Projekt der Moderne
Der moderne Mensch versucht verzweifelt, aber erfolglos, seinem Schicksal zu entrinnen. Man kann das geistige Projekt der Moderne geradezu als den Versuch verstehen, alle Schicksalhaftigkeit aus seinem Weltbild zu verbannen.
Mittelalterliche Christen hatten sich noch in Demut vor der Macht Gottes gebeugt: Menschenschicksal liege „in Gottes Hand“ – ein personifiziertes Schicksalsverständnis. Die Neuzeit als geistesgeschichtliches Phänomen begann, als humanistische Gelehrte Gott als Schicksalsspender funktionslos machten:
Der Humanismus, repräsentativ verewigt durch die kleine Schrift Pico della Mirandolas über die Würde des Menschen, beginnt die Konstruktion seines Ideengebäudes mit einer im Grunde nur notdürftig kaschierten Gotteslästerung. Die biblische Offenbarung, wonach jeder einzelne Mensch ein Ebenbild Gottes sei, wird von seinen transzendenten theologischen Wurzeln und den praktischen Demutsermahnungen getrennt. Die jeweils einzelne Gottesebenbildlichkeit wird zur Identität des Menschseins schlechthin gemacht, wenn jeder Mensch auf Erden in den Rang eines gottgleichen Schöpfers erhoben wird und jeder als Schöpfer seines Schicksals, im Range gleich.“[1]
Udo Di Fabio, Die Kultur der Freiheit, 2005, S.98.
Modernem Denken ist fremd, Menschen könnten unentrinnbar einem Schicksal ausgeliefert sein. Jeder gilt allein selbst als seines Glückes Schmied. Das Schicksal wird zu etwas Machbarem und Konstruierbaren. Sein eigenes Ego selbst zu konstruieren, wird geradezu zum Merkmal des modernen Arbeitnehmers. Er kommt voraussetzungslos auf die Welt, kann sich überall anpassen und jede Funktion ausfüllen. Der Konstruktivismus ist die Philosophie der Moderne schlechthin. Er behauptet: Aus prinzipiell gleichartigen gesellschaftlichen Einzelteilen könne man alles Beliebige konstruieren.
Die Psyche der Moderne
Dieser Glaube kommt objektiv den Erfordernissen der arbeitsteiligen Massengesellschaft entgegen. Auf subjektiver Ebene verarbeitet er die Urangst aller Menschen vor einem Schicksal, das sie nicht beeinflussen können.
Armin Mohler hatte den Glauben an die Fähigkeit, die Wirklichkeit allumfassend mit Mitteln der Vernunft zu erkennen, zu deuten und zu gestalten, sehr hübsch als Intellegibilitätswahn bezeichnet. Friedrich Nietzsche hatte den Urvater des Intellektualismus in Sokrates gesehen. Ein „Exzeß des Übermutes“ verführe zu der
tiefsinnigen Wahnvorstellung, welche zuerst in der Person des Sokrates zur Welt kam, jener unerschütterliche Glaube, daß das Denken, an dem Leitfaden der Kausalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und daß das Denken und Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu korrigieren imstande sei.
Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, hier nach der Ausgabe im DTV, ISBN 3-423-02221-3, 1988, S.99.
Genau dieses demiurgische Eingreifen in das Rad des Schicksals, der Glaube, alles sei machbar, bildet das tiefste Merkmal der Moderne. Wenn alles kausal ist, sollte auch alles kausal herstellbar und veränderbar sein, so lautet die Devise.
Diese Ideologie entlastet den Menschen von den Urängsten, einem Schicksal hilflos ausgeliefert zu sein. Die Vorstellung, alles Geschehende sei kausal determiniert und durch menschliches Handeln determinierbar, verleiht ein Machtgefühl. Die persönliche Ohnmacht, einem „waltenden“ Gott oder einem Schicksal ausgeliefert zu sein, wandelt sich in ein Kraftgefühl: Anything goes!
Der Tragik entrinnen
Darum verunsichert jedes Geschehnis den modernen Menschen zutiefst, das sich der kausalen Steuerbarkeit zu entziehen scheint: der unberechenbare Ausgang eines Krieges, die sich unkontrolliert ausbreitende Seuche oder ein anscheinend schicksalhafter Unfalltod. Er rechnet sich lieber die Kosten seiner Vollkaskoversicherung aus und begreift seine Existenz nur noch als Rechenexempel.
Die Vollkaskomentalität der alten Bundesrepublik wurde in den letzten Jahren immer wieder erschüttert. Das Sicherheisgefühl weiter Kreise ist einer gereizten Nervosität gewichen. Wir sind nicht mehr gewöhnt, in den Kategorien von Schicksal oder Tragik zu denken. Nietzsche bezeichnete es als das Urleiden der modernen Kultur, daß
der theoretische Mensch vor seinen Konsequenzen erschrickt und unbefriedigt es nicht mehr wagt, sich dem furchtbaren Eisstrome des Daseins anzuvertrauen: ängstlich läuft er am Ufer auf und ab. Er will nichts mehr ganz haben, ganz auch mit aller der natürlichen Grausamkeit der Dinge.“
Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, hier nach der Ausgabe im DTV, ISBN 3-423-02221-3, 1988, S.119.
Diese „natürliche Grausamkeit“ sucht die Moderne zu dekonstruieren und durch ausgeklügelte Strategien zu beseitigen. Es gelingt ihr aber nicht. Es ist nicht menschenmöglich, alles kausal zu beeinflussen. Dann müßten wir allmächtig sein und uns zum Beispiel von Männern zu Frauen machen lassen können. Eine Quasi-Allmachtsphantasie möchte am liebsten aus dem Dasein tilgen, was wir Zufall oder Schicksal oder mit dem philosophischen Terminus Kontingenz nennen.
Uns mit dem Schicksal auseinandersetzen
Modernes Denken ist strukturell unfähig, Zufall und Schicksal oder gar Tragik seelisch zu verarbeiten. Daher rühren heute verbreitete Angst- und Massenneurosen.
Wenn es in der Weltgeschichte mal gar nicht nach Wunsch läuft und in einer Katastrophe endet, fehlt modernem Denken das emotionale Instrumentarium zur Bewältigung. So kam es zu Phänomenen wie dem der „unbewältigten Vergangenheit“. Rückblickend auf die letzten hundert Jahre ist es müßig, sich auszumalen, was gewesen wäre wenn und wenn nicht. Es gab seit 1914 keinen Kausalfaden, der nicht auch zu einem ganz anderen Ende hätte führen können. Die Kausalität läßt uns rückblickend bitter im Stich. Es läßt sich schwer ein Punkt finden, von dem an „alles so enden mußte“. Die Geschichte war immer offen und bleibt es.
Genau das ist der Punkt, an dem für die Vormodernen das Schicksal begann. Was wir nicht persönlich beeinflussen können und sich unserem Wollen oder Können entzieht, bildet unser Schicksal. An ihm sind wir prinzipiell schuldlos.
Wenn wir das Schicksalhafte aus unserer Vorstellung verbannen, erscheint alles Unglück als persönliche Schuld. Denn wenn alles Geschehene in stur rechenhafter Weise miteinander verknüpft ist, hätten wir es ja verändern können. Es nicht verhindert zu haben, begründet dann eine moralische Schuld.
Das geistige Konzept der Tragik hingegen sagt uns, daß es moralische Konflikte gibt, die sich nicht ohne Verstoß gegen die eine oder die andere Moralvorstellung lösen lassen. Während ein Denken in Moralkategorien zu ewiger Bußfertigkeit führen und in Zerknirschung enden kann, entlasten die geistigen Konzepte von Schicksal und Tragik von solchem Ballast.
Die Metaphysik des Schicksals
Instruktiv für das Aufeinanderprallen eines Denkens in Schicksals-Kategorien und einem Denken in Vorstellungen persönlicher Schuld ist ein interkultureller Vergleich, den wir unserer eigenen Geschichte entnehmen können:
Die religiösen Vorstellungen der Germanen kannten keinen Gegensatz von Gut und Böse, aber die Wirkmacht des Schicksals war ihnen geläufig. Sie stellten es sich personifiziert vor in drei alten Nornen. Sie warfen die Runenstäbe des Schicksals: Urth, Werdandi und Skuld. In der Filmserie „Vikings“ (2013-2020) hat der Drehbuchautor viele einfühlsame Dialoge zwischen Christen und Götterglaubenden und Auseinandersetzungen mit dem Phänomen Schicksal verarbeitet.
Friedrich Nietzsche hatte herausgearbeitet, daß auch bei den Griechen das tragische Weltbild das ursprünglichere war. Die Nornen hießen hier Lachesis, Klotho und Atropos. Vor Sokrates Zeiten empfanden die Griechen in dionysischen Festen und aufgeführten Tragödien gleichermaßen, daß Lust und Schmerz des Daseins zusammengehören, nicht mit Maßstäben individualisierbarer „Schuld“ zu messen und nicht durch intellektuelle Weisheiten einzuhegen sind.
Wir sollen erkennen, wie alles, was entsteht, zum leidvollen Untergange bereit sein muß, wir werden gezwungen in die Schrecken der Individualexistenz hineinzublicken – und sollen doch nicht erstarren: ein metaphysischer Trost reißt uns momentan aus dem Getriebe der Wandelgestalten heraus. Wir sind wirklich in kurzen Augenblicken das Urwesen selbst und fühlen dessen unbändige Daseinsgier und Daseinslust; der Kampf, die Qual, die Vernichtung der Erscheinungen dünkt uns jetzt wie notwendig.
Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, hier nach der Ausgabe im DTV, ISBN 3-423-02221-3, 1988, S.109.
Es gibt das Leben nur im Gesamtpaket: mit Freuden, hohen Zeiten, aber auch mit Weinen und mit Klagen, wie es im Nibelungenlied heißt. Klug beraten ist, wer sich damit abfindet und auf gut Kölsch denkt: „Et kütt, wie et kütt!“ Das Gegenbild zu einer solchen realistischen Einstellung zu Leben und Schicksal bildet die Utopie jener Sozialingenieure, die uns alle gern gleich glücklich sehen wollen:
Materiell gleichgestellt werden wir zu Nummern im staatlichen Umverteilungskarussell und am Ende notfalls im Pflegeheim von Menschen und Ansteckungen isoliert, schließlich irgendwie am Leben gehalten und zu Tode behütet. Hier feiert der moderne Geist des umfassenden Machbarkeitswahnes seine Triumphe.
Uwe Lay
Klärungsfragen: Wer ist denn das Objekt des Schicksales: ein Einzelner im Sinne von: mein Schicksal, einVolk (vgl E. Hirsch, Deutschlands Schicksal) oder die Menschheit?
Wird das Schicksal von Außen auf wen verhängt oder ist es den Subjekten etwas innewohnendes, daß es etwa das Schicksal des Menschen ist, sterben zu müssen?
Das menschliche Freiheitsbewußtsein artikuliert sich in dem Vermögen, die Aussage, gestern tat ich dies, zu ergänzen durch die, ich hätte gestern das auch nicht machen können. Wie verhält sich dies Freiheitsbewußtsein, das Vermögens, konjunktivisch zu denken zu der Vorstellung schicksalhafter Bestimmug?
Verlangt nicht der Begriff des Schicksales ein Subjekt, das anderen ein Schicksal auferlegt, ohne daß dabei die Freiheit des so Bestimmten genichtet wird? So könnte etwa stoizistisch gesagt werden: Das Schicksal weist jedem eine Rolle zu, die er im Welttheater zu spielen habe, die Rolle des Königes odes des Bettlers, aber die Freiheit, wie er sie spielt?, ist die des Menschen
Klaus Kunze
Wer an waltende Götter oder andere metaphysische Kräfte glaubt, wird bei allem „Schicksal“ nach einem Urheber suchen. Dieses Denken wirft gerade das spezifische Element des Zufälligen zur Vordertür aus dem Haus, läßt es aber zur Hintertür wieder herein. Ein von einer Gottesperson verhängtes Schicksal ist mit seinem „schicksalhaften“ Ende ja wiederum kausal verknüpft, also eben keine Ausnahme vom Kausalprinzip.
Faßt man „Schicksal“ hingegen rein unmetaphysisch auf als Inbegriff aller Gegebenheiten, unter denen jeder Mensch in sein („kontingentes“) Dasein geworfen wird und die er nicht beeinflussen kann, stellt sich die Frage nach einem Subjekt („Macht des Schicksals“) gar nicht.
Uwe Lay
Zur Veranschaulichung: Die Aussage, ich bin dann da geboren, stellt zwar ein von mir nicht beeinflußbares Faktum dar, aber dies kontingente Ereignis wird erst zu einem Schicksal, wenn dies Ereignis kein kontingentes wäre, sondern wenn es mir bestimmt wäre, dann da geboren worden zu sein. Ein unmetaphysischer Schicksalsbegriff erachte ich so als einen sinnlosen Ausdruck: ohne Metaphysik oder einen Gott- oder Götterglauben löst sich der Begriff des Schicksales selbst auf. Wenn der Tod etwas rein Natürliches wäre, könnte auch das Sterbenmüssen nicht als Schicksal begriffen werden, zum Schicksal wird das Sterbenmüssen auch erst durch die Vorstellung eines Verhängnisses, dem der Mensch von außen unterworfen worden ist. (vgl die Vorstellung des Todes als Sensemann)
Klaus Kunze
Metaphysisch beflügelt ist es leicht, sich „das waltende Schicksal“ als eine eigenständige oder von enem großen Zampano gelenkte Macht vorzustellen.
Wenn man mit den Beinen rational auf festem Boden steht, lösen sich die Problme von Schicksal und Tragik aber keineswegs in Wohlgefallen auf. Sie verlagern sich nur zu einer anderen Fragestellungen hin. Es sind letztlich physikalische Fragen nach Zufall oder Notwendigkeit, Ordnung oder Chaos.
Das potentielle Ohnmachtsgefühl ist aber das gleiche, denn den Zufall können wir ebensowenig beherrschen wie ein metaphysisches Schicksal.
Daß „in einem nicht metaphysischen Schicksalsbegriff kein Sinn“ steckt, ist eine Tautologie. Daß ist in der Tat so. Es hat keinen „Sinn“, daß ich unser Kaiserreich nicht erleben konnte, sondern lediglich Auswirkungen.
Uwe Lay
Ein triviales Ereignis: Ein Auffahrunfall. Die junge Frau entsetzt über ihr kaputt gefahrenes Auto, der Mann: Wie konnte mir das nur passieren, so unaufmerksam zu fahren? Dies Ereignis ist nun aber eines im Rahmen eines Liebesfilmes. Der aufmerksame Zuschauer erahnt, daß durch diesen Zufallsunfall zwei für einander Bestimmte zueinander finden, bis sie am Ende Ja zueinander sagen. Wo unmittelbar nur ein zufälliges Ereignis gesehen wird, dieser Unfall, erahnt die Reflexion einen Sinn, eine Bedeutung dieses Ereignisses. Das ist das Empfinden, daß hier etwas Schicksalhaftes sich ereignet habe, dessen Sinn aber unklar ist. Vom Ende her retour schauend wird nun das Schicksalhafte aufgelöst in der Erkenntnis, daß dieser Zufall ein Ereignis war, das geschehen sollte,damit die für einander Bestimmten zueinander finden. Zwischen der oberflächlichen Betrachtung, die alles als Zufall ansieht, und der Erkenntnis dessen, was das Ereignis wirklch war, steht das Empfinden des Schicksalhaften als einer Negation der oberflächlichen Wahrnehmung, die noch nicht die Erkenntnis des Wahrgenommen ist, denn die Erkenntnis von etwas ist erst eine, wenn das Etwas als ein Teil des Ganzen begriffen wird.
Klaus Kunze
… “ daß dieser Zufall ein Ereignis war, das geschehen sollte, damit die für einander Bestimmten zueinander finden. “
Dieses Geschehensollen ist auf die Dramaturgie des Regisseurs zurückzuführen. Wo ein Regisseur ist, gibt es das.
Ein Geschehensollen ohne „Regisseur“ gibt es nicht. Der blinde Zufall ist keiner. Die Saurier sind nicht ausgestorben, damit wir uns hier heute tummeln können.
Daß Göttergläubige, Esoteriker und Metaphysiker überall einen Sinn postulieren, wo keiner ist, ist einer von vielen Kritikpunkten an jeder Metaphysik.