Nationalismus stand immer in schlechtem Ruf. Es weiß auch niemand genau, was er eigentlich ist. Darum eignet er sich für Ideologien verschiedener Art vorzüglich als Projektionsfläche zur Feindbestimmung. Über eigene inhaltliche Leere kommt man leichter hinweg, wenn man einen Feind in kräftigen Farben an die Wand malen und rufen kann: „Ich bin das genaue Gegenteil von dem da!“
Leider ist „der da“, der historisch real existierende Nationalismus, ein äußerst schlüpfriges Phänomen und darum schwer zu greifen.
Nationalismus im 17. bis 19. Jahrhundert
Der Begriff entstand an europäischen Universitäten des 18. Jahrhunderts. Er bezeichnete ein noch älteres Phänomen: Zum Beispiel in Norditalien teilte sich die Studentenschaft in „Nationes“. Es organisierten sich die ausländische Studenten selbstverwaltend je nach Herkunftsstaat. Die Sitte bürgerte sich auch in Deutschland ein. Man trug die Farben seiner Herkunft als Band oder Kokarde und hielt zusammen.
1760 schrieb das Reale Staats=Zeitungs= und Conversationslexikon von Johann Hübner und Gottlieb Schumann, Leipzig, in Spalte 1361:
Der Nationalismus an den deutschen Universitäten bedeutete also die nationale Herkunft eines Studenten im Sinne seines Heimat-Territoriums, Königreichs oder Fürstentums. Er bezog sich noch nicht auf die Zugehörigkeit zur deutschen Nation. In Göttingen wie auch anderswo war er behördlich unbeliebt wegen exzessiver Pflege alter Bierbrauchtümer. Die Unversitätsstatuten von 1763 verboten in rundweg:
Dieser, auf landsmannschaftliche Herkunft bezogene Nationalismus wurde in Deutschland nach dem Befreiungskrieg unmodern. Die aus den „Nationes“ hervorgegangenen Studentenverbindungen, inzwischen hießen sie Landsmannschaften, sollten durch eine allgemeine deutsche Burschenschaft ersetzt werden. Diese trug die Farben schwarz-rot-gold statt der bisherigen Farben der einzelnen Herkunftsterritorien.
Der Begriff des Nationalismus war noch nicht als politischer Begriff geboren. Ihn brauchte niemand, um sich von irgend jemandem abzugrenzen. Ganz Europa war beherrscht von teils miteinander wetteifernden Nationen. Zwischen ihren Herrschern und den Völkern gab es gar keine Meinungsverschiedenheit darüber, daß für jeden das eigene Land an erster Stelle und später vielleicht alle anderen kommen sollten. Es gab auch noch keine politische Ideologie, die sich explizit auf Kosmopolitismus stützte. Ein spürbarer Patriotismus bildete die allgemeine emotionale Haltung in Europa.
Am 8.1.1839 sprach der Freiherr Heinrich von Gagern auf der 10. Sitzung der Landstände in Darmstadt. Er begründete seinen Antrag auf Änderung der Gießener Universitätsmatrikel, auf die jeder Student schwören mußte:
„Das allein kommt in Betrachtung, was es heutzutage vernünftig heißen kann, was heutzutage unter uns Nationalität – und ohne Unterschied auch Nationalism sagen, bedeuten und fühlen lassen; Dinge, die wir mit der Muttermilch einsaugen, nimmermehr verleugnen, verzwrren und abschwören sollen.“
Heinrich von Gagern, in: Verhandlungen der 1. Kammer der Landstände des Großherzogthums Hessen im Jahre 1838/39, Darmstadt 1839, S.44.
Der Freiherr von Arens verteidigte das geltende Verbot der Burschenschaften, die
„den Begriff natio (Landsmannschaft) in einem weiteren, auf ein ganzes Volk bezogenen Sinne nehmen und zur Anwendung bringen. Solche Verbindungen fallen daher eben so gut, wie die übrigen, unter den Begriff von Nationalismus, und sie sind, gleich diesen, durch die bekannten Bundestagsbeschlüsse, so wie durch unsere Landesgesetze, verboten. […]
Auf Universitäten ist das Wort Nationalismus niemals anders, als bloß mit Bezug auf Verbindungen der Studierenden nach Nationen, das heißt nach Völkern und Volksstämmen, gebraucht und verstanden worden.“
Franz Joseph Freiherr von Arens, a.a.O. S.48.
Nietzsche und der Nationalismus
Ein halbes Jahrhundert später waren die verboten gewesenen Burschenschafter angesehene Leute wie zum Beispiel Heinrich von Gagern, der 1848 Präsident der Frankfurter Nationalversammlung wurde. Die nationalen Forderungen der Burschenschaft fanden 1871 mit der Reichsgründung teilweise Erfüllung.
1878 sah Friedrich Nietzsche aber eine Schwächung und schließliche Vernichtung der europäischen Nationen kommen durch Handel und Industrie, das Tempo der Kommunikation, das schnelle Wechseln von Ort zu Ort und „das jetzige Nomadenleben aller Nicht-Landbesitzer,“
„so daß aus ihnen allen, infolge fortwährender Kreuzungen, eine Mischrasse, die des europäischen Menschen, entstehen muß. Diesem Ziele wirkt jetzt bewußt oder unbewußt die Abschließung der Nationen durch Erzeugung nationaler Feindseligkeiten entgegen, aber langsam geht der Gang jener Mischung dennoch vorwärts, trotz jener zeitweiligen Gegenströmungen: dieser künstliche Nationalismus ist übrigens so gefährlich wie der künstliche Katholicismus es gewesen ist, denn er ist in seinem Wesen ein gewaltsamer Not- und Belagerungszustand, welcher von Wenigen über Viele verhängt ist, und braucht List, Lüge und Gewalt, um sich in Ansehen zu halten. Nicht das Interesse der Vielen (der Völker), wie man wohl sagt, sondern vor Allem das Interesse bestimmter Fürstendynastien, sodann das bestimmter Klassen des Handels und der Gesellschaft, treibt zu diesem Nationalismus.
Friedrich Nietzsche, Menschliches und Allzumenschliches, Chemnitz 1878, S.321, Aph. 475.
Der Philosoph nimmt hier den Begriff des Nationalismus bereits als Ideologie, als „künstlich“, von Wenigen über die Vielen verhängt im Interesse bestimmter Interessengruppen.
Nationalismus – Internationalismus
1897 sieht der jüdische Staatsrechtler Ludwig Gumplowicz im Nationalismus
eine gewisse Gemeinsamkeit des territorialen Interesses oder eigentlich des gemeinsamen Interesses am Territorium, welches durch natürliche Anhänglichkeit des primitiven Menschen an seine Geburts- und Wohnstätte gehoben und gefestigt wird.
Dieses letztere Gefühl ist auf primitiver Kulturstufe bei vielen Menschenarten so allgemein und so naturkräftig, daß es auch in dem Falle einer Eroberung der ursprünglichen Ansiedlung durch eine fremde Horde und der dadurch begründeten Herrschaftsorganisation, um die zwei oder auch mehreren heterogenen Gruppen, um die Herrschenden und Beherrschten, trotz allen inneren Interessengegensatzes ein, wenn auch schwaches Band gemeinsamen Interesses knüpft. Der auf Grundlage des einheitlichen Territoriums entstandene und sich entwickelnde gemeinsame Nationalismus stellt eine höhere Stufe sozialer Entwicklung dar im Vergleiche zu dem Syngenismus, welcher je die einzelnen Gruppen verbindet — und schlingt um die heterogenen syngenetischen Gruppen ein höheres einigendes Band.
Ludwig Gumplowicz, Staatsrecht, Band 1, 1897, S.155 f.
Ebenfalls kurz vor Beginn des 20. Jahrhunderts wird der Begriff Nationalismus als Gegensatz zum (sozialistischen) Internationalismus verwendet und von Sozialisten wie Kautsky als Negativfolie ihrer eigenen Ideologie benutzt:
„Der kapitalistisch denkenden Nationalist mag erklären: wright or wrong, my country – ob es recht oder unrecht tut, ich stehe stehts auf der Seite meines Vaterlandes. Der Sozialdemokrat muß Intelligenz und Mut genug haben, es erkennen zu können, wenn das Sonderinteresse einer Nation, und wäre es auch seine eigene, dem Emanzipationskampf des Proletariats in den Weg tritt, und dementsprechend zu handeln.
Karl Kautsky, Die Neue Zeit, Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie, 23. Jahrgang, 2. Band, 1905, S.348.
Da die linke Ideologie auf gemeinsame Interessen des internationalen Proletariats setzte, bildete die Idee gemeinsamer Interessen einer Nation das kontradiktorische Gegenteil des eigenen Wollens. Daran sollte sich für die nächsten 100 Jahre nichts ändern, bis schließlich proletarischer Internationalismus für sozialistische Intellektuelle kein maßgeblicher Bezugsrahmen mehr war.
Intermezzo
Keine Form von Sozialismus kann zugleich Nationalismus sein. Entweder man nimmt das eigene Volk, die konkret existierende Nation als höchsten Wert seines Handelns, oder man fordert als höchsten Wert sozialistische Gleichheit. Beides kann man zwar sprachlich vermengen und begriffliche Chimären bilden.
Einer der Begriffe muß aber sprachlich und logisch immer führen und das ausschlaggebende Gestaltungsprinzip sein. Darum ist und bleibt ein nationaler Sozialismus primär ein Sozialismus, ebenso wie ein demokratischer Sozialismus eben Sozialismus ist und nicht etwa Demokratie. Wer dem Substantiv Sozialismus ein Adjektiv vorschaltet, welches auch immer, ändert nicht den grundlegenden Charakter des Systems.
Darum war der demokratische Sozialismus der DDR nie eine Demokratie, sondern eine sozialistische Parteidiktatur, und darum war der Nationalsozialismus nie ein Nationalismus, sondern ein auf der Vorstellung gemeinsamer Rasse fußender Sozialismus einer Volksgemeinschaft, die tendenziell alle Menschen germanischer Abstammung zu einem supranationalen, großgermanischen Reich zusammenschließen wollte.
Deutscher Nationalismus
Im Deutschland des 20. Jahrhunderts gab es viele ideologische Strömungen, deren Ausgangspunkt und Grundüberzeugung im Primat der Nation bestanden. Sie waren aber so vielfältig, daß der Begriff des Nationalismus nie taugte und auch kaum verwendet wurde, sie alle zu bezeichnen.
Nicht nur die gesamte politische Rechte war patriotisch, patriotisch waren auch liberale Kräfte, christlich-konservative wie die Zentrumspartei und Teile der Sozialdemokratie. Wir müssen jetzt begrifflich differenzieren:
Die Vaterlandsliebe (Patriotismus) vereinte ursprünglich fast das gesamte politische Spektrum. Sie war aber nur unverbindliche Liebe, also ein Gefühl, aus dem konkret nichts politisch Gestaltendes folgte. Typisch für den sich selbst genügenden Patriotismus war, daß sich die Patrioten verschiedener Länder 1914-1918 einen vernichtenden Krieg liefern konnten.
Unter Chauvinusmus versteht man eine übertriebene Vaterlandsliebe, die anderen Nationen den Wert abspricht. Der Begriff soll auf einen sprichwörtlichen Soldaten Napoleons zurückgehen, dessen reale Existenz schon im 19. Jahrhundert bestritten wurde.
In seiner Abwehr sowjetischer Unterdrückung nahm die Vaterlandsliebe kleiner Völker wie der Esten, Letten und Litauer funktional die Form eines Befreiungsnationalismus an: Das zähe Festhalten an der eigenen nationalen Identität führte endlich zur Befreiung von der sowjetischen Kolonialherrschaft.
Er ist die Antwort auf das herrschende politische System und, im Selbstverständnis der Opposition bei den Nichtrussen, dessen Alternative, in seinem Ursprung eine geistig-moralische Bewegung, gerichtet auf Behauptung des Menschen in seinen geschichtlichen Ordnungen. […]
Nichtrussische Nationalisten wie russische Neoslawophileb stellen fest, daß sich das Vielvölkerreich in einem vorrevolutionären Stadium befindet, daß die Idee der Revolution breite Kreise erfaßt hat und daß die Selbständigkeitsbestrebungen innerhalb der antikolonialistischen Grundströmung bei den nichtrussischen Völkern das Imperialfundament erschüttern.
Wolfgang Strauß (1931-2014), Nation oder Klasse, München 1978, S.33.
Wie richtig diese Analyse von 1978 war, zeigte die Realgeschichte wenige Jahre später. Verallgemeinernd läßt sich jedem Nationalismus eine befreiende Funktion überall dort zumessen, wo Völker mitsamt ihrem spezifischen Volkstum unterdrückt werden. Das ist weltweit bis heute vielerorts der Fall, zum Beispiel in China gegenüber den Uiguren oder den Tibetern.
Ein allgemeiner, als universelles Gestaltungsprinzip gemeinter Nationalismus knüpft an das Bedürfnis jedes Menschen an, individuell und kollektiv entsprechend der eigenen Identität leben zu dürfen. Er fordert darum im Einklang mit dem internationalen Völkerrecht, daß jede Nation selbstbestimmt über ihre kollektives Schicksal entscheiden dürfen und können soll.
Während dem schlichten Patriotismus das Schicksal anderer Völker gleichgültig sein kann, fordert der Nationalist die globale Durchsetzung seines Gestaltungsprinzips. Dieses gründet auf der faktischen Existenz unterschiedlicher Völker und leitet daraus die Forderung ab, diese Existenz zu schützen. Typisch für den Nationalismus ist, daß Nationalisten verschiedener europäischer Länder einander heute nahestehen, sich respektieren und unterstützen. So wird ein deutscher Nationalist heute einen französischen Nationalisten als Verbündeten gegen den Kosmopolitismus betrachten, einen deutschen Kosmopoliten aber gering achten.
Empirie und Ideologie
Die Existenz der Völker und Nationen ist eine empirische Tatsache; sie zu schützen eine Ideologie. Die Gegner dieser Ideologie spiegeln sie und machen aus dem Wertbegriff der Nation einen Unwert. Diesen suchen sie aus der Welt zu schaffen, indem sie die faktische Gliederung der Menschen in Nationen zerstören wollen:
„Viele glauben, es sei im Kampf gegen den völkischen Nationalismus und Rassismus der beste Weg, die Begriffe „Volk“ und „Rasse“ theoretisch zu dekonstruieren. Ich glaube, es ist noch wirkungsvoller, Volk und Rasse praktisch durch eine fröhliche Völkermischung aufzulösen. Jene „liebevolle Verschmelzung der Nationen“, von der schon der Philosoph Friedrich Schlegel träumte, vollzieht sich von ganz allein, wenn die Staaten nicht mit Verboten dazwischenhauen. Sie wird in Deutschland von den Völkischen zur Zeit besonders gerne als „Volkstod“ bezeichnet. Der „Volkstod“ ist der ewige Alptraum der Rassisten – sehen wir zu, dass dieser Traum wahr wird! Machen wir alle Grenzen durchlässig, sodass die Kinderlein zu- und miteinander kommen können! Jene „durchmischte und durchrasste Gesellschaft“, die den jungen Edmund Stoiber in Angst und Schrecken versetzte, die brauchen wir!
Michael Bittner, Es lebe der Volkstod! 12.3.2015
Dieser Standpunkt ist allerdings in sich widersprüchlich. Einerseits stimmt er zu, den Begriff des Volkes sprachlich zu dekonstruieren. Das beinhaltet den Nachweis, es gebe gar kein Volk, weil das Wort nur ein durch Konventionen und sprachliche Konstruktion gebildeter Kunstbegriff sei. Wenn es aber ein Volk in Wirklichkeit nicht geben soll: Was will Bittner dann noch durch Vermischung auflösen?
Und wer garantiert dafür, daß nicht alles, was Bittner am Phänomen Volk so haßt, mitsamt einem neuen Nationalismus sofort wieder neu entstehen wird, wenn es keine Deutschen mehr gibt? Es gibt zur Zeit auf der Welt kaum ein Volk und ein Land, in dem der Begriff der Nation so geringe Konjunktur hat wie in Deutschland. Würden wir als Volk abtreten und anderen Menschen Raum geben, spräche nichts dafür, daß diese nicht ihre kollektiven Interessen und eine Art neuer kollektiver Identität wieder in Form eines, wie auch immer begründeten, Nationalismus artikulieren würden.
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