Mit Ideen und Idealen beherrscht man Menschen

Mit Religion beherrscht man Menschen: Bis hierher dürft ihr noch denken. Ab hier müßte ihr einfach glauben! Jede Herrschaft beruht entweder auf nackter Angst oder auf dem Glauben der Beherrschten, die Herrschaft stehe mit ewigen Gesetzen in Einklang.

Auch das deutsche Volk wird mit solchen Glaubenslehren eingeschüchtert und beherrscht. Nur wer sie erfolgreich untergräbt, hat eine Chance auf Freiheit.

Es gibt viel Gutes, das zwar von einem klugen Mann erkannt wird, aber doch keine so in die Augen springenden Gründe in sich hat, um andere von seiner Richtigkeit überzeugen zu können. Kluge Männer nehmen daher zur Gottheit ihre Zuflucht.

Niccolo Machiavelli, Discorsi, 1531, Buch I., 11.

Man legt seine Gesetzesbefehle einfach einer Gottheit in den Mund, dann werden sie willig befolgt. So klärte der italienische Humanist über die Funktion der Religion auf. Die Aufklärung erfaßte seitdem nicht nur die Schriftreligionen, sondern jede Form von Metaphysik.

Metaphysiker glauben, das Universum sei von moralischen Sollens-Vorschriften erfüllt. Diese seien nicht etwa Menschenwerk. Sie gelten angeblich absolut, also losgelöst von menschlicher Setzung. Sie sind der passende Nasenring, an dem man uns als Untertanen durch die Manege zieht.

Ein solcher Nasenring hatte vor einigen hundert Jahren in Deutschland in der Idee bestanden, ein Fürst herrsche souverän „von Gottes Gnaden“. Wer nicht spurte, war nicht bloß ungehorsam; er war zugleich ein Ungläubiger, womöglich ein Ketzer. Auf die Souveränität des Monarchen folgte in Deutschland 1918 nahtlos die „Souveränität des Volkes“. Der Souverän wurde schnell ausgewechselt. Die formale Gedankenstruktur blieb. Die Bürger hatten zu gehorchen. Bis sie zur Räson gebracht waren, bedurfte es bis 1923 der Niederschlagung mehrerer bewaffneter Aufstände.

Die absolute Idee

Auch heute verlangen herrschende Funktionseliten uns viel Glauben ab. Sie herrschen im Namen grandioser Ideen wie Humanität, Demokratie, Klimarettung, Gerechtigkeit und Weltfrieden. Natürlich spielen sie sich als einzig berufene Interpreten dieser hübschen Begriffe auf, und wenn wir ihnen nicht glauben, als berufenen Richter und Vollstrecker.

Es ist leicht, eine beliebige Idee wie einen Luftballon auszublasen, zwei Kerzen neben ihn zu stellen und ihn wie etwas Heiliges anzuhimmeln. Unentbehrlich sind Ideen für jeden Herrscher: Untertanen beugen ungern ihr Haupt vor seinem Befehl. Sie gehorchen aber willig dem Gesetz, als dessen oberster Sachwalter ihr Präsident sich aufführt, der Gerechtigkeit, wenn sie aus berufenem Munde quillt, der Humanität und der Gerechtigkeit, wenn man ihre Taschen leert und den Inhalt umverteilt.

Wer zu viel in den Himmel blickt, erkennt vielleicht die Ideen aus seinem Kopf wieder und hält sie für reale Wesen.

Nichts spricht gegen diese Ideen als Ideale, wenn wir gute Menschen sein wollen. Aber verpflichten sie uns moralisch zu irgend etwas? Denn was sind diese hübschen Begriffe anderes als leere Worte, als ein Hauch der Stimme?

Aus Sicht ihrer Benutzer sind sie wirklich mehr als das. Viele behaupten, ihre hübschen Ideen, Begriffe und Ideale würden nicht nur in unserer Vorstellung existieren, sondern draußen, irgendwo in einer realen Welt oder einem „Jenseits“. Ein Urvater dieser Lehre war Platon. Er hatte behauptet, die Ideen seien wie Urbilder zuerst dagewesen, und die unseren Sinnen zugänglichen Dinge erst später. Die Ideen seien viel realer als die Dinge, denn nach Zerstörung eines Dinges lebe die Idee fort. Und stellt sich nicht auch ein Mensch erst eine Sache als Idee vor, bevor er sie zusammenbaut?

Der Kirchenvater Augustinus hat sich die platonische Ideenlehre zu eigen und zum Baustein des kirchlichen Christentums gemacht. Ihr philosophischer Begriff lautet Ideenrealismus und besagt, die Ideen und Kategorien (universalia) hätten schon vor den weltlichen Dingen bestanden und seien realer als sie: universalia sunt ante rem.

Solche Universalia seien beispielsweise „das Schöne an sich“, „das Gerechte an sich“, „der Kreis an sich“ oder „der Mensch an sich“. Nach der Ideenlehre sind solche Ideen nicht bloße Vorstellungen im menschlichen Geist, sondern eine real existierende metaphysische Entität.[1] Sie können sich das sehr einfach vorstellen: Ich erzeuge in meinem Kopf Einfälle wie „Donald Duck mit Haifischzähnen“ oder den „Donald Duck an sich“, dann sterbe ich, aber meine fixe Idee bleibt in aller Ewigkeit vorhanden. Wo? Fragen Sie das Herrn Platon, wenn Sie ihn in seinem transzendenten Ideenhimmel einst antreffen. 

Ideen – vom Nominalismus wegrasiert!

Der theologische Sinn der Ideenlehre für die Kirche hatte darin bestanden, mit rein intellektualistischen Mitteln die Existenz Gottes nahezulegen: Wenn nämlich die Ideen realer sind als die Dinge, sind die Ideen von den Ideen (die Oberbegriffe) wiederum realer als die einfachen Begriffe, die Ober-Oberbegriffe realer als die Oberbegriffe und so fort. Waldi als Ding ist also weniger real als Dackel, Dackel ist weniger real als Hund, und mit Besteigen der Begriffspyramidae gelangen wir zu immer höheren Begriffen, an ihrer Spitze also zu Gott als Inbegriff aller Realität.

Statt uns in einer Begriffspyramide zu versteigen, halten wir heute immer abstraktere Oberbegriffe eher für realitätsferner als die Einzeldinge, denen wir einen Eigennamen geben könnten. Wir messen den Ideen keine eigenständige Existenz bei, weil sie nur in unseren Köpfen existieren. Was real existiert heißt auf Lateinisch ens (ein Seiendes), in der Mehrzahl entia.

Ein aus 122 Kranichen bestehender Schwarm ist eine Schönheit. Er besteht für uns aus 122 Wesen (entia) und nicht etwa aus 123 (122 Kraniche + 1 Schönheit), weil die Schönheit kein eigenständiges Wesen (ens) ist. Damit folgen wir Wilhelm von Ockham. Der aus dem Roman von Umberto Eco und dem Film mit Sean Connery als „Wilhelm von Baskerville“ bekannte Theologe (1288-1347) hatte uns nämlich gewarnt, die anzunehmende Anzahl der entia nicht grundlos zu vermehren; Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem. Der Satz ging als „Ockhams Rasiermesser“ in die Philosophiegeschichte ein.

Innerhalb des mittelalterlichen Universalienstreits[2] zwischen neuplatonischen Ideenrealisten und Nominalisten hatte Ockham wie seine Vorgänger Roscellinus und Abaelard den intellektualistischen Glauben der Scholastiker nachhaltig beschädigt. Diese suchten durch eine ontologische Hierarchie der Begriffe und die aristotelischen Seinskategorien den christlichen Gott mit den Mitteln des menschlichen Verstandes nachzuweisen.[3]

Daß auch schöne Worte wie „humanitär“ oder „gerecht“ genau das sind – schöne Worte, ein „Hauch der Stimme“ (Roscellinus) – aber keine entia, keine realen Wesenheiten sind, ist die bleibende Lehre aus dem alten Universalienstreit. Wir bilden Vorstellungen und Worte in unserem Kopf. [4] Wir benutzen sie. Sie zwingen uns aber zu nichts. Der Luftballon eines universellen, absoluten Sollens ist irreversibel geplatzt. Es gibt keinen Menschen an sich, aus dem wir moralische Normen ableiten könnten.

Abstrakte Begriffe, die wir nicht mit einem Eigennamen (nomen) bezeichnen könnten, sind keine realen Wesen, sondern nur Vorstellungen. Bloße Vorstellungen sind vor allem jene komplexen ideologischen Konzepte, mit denen man uns täglich quält: Kolonialismus, Schuld, Sünde, Buße, Gender, Klima, Katastrophe, Pandemie und viele andere. Sie können uns zu nichts verpflichten, denn man hat sie sich bloß ausgedacht. Sie sollen uns oft dazu veranlassen, uns gegen unsere eigenen Interessen zu verhalten. Sie bilden einen Ring erfundener Begriffe, einen Ring, uns alle zu knechten, uns ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden.

Wie der Ring der Finsternis funktioniert

Einer jener Ringe ist die „fundamentale Menschengleichheit“. Nehmen wir sie als Beispiel.

Kann mir jemand erklären, was „fundamentale Menschengleichheit“ ist? Der Begriff entstammt der ideologischen Küche unserer Obrigkeit und soll uns dazu verpflichten, Leute als unseresgleichen zu behandeln, die uns wenig gleichen. Empirisch sind alle Menschen ungleich. Wenn man allerdings an die platonische Ideenlehre glaubt und Anhänger des mittelalterlichen Ideenrealismus ist, dann ist die Idee „Mensch an sich“ realer als jede Einzelperson.

Sind wir alle nur körperliche Abbilder der ideellen Schablone „Mensch an sich“? Dann wären wir ja insoweit alle „gleich“. Eingangs haben wir uns an Machiavelli erinnert, der schon vor 500 Jahren den funktionalen Aspekt der Religion hervorgehoben hat. Auch die Idee, wir seien alle „gleiche“ Menschen, funktioniert gut. Allerdings nur, solange wir an sie glauben.

Die Fans allumfassender Gleichheit gebärden sich immer aggressiver. Als wären sie trunken in ihrem Gleichheitswahn, fällt es ihnen immer schwerer, differenziert zu denken. Gern werfen sie alles auf Ungleichheit beruhende, die Gesellschaft strukturierende Denken in einen Topf: „Pfui, rechts!“ Und wenn ihnen überhaupt kein Argument mehr einfällt, noch besser: „Nazi!“

Ihnen zum Trotz: Ich will nicht gleich sein. „Gleich“ zu sein ist nur ein Wort, ein Hauch der Stimme. Gleichberechtigt sein möchte ich gern, denn Rechte zu haben, ist in Ordnung. Gleichgemacht zu werden, nähme mir meine Identität und damit meine menschliche Würde.

Damit habe ich in den Augen Linker ein Geständnis abgelegt: als Rechter. Ich erkenne angeblich „das Ethos fundamentaler Menschengleichheit“ nicht an und werde beargwöhnt:[5] Wie meinen die Argwöhner das?

„Bei der intellektuellen ‚Neuen Rechten‘ handelt es sich um ein ideologisches Phänomen. Einen gemeinsamen Nenner zu finden ist schwer. Als ‚Rechte‘ läßt sie sich von der Linken durch die Betonung dessen abgrenzen, was die Menschen, um an Norberto Bobbios Begriffsbestimmung anzuknüpfen – ungleich statt gleich erscheinen läßt.“[6]

Uwe Backes, Gestalt und Bedeutung des intellektuellen Rechtsextremismus in Deutschland,   Aus Politik und Zeitgeschichte Bd. 46 / 2001. S.27

Das ist allerdings noch ein wenig schwammig. Folgte nicht schon für den linken Karl Marx alles Übel aus der Ungleichheit der Menschen: ihre Aufsplitterung in „Klassen“ aufgrund materieller Besitzverhältnisse? Sah er nicht dieses Sein als bestimmend für unterschiedliches Bewußtsein an, betonte also deutlich und polemisch, „was die Menschen ungleich statt gleich erscheinen läßt?“

Zur Unterscheidung zwischen diesem guten linken und bösem rechten Ungleichheitsdenken mußte ein neues Kriterium her. Die linke Publizistik suchte und fand es in dem Adjektiv „fundamental“. Schon 1989 gab die staatliche „Bundeszentrale für politische Bildung“ die entsprechende Wortwahl vor:

„Der Rechtsextremismus ist eine antiindividualistische, das demokratische Grundaxiom menschlicher Fundamentalgleichheit negierende Abwehrbewegung gegen die liberalen und demokratischen Kräfte und ihr Entwicklungsprodukt, den demokratischen Verfassungsstaat.“[7]

Uwe Backes und Eckhard Jesse, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, 1989.) S.43.

Wir finden hier den Topos der Fundamentalgleichheit als eines von mehreren Prinzipien, deren Summe erst zum demokratischen Verfassungsstaat führen soll. Sie ein Beispiel für die vielen Wortungeheuer, mit denen man uns ideologisch binden will, ein Konstrukt, ein Abstraktum, ein Hirngespinst eigener Art und ohne Realitätsgehalt. Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem! Es gibt eine „Fundamentalgleichkeit“ nur im Kopf – nicht in meinem allerdings. Sie ähnelt der Fundamentalgleichheit zwischen Regenwürmern und Miesmuscheln. Freilich interessieren die sich auch nicht für Hirngespinste.

Rechtsextremist sei, behauptet man unter Berufung auf die Fundamentalgleichheit, wer eine politische Ordnung erstrebe, „in der die auf Herkunft, Leistung, nationaler, ethnischer oder rassischer Zugehörigkeit basierende fundamentale Ungleichheit der Menschen institutionalisiert sei.“ Diese rein politologische Begriffssprache hat sich in unserer staatlich finanzierten Extremismus-Publizistik gegenüber einer juristischen durchgesetzt, die nach den Merkmalen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung fragt und juristisch feststehende Termini verwenden würde.

Gerade die Zunft der staatlich beschäftigten Politologen versteht zu oft aufgrund fachlicher Inkompetenz nicht die Inkongruenz zwischen politologischer, philosophischer und juristischer Begrifflichkeit. Sie benutzt gern beliebig ausdehnbare Wortfelder, die sich in den letzten zwanzig Jahren als so dehnbar erwiesen haben, daß jede Ausweitung linksradikaler Denkweisen auf weitere Lebensbereiche schon durch Begriffe wie Fundamentalgleichheit leicht nachvollzogen werden konnte. Wer weiß schon, was eine „fundamentale Menschengleichheit“ ist, von der so nichts in irgendeinem Gesetz steht?

„Im Unterschied zur Linken lehnt die Neue Rechte das Prinzip fundamentaler Menschengleichheit ab und betrachtet die anthropologische Ungleichheit der Menschen nicht nur als empirische Tatsache, sondern als entscheidend für die Gestaltung der politischen Herrschaft.“[8]

Michael Minkenberg, Die Neue Radikale Rechte im Vergleich: Frankreich und Deutschland, in: Zeitschrift „Das Parlament“, 1/1997, S.140-159, S.147.

Seitdem schrieben sie den Begriff der „fundamentalen Menschengleichheit“ fröhlich voneinander ab. Die Feministin Julia Rosenstock erklärt es genauer und sieht

„rechtes Denken als analytischen Klammerbegriff für Formen eines Denkens, das sich von bürgerlich-konservativen Wertvorstellungen bedächtigen Erhaltens des Bewährten bis zur radikalrevolutionären Totalopposition gegen das Bestehende erstreckt und für das Gleichheitskritik einen wesentlichen, wenn auch im einzelnen sehr unterschiedlich ausgeprägten Charakterzug ausmacht.“[9]

Julika Rosenstock, Vom Anspruch auf Ungleichheit, Über die Kritik am Grundsatz bedingungsloser Menschengleichheit, gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Zentrums für Antifeminismusforschung der Technischen Universität Berlin, gefördert durch die Heinrich-Böll-Stiftung, 2015.,  S.16.

Es lasse sich abgrenzen von solchem Denken, das sich das

„Gleichheitsideal auf seine Fahnen und in seine Programme geschrieben hat.“[10]

Rosenstock a.a.O.

Was meint Rosenstock damit? Sie grenzt „rechtes Denken“ ab von jedem Denken, das sich „das Gleichheitsideal auf seine Fahnen und in seine Programme geschrieben hat.“ Das Gleichheits-Ideal ist eine jener Vorstellungen aus Platons Ideenrealismus. „Wertvorstellungen“? „Ideal“? „Fahnen“? Wenn die Fahnen flattern, ist der Verstand manchmal in der Trompete, hatte einst Konrad Lorenz gespottet. Was meint ein linker Wissenschaftler wie Benz, was meint eine radikalliberale Feministin wie Rosenstock mit jener werthaften „Gleichheit“, die von Rechten so schnöde verschmäht wird?

Sie meint etwas völlig anderes als ich, wenn ich auf meine Ungleichheit gegenüber allen anderen Menschen meine Identität gründe. Empirisch und faktisch sind alle Menschen verschieden, das weiß auch Rosenstock. Diese faktische Ungleichheit gewährleistet meine Freiheit, denn wäre ich allen anderen gleich, wäre ich nicht mehr frei: frei zum Anderssein, frei für meine persönliche Identität. Wer gleich sein muß, kann nicht frei sein.

Rosenstock denkt aber beim Postulat allgemeiner Menschengleichheit an etwas ganz anderes: Sie meint Gleichheit an „moralischem Wert“. Sie greift sich den Begriff aus Platons Ideenhimmel, der großen Trickkiste des Ideenrealismus. Im 20. Jahrhundert habe sich

„die moralische Gleichheit aller Menschen als materieller Kern des Gleichheitssatzes positivrechtlich herausgebildet.“[11]

Rosenstock a.a.O., S.49.

Rechtlich herausgebildet hat sich zwar die Gleichberechtigung vor dem Gesetz. Rosenstock meint aber „moralische“, also nicht juristische Gleichheit. Sie spricht von der metaphysischen Gleichheit in Platons Himmel, nicht der auf Erden. Sie fordert nicht nur Anerkennung einer Berechtigung, sondern einer ewig gültigen Moral zu huldigen. Eine Moral, die sich absolut setzt und allgemeinverbindlich gibt, ist aber Metaphysik. Metaphysik ist voraufklärerisches Denken. Rosenstock meint metaphysische Gleichheit. Im Mittelalter nannte man sie „Gleichheit vor Gott“. Man glaubte an eine in einem Jenseits vermutete Quelle spiritueller „Gleichheit im Herrn“.

Diese Transzendenz-Metaphysik wurde mit dem Verlust des Glaubens an ein Jenseits obsolet. Gott wurde argumentativ ausgemustert. Der Mensch trat an seine Stelle:

„Die entscheidende Setzung der modernen Welt ist die Gottesebenbildlichkeit des Menschen, und zwar jedes Menschen für sich selbst: Dies und nichts anderes bedeutet Würde des Menschen.“[12]

Udo Di Fabio, Die Kultur der Freiheit, 2005. S.114.

Das Naturrecht behauptete, in Gottesebenbildlichkeit bestehe die Natur des Menschen. Sie hafte ihm substanzhaft an, sei ein Bestandteil seiner Person. Damit verlegte es die Quelle moralischen Handelns aus dem Himmel in den Menschen hinein. Als Immanenz-Metaphysik wähnt sie jedem Menschen immanent ein moralisches zweites Ich. Gleich seien alle Menschen in der Beziehung, daß jedem dieses moralische Ich innewohne. Es präge seine Natur als moralisches Wesen, weshalb alle Menschen in dieser Beziehung „moralisch gleich“ seien. Wie ein moralisches Gewissen sei es Ursprung eines metaphysischen Sollens:

„Die Aufgabe, eine Person zu werden, ist jedem Menschen gestellt.“[13]

Rosenstock a.a.O., S.260.

Kein Gott aus dem Jenseits stellt uns heute mehr Aufgaben. Die moralischen Aufgaben seien uns vielmehr immanent. Aus solcher metaphysischer Sicht steckt das sittliche Sollen im realen Sein schon drin. Jeder, der etwas von einem absoluten Sollen ohne eine dieses Sollen befehlende Person erzählt, treibt Metaphysik: Weil faktisch jeder Mensch seine Identität als Individuum begründet, wenn er sich seiner Mitwelt gegenüber sieht, schlußfolgert Rosenstock:

„In dem als Individualisierung bezeichneten Prozeß wird schließlich der Anspruch des Individuums auf Subjekthaftigkeit, d.h. dem Anspruch, sein eigener Herr sein zu dürfen, geradezu ein Gebot, und zwar ein sich an alle richtendes Gebot, der Subjekthaftigkeit hinzugefügt. […] Dies kulminiert für den Einzelnen darin, daß dieser sich (und nicht etwas) verwirklichen soll. […] Teil dieser Aufwertung der Subjekthaftigkeit ist dabei eine Aufwertung der Interessen und Gefühle der Einzelnen – bis dahin, daß die Quelle der Moral in seinem Innersten verortet wird.“[14]

Rosenstock a.a.O., S.250 f.

Wer erläßt das Gebot? Wer gibt denn „dem Menschen den Auftrag“, daß dieser „sich verwirklichen soll“? Rosenstock zaubert ein Sollen aus dem Hut und stellt neben den realen Menschen ein moralisches Sollen. Dessen Herkunft ist unerklärlich. Wer ordnet dieses Sollen an?

Dem Mensch wohne eine – als universelles Ideal gedachte – „Moral“ inne, ist ein uralter, voraufklärerischer Hut der Geistesgeschichte. Mit „der Moral“, die als Sollensforderung angeblich jedem Menschen innewohne, meinen Metaphysiker gewöhnlich sich selbst und die sich aus ihrem persönlichen Ratschluß ergebende Moral. Sie möchten diese gerne allen Menschen als verbindlich überstülpen: Sie gelte universell, also überall, absolut und einschränkungslos, und sie entzöge sich menschlicher Rechtsetzung. Wo wir auch sind: Die Moral sei schon vor uns dagewesen und erfülle uns.

Während die radikalliberale Rosenstock also quasi eine Doppelung der Person in ein reales Sein und ein ideales Sollen vornimmt, kritisiert sie genau das an radikal gleichheitskritischem Denken:

„Die Doppelung der Person in ihr Sein und Sollen ist das identitätstheoretische Substrat des elementar gleichheitskritischen Denkens, ist seine objektive Sinnstruktur. Der Einzelne zerfällt durch sie in Realität und Potenzial oder besser in Realität und Auftrag. Die soziale oder rechtliche Identität als Mensch, Grundrechtsträger, Frau oder Deutscher ist somit stets sowohl deskriptiv wie präskriptiv zu verstehen. Die Beispiele aus radikal rechten Varianten solchen Denkens haben dies durch ihr Eintreten für eine als unabdingbar geltende Verwurzelung in unverfügbar vorgegebenen Kollekividentitäten wie Volk oder Geschlecht illustriert.“[15]

Rosenstock a.a.O., S.242 f.

Das identitätstheoretische Substrat ihres eigenen elementaren Gleichheitsdenkens, seine objektive Sinnstruktur, besteht also auch in einer Doppelung der Person in ein reales Sein – und einen „Auftrag zur Selbstverwirklichung“. Die Argumentations- und Denkstruktur radikal egalitärer Metaphysiker und radikal völkischer Metaphysiker ist darum miteinander identisch. Verschieden ist nur der materielle Inhalt des „Auftrags“, den „der Mensch“ angeblich aus dem metaphysischen Irgendwo zugewiesen erhält.

Der philosophische Terminus für solche Denkstrukur lautet Normativismus. Er beinhaltet die Ansicht, es gebe allen Menschen vorgegebene, ja „aufgegebene“ moralische Normen. Dem steht die dezisionistische Auffassung entgegen, alle menschlichen Normen und Moralvorstellungen gälten erst und nur dann verbindlich, wenn ein menschlicher Gesetzgeber sich für ihre Geltung entschieden (lateinisch: decisio) und sie zum geltenden Recht erklärt (positiviert) hat.

Rosenstock ist begnadete Normativistin ihres Ideals der Menschengleichheit und geißelt rechte Normativisten, deren Ideal Menschenungleichheit ist. Ihr begrenzter Interessenhorizont läßt sie zwar klar und vielfach völlig richtig in manchem Denken und manchen Forderungen rechter Publizistik metaphysisches Denken erkennen. Diese rechte Metaphysik der Ungleichheit findet sie schrecklich. Ihre liberalen Ideale sind ganz andere als die, an die rechter Idealismus glaubt. Daß sie selbst Metaphysikerin einer als Ideal konstruierten Menschengleichheit ist, bildet den blinden Fleck ihrer beschränkten Optik.

Zu kurz gedacht ist ihre Schlußfolgerung, in jedwedem gemeinschaftsbezogenen Denken rechte Metaphysik zu erblicken. Wer Ungleichheit als gegeben zur Kenntnis nimmt und seine Identität gerade auf diese Ungleichheit baut, kann zwar, muß aber beileibe kein Metaphysiker sein. Der Unterschied ist abstrakt schwierig, am praktischen Beispiel aber sehr einfach zu verstehen: „Mein Volk ist heilig“, wäre eine metaphysische Aussage. „Mein Volk ist mir heilig“ hingegen nicht. Die erste Aussage wäre transzendent  zu verstehen und erhöbe den Anspruch, für alle zu gelten. Die zweite Aussage besagt im Kern nichts anderes als die Tatsache eines persönlichen Gefühls des Sprechers.[16]

Wir können unser Volk und Vaterland auch lieben, ohne uns in neuplatonischem Ideenrealismus oder anderen metaphysischen Spinnereien zu verlieren. Die Aufklärung über ihre Gefährlichkeit hatte vor Jahrhunderten mit dem Nominalismus begonnen. Auf dem Gebiet der Metaphysik können wir zur Zeit keinen Blumentopf gewinnen. Die linken Luftballons platzen zu lassen, vermögen wir dagegen leicht. Verschaffen wir uns also Luft.


[1] Vgl. auch zusammenfassend Wikipedia

[2] Eingehend: H. Berger, Stichwort Universaliensteit, in: Lexikon des Mittelalters, Bd.VIII, 1999, Sp. 1244 ff.

[3] Vgl. eingehend Panajotis Kondylis, Die neuzeitliche Metaphysikkritik, 1990, S.32-41 (39).

[4] Ockham: „in mente„, Summa logicae, I Sent.d.27, q.3, hier zit. nach Kondylis, Metaphysikkritik, S.43.

[5] Uwe Backes, Gestalt und Bedeutung des intellektuellen Rechtsextremismus in Deutschland,   Aus Politik und Zeitgeschichte Bd. 46 / 2001. S.24.

[6] BACKES (2001) S.27.

[7] Uwe Backes und Eckhard Jesse, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, 1989.) S.43.

[8] Michael Minkenberg, Die Neue Radikale Rechte im Vergleich: Frankreich und Deutschland, in: Zeitschrift Das Parlament, 1/1997, S.140-159, S.147.

[9] Julika Rosenstock, Vom Anspruch auf Ungleichheit, Über die Kritik am Grundsatz bedingungsloser Menschengleichheit, gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Zentrums für Antifeminismusforschung der Technischen Universität Berlin, gefördert durch die Heinrich-Böll-Stiftung, 2015.,  S.16.

[10] Rosenstock a.a.O.

[11] Rosenstock a.a.O., S.49

[12] Udo Di Fabio, Die Kultur der Freiheit, 2005. S.114.

[13] Rosenstock a.a.O., S.260.

[14] Rosenstock a.a.O., S.250 f.

[15] Rosenstock a.a.O., S.242 f.

[16] Der vorstehende Abschnitt („Wie der Ring der Finsternis funktioniert“) im wesentlichen aus: Klaus Kunze, Identität oder Egalität, 2020, S.10 ff.