Als preußisches Beamtenethos auf kölsche Lebensart stieß
Von 2019 zurück ins Jahr 1919 ist nur ein kleiner Zeitsprung. Mitten im Gedrängel des Neumarktes finde ich, in einer von vielen übersehenen dunklen Ecke zwischen zwei hell erleuchteten Marktständen, einen dunklen Vorhang. Er führt in eine schwach erleuchtete Markt-Hütte. „Erleben Sie eine echte Zeitreise!“ hatte draußen die Anpreisung gelautet. Ich betrete die Hütte, bezahle, setze die Zeitmaschine in Gang und lasse mich 100 Jahre zurückversetzen.
Viel leerer finde ich den Weihnachtsmarkt vor, 1919 war ein Notjahr. Der Markt heißt noch Nicolaimarkt, benannt nach dem heiligen Nikolaus. Ich schauen mich um: Die Türme von St. Aposteln grüßen mich, wie ich sie seit Kindertagen kenne.
Städte können über lange Zeiträume ihre Identität bewahren. Der rheinischen Metropole Köln ist es gelungen. Mein Besuch gilt der armen Witwe von Otto Landschulz. 1919 wohnte sie in Köln-Nippes.
Otto Hermann Landschulz wurde am 1.2.1865 in Zehden, Regierungsbezirk Frankfurt/ Oder, geboren und besuchte dort die Elementarschule. Seine Eltern waren der Mühlenmeister Ludwig Landschulz und Wilhelmine geb. Engel. Am 7.10.1882 trat er als 3jähriger Freiwilliger in die Armee ein und besuchte die Unteroffiziersschule in Biebrich. Am 31.3.1895 wurde er als halbinvalider Feldwebel entlassen. Ihm wurde die Pension eines Feldwebels 5.Klasse mit 15 Mark monatlich zuerkannt.
Durch ihre freiwillige Dienstzeit von zwölf Jahren hatten Soldaten einen gesetzlichen “Anspruch auf einen Zivilversorgungsschein, wenn sie zum Beamten würdig und brauchbar erschienen”. Bei der Einstellung von mittleren und Unterbeamten wurden sie bevorzugt.
Am 8.10.1896 heiratete Otto Landschulz seine Frau Katharina (Käthe) Scheib, Tochter des Bäckermeisters Heinrich Scheib in Sobernheim. Aus der Ehe gingen am 28.8.1897 eine Tochter Erna und am 25.7.1905 ein Sohn Otto Helmuth hervor.
1891 war Landschulz als Soldat nach Köln zum Hohenzollernschen Füsilierregiment Nr.40 versetzt worden. Das Regiment stand 1871-1905 in Köln.
Nach seiner Entlassung lag nah, sich beim Polizeipräsidenten in Köln zu bewerben. Dort wurde er, zunächst von seinem Truppenteil nur abkommandiert, 1894 eingestellt. Zunächst wurde er als Bürohilfsarbeiter beschäftigt. Sein Vorgesetzter bescheinigte ihm geistig recht gute Veranlagung, großen Fleiß, großen Überblick und praktisches Geschick sowie seltene Gewissenhaftigkeit und Pünktlichkeit.
Es waren die damals typischen preußischen Tugenden. Otto war von Kindheit an in ihnen erzogen worden und hatte sie als Feldwebel vervollkommnet. Als die Preußen 1814 die Franzosen aus Köln verjagten und 1815 als Landesherren blieben, prallten zwei Kulturwelten heftig gegeneinander. Viele nach Köln versetzte Preußen erlagen schnell der kölschen Lebensart. Der Kölner Tugendkatalog liest sich spiegelverkehrt zum preußischen: Komm ich heut’ nicht, komm ich morgen. Es ist noch immer alles gut gegangen. Wir kennen uns, und wir helfen uns. Eine Hand wäscht die andere.
Landschulz stieg schnell zum Polizeikommissar und schließlich zum Inspektor auf. Doch Köln wurde ihm zum Verhängnis. Wen Mutter Colonia einmal an ihren Busen drückt, der kommt von ihr nicht mehr los. Es kam das Gerücht auf, im Ring-Café am Hohenzollernring 25 gäbe es anscheinend so etwas wie die gesetzliche Sperrstunde nicht. Die Polizisten drückten offenbar dort immer beide Augen zu. Ihr Vorgesetzter, Inspektor Landschulz, nahm dort regelmäßig ein kostenloses “Inspektoren-Frühstück” ein.
Es kam, wie es kommen mußte: Am 22.7.1914 entließ ihn die Königliche Regierung in Köln aufgrund einer Plenarsitzung aus dem Dienst. Sie wußte genau, daß ein Beamter in Köln besondere Charakterfestigkeit aufweisen mußte. Diese
“besaß der Angeschuldigte offenbar nicht. Nach dem ganzen Eindruck seiner Person fehlt es ihm an Willensstärke. Das Disziplinargericht hat auch seine lange straffreie Dienstzeit in Betracht gezogen, die Versuchungen, denen er in Cöln nun einmal in besonderem Maße ausgesetzt war, vor allem aber seine Krankheit.”
Urteil des Disziplinargerichts von 1914
Noch als ich 1974 und 1975 als Polizeihauptwachtmeister in Köln Streifenwagen gefahren und auch um den Neumarkt gekurvt bin, spekulierte der eine oder andere ältere Kollegen bewußt darauf, beim Betreten eines Ladenlokals nicht bezahlen zu müssen oder Waren billiger zu bekommen. Wenn Inspektor Landschulz eine Wirtschaft betrat, wurde er empfangen und verabschiedet wie ein kleiner König. Der Wirt Peter Josef Früh, Inhaber des Restaurants “Am Hof”, und der Sektvertreter Hobert ließen ihm Hasen zukommen. Der Brauereibesitzer Kommerzienrat Bardenheuer schickte Hasen, Rebhühner und anderes Wild.
Im Café Palant brauchte er nicht zu bezahlen, wenn der Wirt Hünnes anwesend war. Öfters gab es auch von ihm einen Hasen oder zu Weihnachten einen Schinken. Die Liste der Spender war lang, und es entsprach offenbar hergebrachtem Brauch, sich das Wohlwollen der Obrigkeit durch Geschenke zu erkaufen. Üblich waren Präsentkörbchen mit Delikatessen für die höheren Beamten.
“Um die Karnevalszeit herrschte im Gürzenich-Restaurant mittags reges Leben, besonders an den Tagen, wenn der Kartenverkauf für die Gürzenichbälle stattfand. An einem Tische, an dem Wein- und Getränkevertreter verkehrten, fanden sich um die Mittagszeit die Polizeiinspektoren Kautz, Landschulz und Votsch ein. Sie wurden häufig bei opulenten Frühstücken beobachtet, bei denen es Austern, Kaviar und Hummer gab und bessere Weinmarken und Sekt getrunken wurden. Nach Bekundung des Zeugen Müller fiel dies im Publikum allgemein auf und gab Veranlassung zu der Redensart vom ‘Inspektoren-Frühstück’ als dem Gipfelpunkt der Schlemmerei.
Aus demselben Urteil
Welche Gegenleistung von den Inspektoren erwartet oder gewährt wurde, konnte nicht geklärt werden, doch
“alle diese Personen hatten ein mehr oder minder großes Interesse daran, sich mit der Polizei gutzustellen, sei es daß sie polizeilicher Conzessionen bedurften, sei es weil sie infolge besonderer für ihr Gewerbe erlassener polizeilicher Vorschriften häufiger Berührung mit der Polizei ausgesetzt waren.”
Der vom Dienst schon suspendierte Landschulz war unterdessen dauerhaft erkrankt und dienstunfähig, als er entlassen wurde. Tragbar war er nicht mehr. Seine Richter waren immerhin so milde, ihm drei Viertel seines Ruhegehalts zu belassen.
“Das Disziplinargericht ist zu der Überzeugung gelangt, daß der Angeschuldigte sich durch sein Verhalten in allen vorgenannten Fällen in einem solchen Maße gegen seine Amtspflichten vergangen hat, daß seines Bleibens im Amte nicht länger sein kann. Als Polizei-Inspektor war es seine Aufgabe, nicht nur das Verhalten seiner Untergebenen, Kommissare, Schutzleute zu kontrollieren und Verfehlungen ihrerseits zu ahnden oder zur Anzeige zu bringen, sondern mehr noch seinen Untergebenen durch tadellose Haltung in und außer Dienst mit gutem Beispiel voranzugehen. Statt dessen hat er seine einflußreiche Stellung dazu benutzt, sich systematisch, zum Teil von Leuten unter seinem Stande, einladen und beschenken zu lassen.
Von einem derartigen Vorgesetzten kann kein Untergebener, vor einem derartigen Polizeibeamten kann das Publikum keine Achtung haben. Er hat nicht nur sein eigenes Ansehen, sondern auch das der gesamten Königlichen Polizei in Cöln schwer geschädigt.
Ohne jede Unterstützung aber würde auch seine sonst mittellose Familie dem Elend preisgegeben, weshalb ihm ein Teil der Pension, 2859 Mark jährlich, belassen wurde. Diese aber stürzte tatsächlich ins Elend, als Landschulz am 8.6.1916 in der Heil- und Pflegeanstalt Bonn starb.
Seine Witwe und Kinder wohnten jetzt in Köln-Nippes, Krüthstr.26. Die Tochter Erna war 1916 als Postanwärterin 19 Jahre alt. Sie gab ihren Verdienst bei der Mutter ab. Otto junior war 11 Jahre alt und besuchte das Realgymnasium in Nippes. Die Mutter lebte von einer kleinen Ackerwirtschaft und 150 Mark Zinsen jährlich auf eine Kriegsanleihe von nominell 3000 Mark. Sie zahlte 600 Mark jährliche Miete und 144 Mark für ein zusätzliches möbliertes Zimmer. Die Entlassung ihres Mannes war für sie ein Schicksalsschlag, den sie nicht verkraftet hat. 1908 bis 1909 befand sie sich mit zerrütteten Nerven in der Heilanstalt Lindenburg in Köln. Sie schrieb am 20.7.1916:
“In großer Not, von Kummer und Leid gequält, durch drückende Sorgen um meinen und meiner Kinder Unterhalt, sowie um meine und meines jüngsten Kindes Zukunft beängstigt, gestatte ich mir das Nachstehende untertänigst zu unterbreiten.
Mein Mann, der frühere Königliche Polizeiinspektor Otto Landschulz, wurde neben anderen Beamten ein Opfer des unglückseligen Cölner Polizeiprozesses und nach Einleitung des förmlichen Disziplinarverfahrens unter Zubilligung von drei Viertel seiner gesetzlichen Pension, einer Unterstützung von 2859,75 Mark, aus dem Dienst entlassen.
Dieser Schicksalsschlag hat unser bisheriges Familienglück vernichtet; es herrschte seitdem nur Trauer und Elend in unserem Kreise. Von dem Unglück wurde mein Mann ganz besonders schwer betroffen. Wenn auch schon vorher geringere Anzeichen der Arterienverkalkung sich bei ihm bemerkbar machten, so haben doch die großen seelischen Anstrengungen des Prozesses so gesundheitsschädlich auf ihn gewirkt, daß er bald unter Schlaganfällen leiden mußte, denen eine rasch folgende Gehirnerweichung folgte. Sein Zustand verschlimmerte sich schnell, so daß er im Mai d.J. in eine Irrenheilanstalt aufgenommen werden mußte, woselbst nach wenigen Wochen – am 8. Juni 1916 – der Tod seinem Leben ein Ende setzte. […]
Mit ihm ist nicht nur meine letzte Hoffnung auf endliche Linderung unseres Unglücks und Herannahen einer besseren Zeit ins Grab gesunken, sondern ich sehe, wenn mir keine Hilfe gewährt wird, mich mit meinen Kindern Not und Verderben ausgesetzt.
Mein Mann wie auch ich waren ohne jedes Vermögen. Von unseren sauer erworbenen Ersparnissen haben wir den uns noch gebliebenen Rest im Betrag von 3000 Mark, um unserer patriotischen Pflicht zu genügen, in Kriegsanleihen angelegt. Die Zinsen aus dieser Anleihe mit jährlich 150 M und der Verdienst meiner Tochter von täglich 2,75 M, den diese für ihre Tätigkeit bei der Post erhält, sind die einzigen Einnahmen, über die ich bei diesen teuren Zeiten zur Bestreitung unseres Unterhalts verfüge. […]
Mich hält in einer traurigen Stimmung das große und feste Vertrauen auf den Gerechtigkeitssinn der hohen Staatsbehörden und die Hoffnung aufrecht, daß man mich, die an dem schweren, uns getroffenen Schicksalsschlage nicht die allergeringste Schuld trägt, bezüglich Zuwendung einer dauernden Unterstützung nicht ungünstiger behandeln wird wie meinen verstorbenen Mann.
Personalakte Otto Landschulz, Brief der Witwe
Am 31.8.1916 wurde ihr eine fortlaufende Unterstützung von 360 Mark jährlich und für den Sohn bis zum 18.Lebensjahr eine jährliche Erziehungsbeihilfe von 240 Mark bewilligt. Jährlich wurden die finanziellen Verhältnisse durch Fragebögen zum Ausfüllen überprüft. Drei Jahre später, 1919, steige ich sehr nachdenklich wieder in die Zeitmaschine und verlasse die Witwe Landkron.
Oh – Panne! Aus Versehen drehte ich die Zeituhr auf 1963 statt auf 2019 und sehe mich selbst auf dem Neumarkt stehen, wie ich gerade mit einem Beutel Brotkrumen in der Hand die Tauben füttern will. Mein jüngeres Selbst soll mich nicht sehen. Schnell zurück! Jetzt springe ich vorwärts in unser Jahr 2019 und schlendere wieder über den weihnachtlichen Neumarkt, meine Heimat. Hier habe ich schon als kleines Kind gespielt.
“Ach, wat wor dat fröher schön doch in Colonia” singt man hier. Na ja. Im Grund hat sich nicht viel geändert. Ist Köln nicht inzwischen überall in Deutschland? Freilich waltet der Genius loci hier noch unverfälscht. Der Kölner Soziologieprofessor Erwin Scheuch titelte eins seiner Bücher 1992 “Cliquen, Klüngel und Karrieren”. Mit Hasen und Inspektoren-Frühstücken gibt man sich allerdings nicht mehr zufrieden.
Scheuch berichtet von schriftlichen Verträgen einzelner Seilschaften innerhalb der Kölner CDU-Ratsfraktion mit konkurrierenden Seilschaften über die Aufteilung aller erreichbaren Mandate.[1] Konkurrenten werden ausgebootet oder nach Absprache mit lukrativen Posten versorgt, um sie ruhigzustellen.[2] Da ist eine Partei wie die andere. In Köln sind alle kölsch. Die kölsche Mentalität hat den Zusammenprall mit der hundert Jahre regierenden preußischen Obrigkeit ebenso unbeschädigt überstanden wie die Jahre zwischen den Weltkriegen. Bomben und häßlich-modernen Wiederaufbau konnten dem Kölner Lebensgefühl nichts anhaben.
Der Witwe Landschulz ging es finanziell so dreckig, wie es einem Menschen nur gehen kann. Aber Köln heißt nicht bloß, preußische Tugenden nicht ernst zu nehmen, es bedeutet auch: Lachen unter Tränen. Dazu hatten die Kölner oft genug allen Anlaß. Und wenn mich das Schicksal trifft? „Do laach ich do no mih!“ [Da lach ich doch noch mehr]
In Köln ist die Kunst der ironischen Brechung zur Vollkommenheit gelangt. Ehe ich mich vom Schicksal brechen lasse, breche ich es ironisch auf und singe ihm noch ein Spottlied hinterher. Man darf über alles Witze machen, am liebsten über sich selbst. Wer den anderen verspotten kann, ist ihm überlegen. Mutter Colonia hat ihre Kinder mit allem Humor ausgestattet, den man braucht, um nicht einzuknicken und seine Identität zu bewahren. Diese ankert fest in der kölschen Sprache: „Mer han uns Muttersproch noch nit verlore, dat es jet, wo mer stolz drop sin!“ (Will Ostermann).
In Köln am Rhing bin ich gebore,
ich han – un dat litt mir im Senn –
ming Muttersproch noch nit verlore,
dat eß jet, wo ich stolz drop ben.Wenn ich su an ming Heimat denke
Willy Ostermann
un sinn d’r Dom su vür mer stonn,
mööch ich direck op heim an schwenke,
ich mööch zo Foß noh Kölle jon.
Bisher vermochte die tief verwurzelte Kölner Identität alles Fremde in sich einzuschmelzen – nicht zuletzt den preußischen Inspektor Landschulz. Wie lange ihr das noch gelingt, hängt davon ab, ob die Kölschen kölsch bleiben oder sich anderen Lebensstilen ergeben wollen. Nur hundert Jahre war ich heute zurückgereist, doch „in 1900 Jahren leben andere Leute:
Nüngzehnhundert Johr steiht uns Kölle am Rhing.
Toni Steingass
Nüngzehnhundert Johr sin mer jeck he am Rhing.
Laache, bütze, danze, springe dun mer jo hück.
Noch ens hundert Johr levven andere Lück.
Nüngzehnhundert Johr lääv dr Tünnes un dr Schääl.
Nüngzehnhundert Johr wehs do nit, leeve Kääl.
Stell die Flesch op d´r Desch,
noch han mer jet en d´r Täsch.
Dobei d´r kölsche Klaaf.
Alaaf! Alaaf! Alaaf!
[1] Scheuch, Cliquen, S.82 ff.
[2] Anonymus, in: Zeitschrift für Rechtspolitik, 1988, S.62 (65).
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