Alle sind sich einig: Die anderen sind nicht mehr recht bei Verstand! Auf beiden Seiten des verbissenen Grabenkampfes denkt man über die unvernünftige andere Seite so. Gespräche finden nicht mehr statt. Es regieren vielfach Unverständnis und Haß.

Rechte zweifeln am Verstand Linker, immer mehr Ausländer ins Land zu lassen. Für Linke sind Rechte im Zweifel unverständige Populisten.

Vernunft? Ja, die Vernunft wähnt jeder auf seiner eigenen Seite, und nur auf ihr. Außer im eigenen Lager herrschen scheinbar nur Dummheit und Irrationalismus.

Tatsächlich aber bedienen sich allerdings beide Seiten ihres Verstandes. Nur ein unvernünftiger Glaube an die eigene Rationalität spricht dem Gegner dieselbe Rationalität ab. Allerdings beruhen die – formal rationalen – Handlungen jeder Seite auf ganz verschiedenen inhaltlichen Prämissen.

Es ist – formal – durchaus rationales Handeln, wenn jemand, seinem Seelenheil zuliebe, im Kölner Dom der Jungfrau Maria eine Kerze anzündet: Erfolg wird seine zielgerichtete Handlung aber nur haben, wenn es diese Jungfrau im Himmel wirklich gibt, wenn sie ihn bemerkt, sich über die Kerze freut und beim Lieben Gott für ihn bittet. Treffen diese Voraussetzungen nicht zu, wird sich wohl kein Erfolg einstellen. Das Rationale am Handeln des Gläubigen besteht trotzdem darin, daß er eine Ursache für sein Ziel setzen will, als frommer Mensch in den Himmel zu kommen, wozu er jede Unterstützung brauchen kann. Keinesfalls handelt er irrational. Ob ein Handeln inhaltlich zweckmäßig ist, erfordert ganz andere Überlegungen als bloß formal rationale. Es erfordert zusätzlich eine zutreffende Lageanalyse.

Um das Verhalten der Anderen auf der anderen Seite des Grabens verstehen zu können, muß jeder einen Perspektivenwechsel vornehmen und die Lage – in Gedanken – aus dessen Sicht betrachten. Wenn verschiedene vernünftige Leute etwas ganz Konträres jeweils für vernünftig halten, liegt das an unterschiedlicher Lageanalyse.

Die Rationalisierung des Fremdverhaltens für die Zwecke des wissenschaftlichen Beobachters (aber auch des Akteurs) erstreckt sich auch auf (scheinbar) irrationales Verhalten, da sich dieses oft als rationale, das heißt am konsistenten Zweck-Mittel-Schema orientierte Aktion auf der Basis einer falschen oder gar frei erfundenen Situationsinterpretation enthüllt; Ignoranz, Dummheit oder praktisches Ungeschick stellen also nicht notwendig das Rationalitätsprinzip auf den Kopf.

Panajotis Kondylis, das Politische und der Mensch, 1999, S.578.

So lachen wir heute über die dummen Trojaner. Sie zogen das Holzpferd selbst in die Stadt. Die Toren interpretierten die Situation so, es ihren Göttern opfern zu müssen und ihnen dieses Opfer schuldig zu sein.

Doch saßen die andern um den Odysseus
Mitten im Markte der Troer, im hölzernen Pferde verborgen.
Denn die Troer hatten es selbst in die Feste gezogen.
Also stund’s. Sie saßen im Kreis, Verworrnes redend
Über das hölzerne Pferd; und dreifach schwankte die Meinung.
Einige sagten, man solle das Holz mit dem Beile zersplittern,
Andre, man sollt es drunten am Fels der Feste zerschmettern,
Andre, es wär ein zaubrisch Werk und große Versöhnung wegen der Götter: so blieb es denn stehn, und es kam, wie es sollte.
Schicksal war’s: es mußte die Stadt zu Falle gelangen,
Wenn sie das Pferd mit den Mauern umschloß, das im hölzernen Bauche
Griechische Helden verbarg, den Troern zu Mord und Verderben.

Homer, Odyssee, 8. Gesang, Zeile 502-513.

Waren wir Deutsche 2015 selbst auch töricht? Was dachte sich unsere Regierung dabei? Dachte sie überhaupt dabei?

Angela Merkel hielt es 2015 zweifellos für vernünftig, Deutschlands Grenzen zu öffnen. Ihr rationales Kalkül abzusprechen wäre genauso töricht, wie es von Naivität der anderen Seite zeugt, Kritikern der Masseneinwanderung die Rationalität abzusprechen.

Politisches Denken muß sich darin bewähren, die – aus jeweiliger Sicht – gegnerischen letzten Absichten richtig zu erfassen, also einen Perspektivenwechsel vorzunehmen, um das Handeln des Kontrahenten zu begreifen. Erst dann kann man es bekämpfen.

Dabei sind nach außen getragene Scheinrationalisierungen keineswegs zwangsläufig die wirklichen Beweggründe menschlichen Handelns. Hinter vielem frommen Anschein steckt schlauer Eigennutz. Daß eine gewiefte Machtpolitikerin wie Merkel 2015 die Grenzen wirklich aus irgendwelchen emotionalen oder moralischen Gründen geöffnet hat, klingt nach einer nachträglich entstandenen Legende. Früher wurden aus solchen Taten Heiligenlegenden gestrickt. Handelte die kalte Machpolitikerin – aus moralischen Gründen? Wenn nicht: Welche mögen Merkels dahinter liegende, wirkliche Gründe gewesen sein?

Das Trojanische Pferd ist bis heute in lebendiger Erinnerung und wirkt als politische Metapher fort
[Türkische Karikatur: https://stratejikistihbarat.wordpress.com/2015/06/28/mizah-ak-parti-truva-ati-mi/, von etwaigen Wortinhalten jener Seite distanziere ich mich vorsichtshalber, weil ich die Fremdsprache nicht verstehe.]

Wollte sie tatsächlich von einer Kanzlerin aufsteigen zur Erzkanzlerin einer angeblichen humanitären Moral? Zweifellos stand sie in Deutschland publizistisch unter höchstem Moraldruck. Während Politikern in Ungarn öffentlicher Beifall sicher ist, wenn sie die Landesgrenzen schützen, mochte Merkel sich den moralischen Aufschrei vorgestellt haben, wenn ganze Völkerschaften sich im Regen an Deutschlands Grenzen gedrängelt hätten und nicht hereingelassen worden wären. Für Merkel war es nicht erforderlich, die moralisch

guten Eigenschaften wirklich zu besitzen, wohl aber, den Anschein zu erwecken, sie zu besitzen. […] So mußt du milde, treu, menschlich, aufrichtig und fromm scheinen und es auch sein. Aber du muß geistig darauf vorbereitet sein, dies alles, sobald man es nicht mehr sein darf, in sein Gegenteil verkehren zu können. […]

Ein Fürst muß also sehr darauf achten, daß nie ein Wort über seine Lippen kommt, das nicht von den vorgenannten fünf Eigenschaften geprägt ist, und daß er, wenn man ihn sieht und hört, ganz von Milde, Treue, Aufrichtigkeit, Menschlichkeit und Frömmigkeit erfüllt seint. Und es gibt keine Eigenschaft, deren Besitz vorzutäuschen notwendiger ist als die Letztgenannte.

Niccolò Machiavelli, Il Principe, Reclam 1986, XVIII (S.139).

Die nüchterne Vernunft und die richtige Strategie zu ihrem persönlichen Machterhalt haben ihr bisher Recht gegeben.