Die politische Linke und die Rechte fußen in unterschiedlichen mentalen Milieus
Weltanschauungen fallen nicht vom Himmel, wachsen nicht auf Bäumen und vererben sich nicht. Wir nehmen sie auch nicht unvoreingenommen an, nachdem wir uns zuvor in der Philosophiegeschichte gründlich schlau gelesen haben und uns in einem Akt rationaler Erkenntnis die überzeugendste aussuchen.
Ideologien sind Weltbilder, die Menschen sich zurechtlegen und benutzen, weil und soweit sie ihren Interessen dienen. Diese Interessen können, müssen aber nicht ausschließlich materielle Interessen sein. Merkmal rechter Weltbilder ist die Freiheit zur Ungleichheit, Merkmal linker hingegen der Anspruch auf Gleichheit.
Meinungsumfragen zufolge soll die Forderung nach Gleichheit im Vormarsch sein und das Bedürfnis nach Freiheit überholt haben. Nach dem 2. Weltkrieg waren die meisten Deutschen materiell ziemlich gleich, weil sie ihr Materielles verloren hatten. Freiheit stand aus vorangegangener Lebenserfahrung hoch im Kurs. Für die Generation ihrer Kinder und Enkel, die es einmal „hatten besser haben“ sollen, geriet bald in Vergessenheit, wie gefährdet Freiheit ist und wie unerträglich ihr Fehlen.
Den Kindern der erfolgreichen industriellen Massengesellschaft gaukelt eine nie endende Reklameindustrie tagtäglich vor, gutes Leben sei nur einem jungen, schönen und – vor allem – konsumierenden Menschen möglich. Wie allen gesellschaftlichen Leitbildern vermochten nur wenige Menschen, es zu erreichen. Es wuchs die Zahl derer, die in unserem Sozialstaat zwar keine echte Not leiden, aber offensichtlich niemals die Chance auf gleiche Teilhabe an all jenen täglich vorgegaukelten Segnungen des Massenkonsums hatten.
In vorindustriellen Zeiten gab es keine wesentliche Diskrepanz zwischen der faktischen sozialen Stellung eines Menschen und seiner inneren Einstellung dazu, wohin Geburt oder Schicksal ihn gestellt hatten. Es gab Handwerker in stolzer Selbstzufriedenheit ihres Kunstfleißes, Kutscher in Livree kutschierten stolz ihren gnädigen Grundherrn, und selbst Gauner mochten ihren eigenen Stolz haben. Nicht jeder war glücklich, aber im allgemeinen klaffte keine große Kluft zwischen den Wünschen und Ansprüchen der Menschen auf Rang, Anerkennung und Wohlstand und dem, was sie tatsächlich hatten. Jedem das Seine: Das ließ keine Weltanschauung prinzipieller sozialer Unzufriedenheit aufkommen.
Die industrielle Massengesellschaft benötigte seit dem 19. Jahrhundert konsumierende Massen. Ihnen versicherten liberale Theoretiker: Ihr alle habt ein Recht auf materielle Teilhabe, ein Recht, glücklich zu sein. Damit hatte die Geburtsstunde des Sozialneides derer geschlagen, die leer ausgingen.
Geld ist aber nicht alles. Ein wesentliches menschliches Bedürfnis besteht in dem Wunsch nach sozialer Anerkennung. Beides, die reale Teilhabe an allem, was die Produktwerbung uns vor Augen hält, und an der sozialen Anerkennung, rückte in den Jahrzehnten nach Gründung des Bundesrepublik irgendwann für immer mehr Menschen in unerreichbare Ferne.
Während früher sozialer Aufstieg und Wohlstand nach ganz oben wie auch gesellschaftliche Anerkennung nur einem begrenzten Kreis zugänglich war, nämlich Abiturienten und Akademikern, empfand linker Egalitarismus das seit Ende der 1960er Jahre zunehmend als „ungerecht“. Immer mehr Schüler legten das Abitur ab, sehr viele studierten – und schlugen sich später als Taxifahrer durch. Anders als der stolze Handwerksmeister früherer Jahrhunderte sitzt den auf dem Arbeitsmarkt überflüssigen oder doch nicht ausreichend tüchtigen Sprößlingen der Bildungsgesellschaft der Stachel im Fleisch. Klug und gebildet genug, zu erkennen, daß sie ihre Bildungsziele vielleicht nur schlecht und ihre Berufsziele gar nicht erreichen können, bilden sie das geborene intellektuelle Proletariat für Gleichheitsforderungen. Neid auf die Tüchtigeren und Haß auf ein diffuses Bild von „der Gesellschaft“ treiben sie an, die im Zweifel an ihrem Scheitern schuld hat.
Sie fühlen sich gescheitert, es aus eigener Kraft zu etwas zu bringen, und geben angeblicher gesellschaftlicher Benachteiligung die Schuld daran. Ihr emotionales Motiv und ihre objektive Interessenlage konvergieren in der Forderung nach einem Staat, der Ergebnisgleichheit herbeiführt und ihre Bedürfnisse nach materiellem Wohlstand und sozialer Anerkennung befriedigt. Die Forderung nach einem „Bürgergeld“ ist ein Schritt in ihre Richtung.
Der Wunsch nach persönlichem Wohlstand und sozialem Aufstieg gehen Hand in Hand. In den Augen vieler Menschen läßt sich der soziale Status geradezu daran ablesen, was für ein Auto jemand vor der Haustür stehen hat. Dabei kann ein befriedigender Sozialstatus aber auch auf nicht materiellem Weg erreicht werden. Entscheidend ist nicht ein objektiver Wert des erworbenen Wohlstandes oder ein objektiver Sozialstatus. Für das Maß der Zufriedenheit kommt es immer auf die Differenz an zwischen dem tatsächlich Erreichten und dem an, was man gerne hätte.
Mancher Arbeiter konnte sich vor 200 Jahren allenfalls erträumen, Vorarbeiter zu werden und konnte darum als Vorarbeiter häufig zufrieden leben. Der aktuelle und der potentiell erreichbare soziale Status war den meisten Menschen schicksalhaft in die Wiege gelegt. Die Differenz zwischen dem Erreichbaren und dem Erreichten war meistens gering, weil die Gesellschaft nicht so durchlässig war wie heute und die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht quasi substanziell angeboren. Niemandem wurde etwas versprochen, was er nicht erreichen konnte.
Heute sind die früheren Geburtsstände und -schichten verschwunden. Niemand wird mehr als Baustein in ein Sozialgefüge hineingeboren, in dem er vom ersten Atemzug an als Hochwohlgeborener oder als Prolet gilt. Jedem Einzelnen winkt die Chance zur Teilhabe an allen sozialen Gütern, das theoretische Versprechen, sein Glück zu machen und jeden vorstellbaren Sozialstatus zu erringen. Das weckt Begehrlichkeiten. Die höchsten Ränge der sozialen Stufenleiter sind nicht weniger besetzt, als sie vor 200 Jahren waren. Sie sind aber jedem Einzelnen als potentiell erreichbar versprochen. Aus einem weitgehend feststehenden Sozialgefüge mit klaren Platzzuweisungen ist eine Gesellschaft des permanenten sozialen Auf- und Abstiegs geworden.
Die Differenz zwischen dem als erreichbar Versprochenen und persönlich gewünschten Sozialstatus und dem tatsächlich erreichten wird für viele zum persönlichen Debakel. Das gilt besonders für die mittlere Begabungsebene, die früher als zufriedene Handwerker oder Angestellte lebte. Heute haben wir ein Heer von studierten Politologen, Soziologen, Psychologen und dergleichen, die niemand wirklich braucht, aber auch von Schul- und Studienabbrechern. Viele beim sozialen Aufstieg gescheiterte Existenzen flüchten ins Nirwana einer Betäubungsmittelabhängigkeit.
Ganz Schlaue bemerken vielleicht, daß sich das Gefühl, anerkannt zu sein, völlig unabhängig davon einstellt, wer diese Anerkennung zollt. Vorsitzender Schützenbruder oder Kleintierzüchter zu sein, kann auch befriedigen. Geradezu ideal eignet sich der uneigennützige Einsatz für eine große, gerechte Sache. Wenn grundsätzlich „die ungerechte Gesellschaft“ am eigenen Scheitern schuld ist, schmeichelt es doch sehr, wenigstens Mitglied des Zentralkomitees für Gerechtigkeit zu sein – für diejenige Gerechtigkeit, versteht sich, die jedem im Ergebnis den gleichen Anteil zuteilt.
Strukturell muß eine atomisierte Massengesellschaft ohne feste soziale Hierarchie mehr gesellschaftlichen Auf- und Abstieg produzieren. Das ist in der liberalen Idee vom freien Spiel der Kräfte so vorgesehen und eine zwangsläufige Folge eines Mehr an sozialer Freiheit. Sie verspricht jedem die Chance zum Aufstieg, zu einem höheren Sozialstatus und zu Wohlstand. Sie kann dieses Versprechen aber niemals allen gegenüber einlösen, denn es gibt immer eine obere und eine untere Hälfte, vielleicht sogar eine soziale Pyramide mit schmaler Spitze und breiter Basis. Es gibt darum notwendig immer einen erheblichen Anteil derer, die sich für zu kurz gekommen halten, weil sie die Differenz zwischem ihrem angestrebten Status und dem wirklich erreichten oder erreichbaren unerträglich finden.
Aus diesem mentalen Milieu rekrutieren sich die Unzufriedenen, die Neider, die Nörgler, die geborenen Revolutionäre und Gleichmacher. Ihre einzige Chance auf einen höheren Sozialstatus sehen sie in einem einheitlichen Sozialstatus für alle. An der Chancengleichheit gescheitert, beanspruchen sie Ergebnisgleichheit. Aus ihrer Interessenlage kann man das gut verstehen.
Wenn ihre Forderungen nach gleichem sozialen Status nicht hinreichend erfüllt werden, bietet sich ihnen als Notlösung an, randalierend durch die Straßen zu ziehen und Autos derer anzuzünden, deren vermeintlich höherer Sozialstatus sich in eben diesen Autos zu verkörpern scheint. In Zerstörung und Armut – ahnen sie dumpf – wären schließlich wieder alle gleich.
Ihre geborenen Gegner sind die anderen, für die ein einheitlicher Sozialstatus eine Verschlechterung bedeuten würde. Wer sich tüchtig fühlt und einen höheren Sozialstatus erreichbar sieht oder erreichbar hat, kann bei der Umverteilung von oben nach unten nur verlieren oder sich durch Gleichheit gebremst fühlen. Wer sich aber als unterlegen und ohnmächtig empfindet, selbstgesteckte Ziele zu erreichen und dadurch in seinem sozialen Status anerkannt zu werden, wird zu Gleichheitsforderungen neigen.
Seine Grundhaltung wird traditionell links eingeordnet, die der Befürworter von Ungleichheiten aber als rechts.
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