschen Kostüme zu Halloween tragen.
Jan Fleischhauer, FOCUS 26.10.2019
Die Parolen zur sexuellen Befreiung hatten 1968 unter linkem Vorzeichen gestanden. Immerhin galt sexuelle Verklemmtheit als Zeichen einer autoritären, latent faschistoiden Persönlichkeit.
Die Linke, mit der ich aufgewachsen bin, war stolz auf ihre Aufmüpfigkeit und ihren Widerspruchsgeist. Bei den sogenannten K-Gruppen gab es schon damals nichts zu lachen. Wer gläubiger Marxist ist, hält Ironie für ein Zeichen von Dekadenz.
Jan Fleischhauer, FOCUS 26.10.2019
Doch schon bald erhoben sich die ersten mahnenden Stimmen im linken Lager selbst. Nach dem SPIEGEL vom 17.2.1965 soll eine amerikanische Studentin zugegeben haben: “Ich finde die Idee, Sex ausschließlich zum Vergnügen zu betreiben, außerordentlich attraktiv.” Der – damals – linke Frank Böckelmann rümpfte 1971 die Nase:
Die Mehrheit der Amerikaner ist bereits zu einem eindeutigen moralischen Urteil nicht mehr fähig.
Frank Böckelmann, Die schlechte Aufhebung der autoritären Persönlichkeit, 1971 (Nachdruck 1987), S.61.
Die heutige Entwicklung wurde befördert durch den ökonomischen und dann ideologischen Zusammenbruch des Marxismus um 1989. Seine Klassenkampftheorien hatten besagt, die unterdrückte Arbeiterklasse werde sich dereinst erheben und das kapitalistische System beseitigen. Diese Prophezeiung trat nicht ein. Statt dessen löste sich, soziologisch betrachtet, die Arbeiterklasse auf: für einen strammen Kommunisten höchste Zeit für einen Paradigmenwechsel.
Der englische Publizist Douglas Murray fand den Nukleus dieses Paradigmenwechsels in den Arbeiten der Marxisten Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Diese wandten sich vom “traditionellen Diskurs des Marxismus” ab, der sich auf den Klassenkampf und wie ökonomischen Widersprüchlichkeiten des Kapitalismus konzentriert habe. “Doch jetzt”, schreibt Murray, “müsse das Konzept des Klassenkampfes neu geschrieben werden, weshalb sie die Frage aufwerfen:”
In welchem Umfang ist es notwendig geworden, das Konzept des Klassenkampfes zu modifizieren, um mit neuen politischen Themen – Frauen, nationale, ethnische und sexuelle Minderheiten, Anti-Atomkraft- und institutionskritischen Bewegungen – von eindeutig anti-kapitalistischem Charakter umgehen zu können, deren Identität jedoch nicht auf bestimmte Klasseninteressen ausgerichtet ist.”
Laclau / Mouffe, Socialist Strategy: Where next, in: Marxism today, Januar 1981, zit.nach Murray a.a.O. S.79.
Das Zitat bildet einen Schlüssel, die Mutation der Linken von fröhlichen Antiautoritären zu verbissenen Spießern zu erklären. Ging es bisher darum, die armen, unterdrückten und ausgebeuteten Arbeiter zu befreien und glücklich zu machen, mußten jetzt andere herhalten: Diverse Minderheiten traten an die leer gewordene Stelle derer, die es zu befreien galt. Das marxistische Heilsversprechen gilt fort, nur wurden seine Adressaten ausgetauscht:
Diese Gesellschaft ist zwar eine kapitalistische, aber das ist nicht ihr einziges und entscheidendes Merkmal; sie ist sexistisch und patriarchalisch, ganz zu schweigen von rassistisch.
Laclau / Mouffe a.a.O.
Damit war der Schwenk vollzogen. Sex wurde zu etwas Rechtfertigungsbedürftigem. Da verstehen die neuen Spießer keinen Spaß.
Weil theoretisch alles verstörend sein kann, was sich auf dem Terrain zwischen Mann und Frau abspielt, gehen Museen dazu über, vor Räumen mit anstößigen Bildern Warntafeln anzubringen. Studenten erhalten vor der Lektüre von Textpassagen, die sie belasten könnten, sogenannte Trigger-Warnungen. Die Rechte habe ein Problem mit freier, selbstbestimmter Sexualität, hat die Feministin Margarete Stokowski dieser Tage geschrieben. Mag sein, ließe sich einwenden, aber zumindest muss man als Rechter vor dem Beischlaf nicht lange Verträge unterschreiben, um mögliche Klagen abzuwenden, wenn einer oder eine anschließend enttäuscht ist.
Jan Fleischhauer, FOCUS 26.10.2019
Vordergründig schwingen sich die neulinken Tugendbolde zu Beschützern angeblich Unterprivilegierter auf. Dahinter steht die alte Strategie, die derzeitigen Herrschaftsstrukturen zu zerstören. Diese bezeichneten sie früher als Schweinesystem und sehen sie heute noch so. Ganz früher war der Zigarren rauchende Kapitalist das Feindbild, 1968 der präfaschistoide Reaktionär, heute der “alte weiße Mann”. Die Protagonisten dieser Ideologie findet man inzwischen auf Lehrstühlen und in Seminaren der Universitäten. Bei genauerer Betrachtung ihrer Person sind es in der Wolle gefärbte Linksextremisten. Wie alle Fanatiker haben sie häufig ein schwaches Selbstbewußtsein, fühlen sich aber großartig, einer großen Sache dieen zu dürfen. Sie sind die geborenen Feinde der Freiheit.
Wir reden viel über den Wert der Freiheit, aber in Wahrheit ist Freiheit für ängstliche Naturen eher Drohung denn Verheißung. Der Nachteil des Glücksversprechens der siebziger Jahre war, dass es jedem Einzelnen die Verantwortung aufbürdete, sein Glück zu finden. Wer einsam zu Hause saß, weil er keinen Anschluß fand, mußte es sich selbst zuschreiben, wenn das wilde Leben an ihm vorbeizog. Von dieser Last ist die nachfolgende Generation befreit. Die Freuden der Selbstkasteiung stehen jedem offen. Wer sich bei den linken Flagellanten einschreibt, muß nie fürchten, daß andernorts die bessere Party stattfindet.
Jan Fleischhauer, FOCUS 26.10.2019
Sie sind nicht nur in kleinen, radikalen Gruppen organisiert, sondern bilden einen personellen Schwerpunkt der Partei “die Grünen”. Ihr Sinnen und Trachten strebt immer wieder danach, die Mehrheitsgesellschaft moralisch zu bevormunden.
Jeder kleine Spießer macht
Zarah Leander 1938
Das Leben mir zur Qual,
Denn er spricht nur immer von Moral.
Und was er auch denkt und tut,
Man merkt ihm leider an,
Daß er niemand glücklich sehen kann
Wenn ein normaler Mann einer normalen Frau am Arbeitsplatz Avancen macht, ist er ein sexistischer Flegel. Gleichzeitig stehen aber unter moralischem Naturschutz diejenigen Männer und Frauen, die einer “sexuellen Minderheit” angehören und darum ideologisch benötigt werden. Sie dürfen sich öffentlich alles erlauben, ohne als “sexistisch” zu gelten.
Für die neulinken Moralisten gilt die Faustregel: Was Spaß macht, ist verboten. Falls sie sich durchsetzen, könnte das zum Ende der Spaßgesellschaft führen.
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