Der Geldbeutel Christi

Im 14. Jahrhundert hatte man Häretiker in letzter Konsequenz verbrannt. Bei oberflächlicher Betrachtung hatte man auf Lateinisch um theologische Feinheiten gestritten, die außerhalb gelehrter Zirkel kein Mensch verstand. Besaß Jesus einen Geldbeutel?

Unter der Tünche scheinbar unsinniger Spekulationen tobte aber ein erbitterter Machtkampf: Die Kontrahenten führten theologische  Argumente wie Degen gegeneinander. Ihre Motive und Gruppeninteressen waren aber höchst weltlich.

Wer nach päpstlichem Machtspruch unterlag, galt als Häretiker. Die Häretiker unserer Zeit nennt man Verfassungsfeinde. Die gelehrten Abhandlungen des Bundesverfassungsgerichts sagen dem Fachmann, warum sie das sind. Für Laien sind sie ebenso verständlich wie päpstliche Bullen des Mittelalters, in denen der rechte Glaube von der Irrlehre unterschieden wurde.

Der Verfassungsfeind unserer Tage ist ein Symptom gesellschaftlicher Konflikte ebenso wie es der Häretiker des 14. Jahrhunderts war. Damals hatte sich die Bevölkerung stark vermehrt. Tausende bettelarmer Entwurzelter, Ausgestoßener und Heimatloser zogen als Vaganten durch Europa. Zwischen ihnen und den Etablierten bestand, ökonomisch und sozial, ein objektiver Konflikt der Interessen. Die gleiche Konfliktlage besteht heute zwischen den eingesessenen Deutschen und Millionen bettelarmer Heimatloser, die auch gern hier leben würden.

Vor dem Hintergrund krasser Wohlstandsunterschiede predigte der Mönch Giovanni Bernardone alias Franziskus aus Assisi (1181-1226), Jesus sei arm gewesen, und nur ein Leben in Armut sei gottgefällig. Wenn die ihm nachfolgenden Franziskanermönche vor verarmten Menschen predigten, spitzten diese die Ohren und dachten an Reichtum und Prunk der Kirche. Viele rotteten sich zusammen und zogen mordend und plündernd durch Italien.

Sie nahmen Predigten begierig auf, alles würde vor Gott allen gehören. Während gelehrte Franziskaner mit päpstlich Gesinnten debattierten, ob Jesus einen Geldbeutel gehabt habe und wem seine Sandalen gehörten, entlud sich der Interessenkonflikt im Namen des armen Jesus blutig, bis die Fratizellen, Dolzinianer und wie sie alle hießen in einem Kreuzzug umgebracht wurden.

Franziskaner streiten sich bis auf Blut mit der päpstlichen Gesandtschaft, ob Jesus einen Geldbeutel hatte. Der Regisseur hat auch die Armut der einen und den Prunk der anderen einprägsam in Szene gesetzt. Gleich werden sie unter wüsten Beschimpfungen aufeinander losgehen.
(Kinofilm „Der Name der Rose“ nach Umberto Eco, Szenenbild)

Der berühmte Mediävist Umberto Eco war Fachmann für diese Epoche und hat sie uns als begnadeter Romanschreiber nahegebracht. Der theologische Konflikt hätte niemanden interessiert, hätten sich nicht reale Interessen mit der einen oder anderen Seite verbunden: Die reichen Benediktinerklöster, Kaufleute und Grundbesitzer mit der Romkirche an der Spitze fühlten sich 1327 in ihrer finanziellen Existenz bedroht. Die aber vom Wohlstand ausgeschlossen waren, fanden sehr inspirierend, Jesus und seine Jünger hätten Reichtum für gottlos gehalten.

Auch den Ausgeschlossenen ging es, verblendet durch ihren Ausschluß, in Wahrheit nicht um irgendeine Lehre. Zu glauben, jemand sei wirklich an ihrer Lehre interessiert, ist die Illusion aller Häresien. Jeder ist ketzerisch, jeder ist rechtgläubig. Nicht nur um den Glauben geht es, den eine Bewegung anbietet, sondern allein um die Hoffnung, die sie weckt. Jede häretische Lehre ist stets nur das Banner, die Kampfparole einer Revolte gegen realen Ausschluß.

Umberto Eco, Der Name der Rose, S.264.

Heute ist an die Stelle theologischen Streits um Attribute der Göttlichkeit Jesu der philosophische Streit darum entbrannt, wie der metaphysische Begriff der Menschenwürde auszulegen sei. Und wieder steckt hinter der Glaubensfrage nach der Menschenwürde ein Konflikt von Gruppeninteressen.

Einzelinteresse vor Gruppeninteresse

Das BVerfG hat die NPD für verfassungsfeindlich erklärt. Die von ihr für sich reklamierte Weltanschaung mache die Würde der Einzelperson von der Schicksalsgemeinschaft des Volkes abhängig. Sie ordnet sie dieser unter, wohingegen das Grundgesetz das Volk dem Einzelnen unterordnet:

(1) (a) So formuliert der Bundesschulungsleiter der JN D. in einem Artikel auf der Homepage der JN (www.aktion-widerstand.de) am 13. Januar 2011:
„Die Gemeinschaft steht hier an oberster Stelle. […] Unsere Weltanschauung stellt das Volk in den Mittelpunkt allen Seins. Dieses Volk wird durch den Nationalstaat geschützt und begründet seine Kraft durch das Zusammenleben der darin lebenden Persönlichkeiten. […] Das Volk dagegen ist eine Schicksalsgemeinschaft, da wir schicksalhaft in dieses hineingeboren werden. Wir haben jedoch soweit Entscheidungsmacht über unser Schicksal, daß wir wählen können, ob wir Dienst an unserer Schicksalsgemeinschaft tun oder nicht.“

BVerfG, Urteil vom 17. Januar 2017 – 2 BvB 1/13 –, BVerfGE 144, 20-369, Rn. 661

Was man als quasireligiöse Quisquilie abtun könnte, hat aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts aber Konsequenzen. Diese ergeben sich im Umgang mit konkreten Menschengruppen:

b) Die Unvereinbarkeit der von der Antragsgegnerin verfolgten Ziele mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG wird auch durch ihr zurechenbare Publikationen und Äußerungen führender Funktionäre bestätigt. Dabei wird deutlich, dass die Formulierungen des Parteiprogramms die von der Antragsgegnerin verfolgten Ziele nur zurückhaltend beschreiben beziehungsweise kaschieren. Das von ihr vertretene Konzept ethnischer Definition der „Volksgemeinschaft“ (aa) hat das Bekenntnis zum Vorrang dieser Gemeinschaft als obersten Wert und die rassistische Ausgrenzung aller ethnisch Nichtdeutschen zur Folge (bb). Gleichzeitig beinhaltet die Programmatik der Antragsgegnerin auch das Ziel einer Rückführung eingebürgerter Deutscher mit Migrationshintergrund in ihre Herkunftsländer (cc).

BVerfG, Urteil vom 17. Januar 2017 – 2 BvB 1/13 –, BVerfGE 144, 20-369, Rn. 653

Nun ist die Frage, wie ein Volk mit Menschengruppen umgehen möchte, die künftig auch dazugehören möchten, in ihren Konsequenzen eine politische Frage. Wie alle politischen Fragen läßt sie sich auch auf kollektive Interessen der beteiligten Gruppen zurückführen. Diese Interessen können ökonomischer, kultureller oder auch anderer Art sein.

Nur die Hoffnung zählt

Es entspricht einer soziologischen Gesetzmäßigkeit, daß Gegner sich Fahnen, Parolen und Ideologien zulegen, mit denen sie den „Feind“ argumentativ zu treffen suchen. Es ist dann eine Frage der Machtgewinnung, wer der Häretiker ist und zu „brennen“ hat und wer den „rechten Glauben“ bewahrt. Die eigene ideologische Position entwickelt sich im geistigen Grabenkampf immer in Hinblick auf die des ideologischen „Feindes“, die es zu widerlegen gilt.

Im allgemeinen gilt, daß jede theoretische Position als Gegenposition entsteht. Falsch ist, was der Feind behauptet, was in der Entscheidung des Feindes als Wahrheit fungiert; die eigene Wahrheit muß sich auf Entscheidung und Identität des Feindes destruktiv auswirken. So geht die existenzielle Feindschaftsfrage der theoretischen Wahrheitsfrage voraus.

Panajotis Kondylis, Macht und Entscheidung, S.96.

Ohne existenziellen Interessenkonflikt zwischen Arm und Reich im Italien des 14. Jahrhunderts und ohne einen solchen Konflikt zwischen der indigenen Bevölkerung Deutschlands und Zuwanderern könnte sich der theoretische Konflikt niemals bis hin zu Verketzerungen und offenen Feindseligkeiten entwickeln. Noch deutlicher erkennen wir, wie sehr die LBTG-Bewegung (Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender) in den USA entstand und Erfolge hatte, wo ihre Anhänger sich tatsächlich aus „Ausgestoßenen“ am Rande der etablierten Gesellschaft rekrutierte.

Wie bei den Armen im Italien des 14. Jahrhunderts ist es für geistig oft dürftig Ausgestattete von minderem Interesse, wie stichhaltig ein theologisches Argument vom fehlenden Geldbeutel Christi oder wie hanebüchen die Behauptungen sind, geschlechtliche Identität sei eine Konstruktion oder überall gebe es strukturellen weißen Rassismus. Es kommt, wie Umberto Eco erkannte, nur auf die Hoffnungen an, die geweckt werden.

Philosophie mit Gewaltmonopol

Die religiösen Quisquilien des 14. Jahrhunderts um die Armut Christi wie auch die feinsinnigen philosophischen Erläuterungen des Bundesverfassungsgerichts um die Deutung des Begriffs Menschenwürde wären nur für intellektuelle Feinschmecker interessant, stünde hinter ihnen keine reale politische Durchsetzungsmacht.

Hinter jeder philosophischen, religiösen oder ideologischen Streitfrage der letzten tausend Jahre verbargen sich konkrete Machtinteressen. Jede weltliche Macht wird „im Namen“ irgendeiner transzendenten „höheren“ Macht ausgeübt. Die politische Macht besitzt, wer verbindlich bestimmt, was diese höhere Macht uns sagt und wie ihre Worte auszulegen sind.

In der Rolle der höheren Macht herrschte im Mittelalter unangefochten Gott in seiner Würde, und in der Unfehlbarkeit des jeweiligen Papstes konkretisierte sich dessen angeblicher Wille. Seit der Renaissance trat nach und nach „der gottesebenbildliche Mensch“ an die Stelle Gottes. Daraus folgte in letzter Konsequenz, „dem Menschen“ das vormals göttliche Attribut der „Würde“ zuzumessen. „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe“ (Carl Schmitt, Politische Theologie). Udo Di Fabio, 1999-2011 Richter am Bundesverfassungsgericht, identifizierte als materiellen Kern dieser Idee und Sinn des Begriffs „Würde des Menschen“ die säkularisierte christliche Vorstellung von der Gottesebenbildlichkeit jedes Menschen.[1]

Udo di Fabio, Die Kultur der Freiheit.

Der Glaube an einen persönlichen Gott hat hier im Abendland das Feld geräumt und einem Glauben an den Menschen Platz gemacht. Die alte Gottesfurcht verwandelte sich in einen Humanismus. Er lehrt, was „humanes“, also menschliches Handeln fordert und was mit dem geschieht, der nicht „human“ denkt.

Darum werden die Geldbörse Christi und die Gottesebenbildlichkeit des Menschen solange politische Relevanz bewahren, wie ihnen nicht andere Requisiten im Namen anderer, künftiger Konfliktlinien den Rang ablaufen. Ob die Jungfrau Maria ein Kopftuch trug, wäre da meine erste Wahl.


[1] Udo di Fabio, Die Kultur der Freiheit, 2005, S.114, ebenso Matthias Herdegen, in: Maunz-Dürig-Herzog, Kommentar zum Grundgesetz, Lieferung 44, 2005, Kommentar zu Art. 1 I GG, Art. 1 I GG Rdn.7.

[2] Di Fabio a.a.O., S.98.