Vor Zeiten hatte war Blasphemie die schlimmste Sünde: Wer Gott leugnete oder schmähte, dem wurde schon mal kräftig eingeheizt. Heute ist „Menschenfeindlichkeit“ die Erzsünde unserer Tage.

Linke reden schnell von „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“. Haß gegen Reiche oder gegen „alte, weiße Männer“ gilt dagegen bei Linken als Tugend – ist das keine „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“?

Rainer Zitelmann auf Twitter 4.9.2021

So mahnte heute der liberale Publizist Rainer Zitelmann. Der Vorwurf der Menschenfeindlichkeit oder -verachtung ist zur stehenden Phrase aggressiven Gutmenschentums geworden. Mit „Menschenverachtung“ ist aber nicht gemeint, man dürfe keine individuelle Person verachten. Auch eine ganze Gruppe darf man durchaus beleidigen, schmähen und verachten, wie Zitelmann erkennt: weiße alte Männer zum Beispiel.

Wer jemandem den Vorwurf der Menschenverachtung wie einen Bannstrahl entgegenschleudert, verachtet ihn ja offenkundig auch und muß sich denselben Vorwurf gefallen lassen. Das merkt er allerdings nicht, weil er mit „Menschenverachtung“ etwas ganz anderes meint: Der andere mißachte nämlich die Heiligkeit des Menschen an sich, deren Abglanz ihm wie ein Splitter einer höheren Wesenheit innewohnt.

„Der Mensch“ bildet heute den Dreh- und Angelpunkt einer neuen inoffiziellen Staatsreligion unserer Tage. Als höchstes Wesen trat er seit der Renaissance an die Stelle Gottes, und zwar nicht irgendein wirklicher Einzel­mensch oder viele bestimmte Einzelmen­schen, sondern eine abstrakte Idee vom Menschen an sich. „Weil diese zur Menschlichkeit vollen­dete Sittlichkeit mit der Re­li­gi­on, aus der sie geschichtlich hervorge­gangen, sich völlig aus­ein­an­der­gesetzt hat,“ prognostizierte  Max Stirner 1845, „so hinderte sie nichts, auf eigene Hand Religion zu werden.“ Dazu komme es, wenn dem Menschen der Mensch das höch­ste We­sen sei: „Hat man da nicht wieder den Pfaf­fen? Wer ist sein Gott? Der Mensch? Was ist das Göttliche? Das Mensch­liche!“[4] Wenn Stirner die Humanität als die Staatsreligion des freien Staates bezeichnete[5], kommt er unserer Gegenwart auffällig nahe. Es wird wieder vergötzt.

Darum kann der „Menschenverächter“ nur böse sein. Das Böse wollte man früher mit einem Kuzifix und dem Ruf „Weiche, böser Geist!“ vertreiben. Heute schrei man: „Menschenverachtung!“ Durch diesen Exorzismus soll das Böse weichen.

Wie sich Aberglauben vorstellte, im Besessenen wohne ein böser Geist, stellen sich Gutmenschen vor, im Menschen an sich wohne das Gute, etwas gleichsam Göttliches mit prinzipiell unendlichem Wert. Wer ihn angreift oder leugnet, begeht die Sünde der Menschenverachtung. Terminologisch liegt dieser Vorstellung ein „mehr oder weniger klarer Immanenz-Pantheismus“ zugrunde“[1] „Menschenverachtung“ ist dann die Erzsünde gegen das pantheistisch vorgestellte „Göttliche“ im Menschen, gegen den vergötterten Menschen an sich.

Schon 1874 hatte der Theologe Johann Peter Lange (1802-1884) Menschenverachtung in der neuen Evolutionstheorie gewittert und vom Leder gezogen:

„Welche eine seltsame rasche und überraschende Wendung ist in Beziehung auf die Werthhaltung des Menschen und insbesondere auch des Menschenbildes eingetreten! Es ist noch nicht lange hin, daß man uns verhieß, wenn man erst die Gottesidee in den Hintergrund schiebe oder gar beseitige, werde der Mensch in seiner wahren heroischen Größe erscheinen, auf den dunklen Trümmern der Religion werde der lichte Tempel der Humanität erstehen. Und nun sehen wir die Menschenverachtung als Selbstverachtung und Verachtung des Nächsten  auf allen Seiten hervorbrechen.“

Johann Peter Lange, Ein Wort über die Verbrennung der Leichen, in: Daheim, Ein deutsches Familienblatt mit Illustrationen, 1874, S.614 ff.

Das „Grundverbrechen der Menschenverachtung“ beginne mit der

„Ableitung der Menschenart aus einer zufälligen thierischen Metamorphose, Menschenverachtung der Katechismus von der socialen Allmacht der Faust, und nicht minder auch die Menschenverachtung die Satzung, der Mensch könne von seinem Unfrieden befreit werden, wenn man ihm das Opfer seiner Überzeugung  und seines Gewissens abgelistet und ihn zu einem dressirbaren Geschöpf, zu einem willenlosen und fanatischen Werkzeug fremder hierarchischer Selbstvergötterung gemacht habe.“[2]

Johann Peter Lange, Ein Wort über die Verbrennung der Leichen, in: Daheim, Ein deutsches Familienblatt mit Illustrationen, 1874, S.614 ff.

Heute gilt die Evolutionstheorie mit ihrer „Metamorphose“ von Tieren zum Menschen nicht mehr als Menschenverachtung. Jetzt wird der religiöse Bannstrahl undifferenziert gegen alle Positionen gerichtet, die aus Sicht der modernen Humanitätsreligion nicht fromm genug sind. Sie erkennen das Spirituelle in jedem Menschen nicht an und behalten sich vor, sie nicht als Würdeträger, sondern wie Objekte zu behandeln:

1947 stand der religiöse Ursprung des Begriffs noch sehr deutlich vor Augen: Alexander Mitscherlich hatte aus Anlaß der Nürnberger Ärzteprozesse geschrieben:

„Eine tiefe Inhumanität hat sich seit langem vorbereitet. Dies ist die Alchemie der Gegenwart, die Verwandlung von Subjekt in Objekt, des Menschen in eine Sache, an der sich dann der Zerstörungstrieb ungehemmt entfalten darf“. […] „Eine tiefe Inhumanität hat sich seit langem vorbereitet. Dies ist die Alchemie der Gegenwart, die Verwandlung von Subjekt in Objekt, des Menschen in eine Sache, an der sich dann der Zerstörungstrieb ungehemmt entfalten darf“. […] „So sahen wir unsere Aufgabe als Chronisten von Tod, Verzweiflung und haßvoller Menschenverachtung nicht in der Anklage, noch in der Entschuldigung, sondern allein in der Vermittlung zeitgenössischer Geschichte“.[3]

Alexander Mitscherlich, Medizin ohne Menschlichkeit, 1948, zitiert nach: derselbe (1983), S.153

Mitscherlich überhöht seine verständliche Abscheu vor Menschenversuchen mit dem Vorwurf der Inhumanität und krönt ihn mit der Behauptung der Menschenverachtung.

Immer ist die Begründung der wesentliche Punkt: Für ein gesetzliches Verbot jedweder Versuche an Menschen kann man mit überzeugenden Gründen eintreten. Wenn diese Gründe aber religiöse sind, darf man nicht erwarten, daß jeder sie glaubt. Der Vorwurf der „Menschenverachtung“ gewinnt nur in einem normativen religiösen Rahmen Sinn. Er bleibt unverständlich jedem, der immer nach Einzelfall selbst entscheidet, ob er einen anderen Menschen liebt und würdigt, gleichgültig bleibt oder ihn verachtet. So verhält sich der empirische Mensch. Er kann liebevoll, aber auch grausam sein: Empirisch ist das eine so menschlich wie das andere. Erst wenn man das Adjektiv menschlich religiös auflädt und an „den Menschen als von Natur aus gut“ glaubt, erscheint wie von Zauberhand alles Grausame als inhuman: Der vergöttlichte Idealmensch an sich ist nämlich edel, sittsam und gut.

Weil wir aber alle als Lebewesen einfach Menschen sind, besteht das Religiöse an dieser Vergötzung darin, im Menschen an sich etwas dem Kreatürlichen kategorial Übergeordnetes zu sehen. Nur etwas kategorial Übergeordnetes kann einen „prinzipiell unendlichen Wert“ haben. Sich als Mensch nur selbst zum Gott zu erklären, führt den Gutmenschen in ein logisches Dilemma: Als „Gott“ bin ich auch Schöpfer meiner eigenen Moral und darf lieben oder verachten, wen oder was immer ich will.

Nur etwas Höheres kann man vergöttlichen. Werden Roboter nach dem Aussterben ihrer menschlichen Schöpfer „den Menschen“ als Gott verehren?
(Romancover, Clark Darlton (Walter Ernsting), Im Zentrum der Galaxis, 1965)

Die neue Religion wird von vielen nicht bewußt wahrgenommen. Sie gibt dem verflochtenen Gewebe unserer Politik aber ihre eigene Struktur vor. Die Webfäden der neuen Religion prägen zutiefst ihr Erscheinungsbild. Unsere politischen Entscheidungsträger handeln nicht pragmatisch so, wie es unserem realen Interesse entspricht. „Humanitäre“ Ideale haben Vorrang. Politik soll „menschlich“ sein. Wir sind ungewollt zu Glaubenskriegern geworden, die mit ihrem Humanitarismus die ganze Welt beglücken wollen.

Sie halten alle Menschen für gut. Gutmenschentum möchte sie weltweit vom Bösen befreien. Notfalls hilft da schon mal der eine oder andere kleine Krieg für das Gute, zum Beispiel gegen die Taliban. Deren Land zwanzig Jahre besetzt zu halten und sie zum Guten umzuerziehen, ist selbstverständlich keine Menschenverachtung.

Für gläubige Moslems ist es allerdings eine Gottesverachtung, anstelle des einen Gottes plötzlich den Menschen an sich als höchstes Wesen zu verehren und ihm prinzipiell unendlichen Wert beizumessen. So entstehen aus Interessenkonflikten Religionskriege oder, in unserem Landesinnern, Bürgerkriege.


[1] Carl Schmitt, 1934 (1985), S.64.

[2] Lange (1874), S.616.

[3] Alexander Mitscherlich, Medizin ohne Menschlichkeit, 1948, zitiert nach: derselbe (1983), S.153.

[4] Max Stirner, 1845 (1972), S.62.

[5] Max Stirner, 1845 (1972), S.193.