Um von ihrem vollständigen Desaster abzulenken, malen unsere Regierenden das Schicksal der Afghanen jetzt in den düstersten Farben. Für sie und ihre Propagandamedien sind alle Taliban üble Terroristen. Bald würden sie dazu übergehen, alle Frauen in komische Säcke mit Gucklöckern zu stecken, allen Dieben die Hände abzuhacken und alle Schwule von Häusern zu stürzen. Die „Ortskräfte“ der bisherigen deutschen Besatzung stehen scheinbar unmittelbar davor, massakriert zu werden.
Ob die jetzt gemäßigt auftretenden Taliban nur Wölfe sind, die Kreide gefressen haben, oder ob sie begriffen haben, daß sich auf Racheorgien und Unterdrückung kein stabiler Staat bauen läßt, werden wir bald wissen. Unsere Regierung übt sich bereits in der Kunst der Prophetie und leitet aus ihrer schwarzen Prognose ihre „moralische Pflicht“ ab, ins Flugzeug zu packen, wer eben kommt, und ihn nach Deutschland zu verfrachten. Zugleich sind wir weiter denn je entfernt von Abschiebungen verurteilter afghanischer Verbrecher oder abgelehnter Asylbewerber.
Heim ins Reich der Menschenrechte möchte unsere Regierung jetzt möglichst viele „Ortskräfte“ und „Vertreter der Zivilgesellschaft“ holen. Das sind zwei verschiedenartige Gruppen. Ortskräfte hatten sich als Vertragsarbeiter in deutsche Dienste gestellt, zum Beispiel als Schneider oder Putzhilfen in Unterkünften. Vermutlich tut ihnen jetzt niemand etwas. Für ihr bekanntes Risiko hervorragend bezahlt wurden Sprachmittler, die gewöhnlich weit weg von ihrem Herkunftsort eingesetzt wurden. Wo niemand sie kannte, begleiteten sie die Spitze militärischer Konvois, um bei Bedarf nach dem Weg zu fragen oder mit örtlichen Stammesführern Verbindung aufzunehmen.
Nicht unmittelbar in unseren Regierungsdiensten stand eine schmale Bildungsschicht in Kabul, die westlichen Lebensstil adaptiert hat und ihn als Professor, Fernsehansagerin oder dergleichen propagierte. Aber was schulden wir jenen „Ortskräften“ und den Kabuler Verfechtern westlichen Lebensstils wirklich?
Es gibt kein moralisches Dilemma
Moralphilosophisch liegt nahe, zu halten, was man versprochen hat. Hat aber irgend jemand irgend einem afghanischen Dolmetscher oder Hilfswilligen eine Option zur Auswanderung versprochen? Ich nehme nicht an, so etwas stünde in irgend einem der mit deutscher Gründlichkeit geschlossenen Arbeitsverträge. Also schulden wir es auch nicht.
Zwanzig Jahre hat Deutschland sich in Afghanistan als Besatzungsmacht aufgespielt. Einheimische Kollaborateure, die das für einen Dauerzustand gehalten haben mochten, haben auf das falsche Pferd gesetzt. Sie haben objektiv gegen die Selbstbestimmung ihrer eigenen Stämme gehandelt und dafür Geld genommen. Falls jemandem jetzt wirklich der Tod drohen würde, könnte man ihn aus Barmherzigkeit aufnehmen, aber nicht aus moralischer Pflicht. Wir sind nicht verpflichtet, jedem Todgeweihten dieser Erde beizustehen.
Das eigene „moralische“ Verhalten jener Ortskräfte war höchst zweifelhaft. Sie dienten nicht ihrem Vaterland, sondern Besatzungsmächten. Diese wollten, Deutschland vorneweg, die Afghanen umerziehen – „denn heute, da hört uns Deutschland, und morgen die ganze Welt!“ Höre, oh Welt, den globalen Weckruf aus Berlin: „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit, Brüder zum Lichte empor!“ Das Licht unseres Gutmenschentums sollte über dem ganzen Erdball erstrahlen, und Afghanistan schien ein guter Anfang.
Aus erbitterten Kämpfern für ihre Unabhängigkeit – erst gegen Rußland, dann die USA, wollte man ideologische Gefolgsleute „des Westens“ machen. Sie sollten ihre – uns so fremden – angestammten Sitten, Bräuche, Hoffnungen, Werte und religiöse Gebote ablegen. Statt dessen sollten sie an „die Demokratie“ glauben, „den Humanismus“, an „die Gerechtigkeit“, den Pluralismus, den Genderismus und all die vielen bunten Blümchen auf Gutmenschens Himmelswiese.
Die geplante Umerziehung der Afghanen mit allen volkspädagogischen Instrumenten war die Fortsetzung ihrer militärischen Unterwerfung mit anderen Mitteln. Einer mehrheitlich archaischen, patriarchalischen Gesellschaft sollte die Ideologie der westlichen Massengesellschaft übergestülpt werden.
Die Methoden der Umerziehung
Das revolutionäre Frankreich hatte seit 1796 einen deutschen Staat nach dem anderen unterworfen und sich einverleibt. Zugleich verbreitete es seine republikanische Ideologie. Sie behauptete, unter französischer Herrschaft seien die Deutschen jetzt freier als zuvor. Überall wurden Freiheitsbäume errichtet, während in Köln der Dom von Franzosen geplündert und ein Pferdestall aus ihm gemacht wurde. Die umerzogenen neuen deutschen Republikaner schritten bald mit ihren geliebten französischen Besatzern zur Befreiung ganz Europas, bis ihre Überlebenden, dezimiert, verfroren und zerlumpt, aus Rußland zurückwankten.
Die Umerziehung unterworfener Staaten gehört auch zum Standardrepertoire der USA. Die Phrase „to make the world safe for democracy“ wurde zufälligerweise immer dann angewandt, wenn eine geostrategische Intervention der ideologischen Verbrämung bedurfte. Für Weltmacht, Handelsvorteile oder Bodenschätze wären auch amerikanische Soldaten ungern gestorben. Unter der Fahne eines demokratischen Kreuzzugs hatten sie wenigstens beim Bombardieren ein gutes Gewissen.
Die Mehrheit der Deutschen ist so sehr Produkt der amerikanischen Umerziehung der Nachkriegszeit, daß sie das gar nicht mehr bemerkt. Man hat einen Krieg erst dann gewonnen, wenn in den Schulbüchern der Besiegten steht, wie dankbar die Kinder der Siegermacht sein müssen. Heute lautet unsere übliche Propaganda, Deutschland sei am 8. Mai 1945 befreit worden. So fand man wenig dabei, auch Afghanistan zu „befreien“ und „safe for democracy“ zu machen.
Allerdings waren alle „westlichen Werte“ unserer Umerziehung nach 1945 im Ansatz in Deutschland schon vorhanden, nur nicht mehrheitsfähig. Wir haben uns gern umerziehen lassen, weil die amerikanische Umerziehung nichts importierte, was nicht vor 1933 an geistigen Strömungen auch schon vorhanden war und weil unsere Gesellschaft mit ihrer Massenzivilisation der amerikanischen strukturell glich.
Patriarchalische Stammeskrieger
Völlig anders war und ist die Lage in Afghanistan. Viele der westlich akkulturalisierten oder umerzogenen Hauptstädter sind heute enttäuscht. Anders die Mehrheit:
Es ist wichtig, in die Köpfe und Herzen der Paschtunen vorzudringen: Die Taliban-Bewegung ist in der Tat eine politisch-religiöse Manifestation, die weitgehend zum paschtunischen Universum gehört, wie die ethnische Identität, die Werte, das Organisationssystem und der Glaube ihrer Mitglieder zeigen und beweisen. Da die Taliban wie die Paschtunen an den Paschtunwali (den paschtunischen Weg, auch bekannt als Lebenskodex) glauben – auch wenn sie ihn für ihre eigene Agenda verzerrt und instrumentalisiert haben – versammeln sie sich in Jirga (Versammlung der Ältesten), respektieren Stammesführer (Khans) und praktizieren eine besondere und heterodoxe Form des Islam (Deobandi).
Emanuel Pietrobon, La vera ideologia che muove i talebani, 18.8.2021
Die deutschen Medien verkürzen die Weltanschauung der Afghanen auf ihre Schriftreligion. Diese bildet aber nicht die Ursache und Quelle viel tiefer liegender, archaischer Werte:
Die anderen zehn Säulen, die im Laufe der Zeit ebenso wichtig geworden sind wie die ersten drei, sind die Pflicht zur Tapferkeit gegenüber Eindringlingen (turah), die Loyalität gegenüber Familie, Freunden und Stamm (wapa), der Respekt vor dem Nächsten und der Schöpfung (khegara), Respekt vor sich selbst und seiner Familie (pat aw Wyar), Verteidigung der Ehre der Frauen (namus) und der Schwachen (nang), Ritterlichkeit (merana), Verteidigung der Sitten und Gebräuche (hewad), Konfliktlösung durch Schlichtung (jirga) und unerschütterliche Loyalität gegenüber Gott (groh). Der Groh zum Beispiel erklärt, warum die Taliban gegen jede Form der Säkularisierung und den Ausschluß des Heiligen aus dem öffentlichen Leben sind. Nanawatai hingegen erklärt, warum Korangelehrte Polizisten, Soldaten und Regierungsbeamten verzeihen, die bei der ersten (und einzigen) Warnung ihre Waffen niederlegen und die Farbe wechseln. Und die Turah ist die Säule, die die Paschtunen seit der Zeit Alexanders des Großen dazu gebracht hat, ihr Land mit einem Sinn für Selbstaufopferung zu verteidigen, der eher einzigartig als selten ist.
Emanuel Pietrobon, La vera ideologia che muove i talebani, 18.8.2021
Es ist der typische Wertekanon einer agrarischen Stammesgesellschaft, wie er vor tausend Jahren auch in Deutschland galt. Der Islam und die Scharia sind nicht der Grund einer solchen Weltanschauung, sondern nur ihre Hülle.
Wer sich unterwirft, der wird geschont. Das stellte in der Mehrzahl der historischen Staaten islamischen Glaubens die Regel dar. Dann muß er freilich kuschen und sich den althergebrachten Gesetzen beugen.
Das schreckliche nyaw aw Badal hingegen ist das Scharnier, das all die Grausamkeiten legitimiert, die die Taliban gegen Feinde begehen, die sich nicht ergeben oder ihren Glauben verleugnen: von der Steinigung bis zum Hängen, von der Folter bis zur Vergewaltigung. Nyaw aw Badal ist der Grund dafür, daß der letzte Präsident der Demokratischen Republik Afghanistan bei lebendigem Leibe gehäutet und anschließend im Zentrum von Kabul erhängt wurde. Nyaw aw Badal erklärt, warum Horden von Afghanen versuchen, das Land zu verlassen, und warum viele andere auf Befehl von Taliban-Gerichten hingerichtet werden, wo es weder Kameras noch Zeugen gibt.
Emanuel Pietrobon, La vera ideologia che muove i talebani, 18.8.2021
Kein moralisches Bonbon für unmoralisches Handeln
Die Propaganda, in Afghanistan habe „der Westen“ für „westliche Werte“ gekämpft, war von Anfang an für unsere Innenpolitik bestimmt. Das schließt nicht aus, daß ein paar weltfremde Narren tatsächlich glaubten, mit deutschen Steuermillionen den Afghanen ihren Genderismus beibringen zu können. Aber das strategische, operative Ziel war immer die geostrategische Macht der USA.
Es bildete von Anfang an eine Propagandalüge, der Krieg in Afghanistan hätte einen „Kampf gegen den Terrorismus“ dargestellt. Spätestens nach der Vernichtung der al-Khaida war er das nicht mehr. Der Krieg und die auch deutsche Besatzung war so unmoralisch wie ein Angriffskrieg auf fremden Territorium mit Umerziehung eines Volkes nur sein kann.
In Nibelungentreue schlossen die deutschen Vasallen sich ihm an. Auch von Deutschland ging Krieg aus. Deutsche Soldaten wurden verheizt, auch um am Hindukusch die Ideologie unserer Regierung durchzusetzen. Unsere herrschenden Parteien haben uns alle in diesen Krieg hineingezogen. Offenbar wird sie niemand dafür zur Rechenschaft ziehen.
Ob ihre afghanischen Hilfswilligen von ihren Landsleuten jetzt zur Rechenschaft gezogen werden, geht uns nichts an.
Es gibt keine moralische Verpflichtung, unmoralische Handlungen zu belohnen.
Und es gibt nach Kriegsende erst recht keinen Grund mehr, die nach Zigtausenden zählenden Afghanen ohne Asylanspruch in Deutschland zu behalten. Es ist höchste Zeit für einen operativen Schlußstrich unter dieses düstere Kapitel deutscher Geschichte.
Kathi Roedl
Ausgezeichneter Artikel! Ich werde mir Punkte rausschreiben und meinen halbwüchsigen Söhnen referieren.