Gibt es für die Rechte eine neue soziale Frage?
Sind Konservative oder Rechte Sozialmuffel? Lassen soziale Probleme sie kalt?
„Die Konservativen haben sich leider nur selten ernsthaft mit der sozialen Frage befaßt. Es ist müßig darüber zu spekulieren, warum das so ist. Möglicherweise haben sie einfach vor der überlegenen Definitionsmacht kapituliert, die der Linken bei dieser Problematik, oft genug allerdings zu Unrecht, zugestanden wird. Vielleicht haben sie aber auch realistischerweise frühzeitig erkannt, daß Konservative und Rechte in aller Regel keine oder zumindest nur eine mäßige Ahnung davon haben, was den berühmten „kleinen Leuten“ wirklich auf den Nägeln brennt.“
Werner Olles, Die Rechte – eine Stütze der kapitalistischen und globalismushörigen Gesellschaft? Wir selbst 25.1.2020
Fragen ist immer gut und richtig. Wer nicht immer wieder alles, auch seine eigenen Positionen, in Frage stellt, wird nie Antworten finden. Man muß allerdings die richtigen Fragen stellen. Die richtigen Fragen stellt man, wenn die vorherige eigene Analyse stimmt.
Gibt es überhaupt eine soziale Frage? Oder finden wir die Antworten auf unsere Probleme auf anderem als dem Gebiet „sozialer Fragen“? Dazu müßten wir erst einmal klären, was als soziale Frage gelten soll und was nicht gemeint ist. Mit anderen Worten: Liegen die tieferen Ursachen für empfundene Mißstände im „sozialen Bereich“? Der Begriff der sozialen Frage ist seit jeher ein linker Begriff gewesen. Inhaltlich besagt er, die soziale Frage bestehe in einer ungleichen Verteilung von Chancen und Ressourcen. Wer „soziale Frage“ anders meint, möge klarstellen, was er konkret damit meint und wie die soziale Frage denn lautet.
Ohne äußerste begriffliche Präzision können wir keine politische Frage richtig formulieren, geschweige denn beantworten. Notfalls müssen wir bei mehrdeutigen Begriffen erklären, was wir meinen. Wenn wir von Beginn an Konservative und Rechte zusammendenken und nicht klarstellen, was wir unter rechts und konservativ verstehen, können wir den sich daraus ergebenden Spagat nicht durchhalten.
Begriffe sind wie die Wegweiser auf Bahnhöfen. Folgen wir dem falschen, gelangen wir nicht zum richtigen Ziel. Natürlich bleibt jedem unbenommen, alles zu benennen wie er mag. Die Auerochsen sind vor 500 Jahren ausgestorben. Das hindert Gastwirte nicht daran, Steaks von zahmen Heckrindern als Auerochsensteaks anzubieten. Ausgestorben ist auch der ursprüngliche Konservatismus. Was sich nach dem 19. Jahrhundert noch so nannte, war ein Flügel des Liberalismus. Dieser hatte sich ein Paar Motive des Konservatismus, seines besiegten Gegners, angeeignet. Er hat zwar Berührungsflächen mit dem als „Rechte“ bezeichneten Phänomen, ist aber nicht mit ihm identisch.
Echter Konservatismus oder „konservativer“ Liberalismus“?
Als lebendige historische Formation hatte der Konservatismus die Interessen der altständischen Gesellschaft gegen die Forderungen des aufstrebenden Bürgertums vertreten. Dieses sah seine Interessen in einem wirtschaftlichen Liberalismus vertreten. Ohne die Geburtsstände beseitigen zu wollen, forderte es völlige wirtschaftliche Gleichberechtigung und Freiheit. Auch dieses Bürgertum bestand in sozial greifbaren, konkreten Menschen. Sie waren wirtschaftlich erfolgreich, zu Geld und Ansehen gelangt, aber dem alten Adel nicht ebenbürtig.
Ihre Frontstellung war eine doppelte: Ansprüche und „wohlerworbene Rechte“ der alten Adelsgesellschaft mußten die liberalen Bürger abwehren und auf Befreiungen pochen. Zugleich mußten aber die auf völlige Gleichheit der Besitzverhältnisse zielenden Ansprüche der radikalen Sozialisten abgewehrt werden. Nur aus dieser doppelten Frontstellung des Liberalismus erklären sich die von ihm eingenommenen Positionen. Sie wollten frei sein von alten Standeshemmnissen. Um ihren materiellen Besitz zu schützen, vertraten sie eine strikte Trennung von Staat und Gesellschaft. Damit kämpften sie gegen die damalige Utopie eines monistischen Herrschaftsmodells mit verstaatlichten („vergesellschaftlichen“) Produktionsmitteln an.
Spätestens mit Beginn des 20. Jahrhunderts waren die adlige Standesgesellschaft und ihre konservativen Vertreter keine realen Gegner mehr. Vom bisherigen Liberalismus spaltete sich ein Flügel ab, Vorläufer unseres Linksliberalismus. Der übrig gebliebene rechte Flügel wurde jetzt vom linken als „konservativ“ verunglimpft, also mit den verblichenen Vertretern der alten Standesgesellschaft verbal gleichgesetzt.
„In dem Maße, wie der Liberalismus im massendemokratischen Sinne umgedeutet wird, wird das, was von der konkreten geschichtlichen Bedeutung des Begriffes übrig bleibt, als ‚Konservatismus‘ apostrophiert und von den Befürwortern der Massendemokratie mit entsprechender Schärfe verurteilt, wobei freilich der Konservatismusbegriff seinerseits jeden konkreten geschichtlichen Bezug verliert und zum polemischen Schlagwort wird.“
Panajotis Kondylis, Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und lebensform, Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne, Weinheim 1991, S.171.
In erster Linie waren diese „altliberalen“, jetzt „Konservative“ genannten Liberale aber: Liberale, keineswegs wirklich Konservative. Sozial gesehen bildeten sie das Besitz- und Bildungsbürgertum. Als Liberale benötigten sie einerseits einen starken Staat, der sie vor Übergriffen der linken Verstaatlicher schütze, aber auf der anderen Seite wirtschaftliche Freiheit vom Staat, die ihnen ihren täglichen Wohlstand sicherte. Die von ihnen reklamierte Freiheit war die Freiheit, möglichst ohne viel (sozial-)staatliche Reglementierungen dem freien Spiel ihrer wirtschaftlichen Kraft freien Lauf zu lassen. Für solche, jetzt konservativ genannten Liberale konnte es nicht im Ansatz eine „soziale Frage“ geben.
Das war wirklich nicht ihr Thema. Bis heute hat jener Altliberalismus sich in manchen Köpfen gehalten, zum Teil in der FDP und der Werte-Union, ohne seinen liberalen Kern einzubüßen. Immer bildete der Wirtschaftsliberalismus den harten Kern der liberalen Idee. Alle liberale Angst speist sich aus dem Albtraum des Bürgers, ihm sein wohlverdienten Vermögen wegzunehmen und ihn am Geldverdienen zu hindern. Sein ganzes Freiheitspathos diente ihm zur ideologischen Abstützung seiner ökonomischen Ellbogenfreiheit. Sein politisches System der Trennung von Staat und Gesellschaft, der Zähmung des Leviathans „Staat“ und der bürgerlichen Freiheiten wäre historisch schlechterdings unerklärlich ohne dise Grundmotivation.
Ein Begriff liegt auf der Straße
Der Begriff des Konservatismus war unterdessen zum Chamäleon geworden und konnte nun abschätzig von einem Flügel des Liberalismus dem anderen aufgeklebt oder auch stolz von jedermann adaptiert und für sich reklamiert werden. Er lag in wechselnder polemischer Bedeutung in aller Munde und damit förmlich auf der Straße. Dort lasen ihn nach dem 1. Weltkrieg Rechte auf. Sie nannten sich nach ihm und waren erstens potentielle Revolutionäre.
„Konservativ im Zusammenhang der konservativen Revolution bedeutet zweitens antiliberal, wobei aber – und dies bleibt entscheidend – unter Liberalismus die atomisierte, massendemokratische, egalitäre und zugleich plutokratische Gesellschaft verstanden wird, in der materielle Werte und eudämonistische Lehren auf Kosten höherer geistiger und kultureller Belange vorherrschen.“
Panajotis Kondylis, Konservatismus, Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986, S.478.
Seit Bestehen der industriellen Massengesellschaft waren die Klagen über ihre atomisierenden Begleiterscheinungen nicht verstummt. Werner Olles formulierte sie erneut. Er fragt, wie Rechte denn heute zur sozialen Frage stehen.
Ursprünglich: gar nicht.
Die Rechte des 20. Jahrhunderts war nämlich aus dem Liberalismus hervorgegangen, und zwar aus demjenigen Flügel, dem der spätere massendemokratische Linksliberalismus das täuschende Etikett „konservativ“ verpaßt hatte, um ihn in Mißkredit zu bringen. Wie alle Liberale fürchteten die jetzt als Rechte bezeichneten um die wirtschaftliche Freiheit. Die Oktoberrevolution nebenan in Rußland und rote Fahnen in Berlin, Hamburg und München steckten ihnen in den Knochen. Viele waren bereit, den politischen Liberalismus zugunsten eines autoritären Staates aufzugeben, um den wirtschaftlichen zu retten.
Wenn man sich dieser Herkunft der Rechten bewußt ist, kann man an ihre Tradition und einer solchen Rechten kein Verständnis für soziale Fragen erwarten. Aus ihrer Sicht hat es immer nur eine soziale Frage gegeben: Wie rette ich mein Vermögen vor den gierigen Roten und ihrer Umverteilung?
„Da Privateigentum und Wirtschaftsliberalismus, auf welchem Niveau und in welcher Form auch immer, mit autoritären Mitteln gegen die Linke in Schutz genommen werden sollen, so besteht der programmatische Antikommunismus der Rechten aus einer Reihe von Grundsätzen, die eigentlich eine Umkehrung der kommunistischen Losungen darstellen:
An die Stelle der Klasse und des Internationalismus tritt die Nation und der Patriotismus, an die Stelle der universalen Emanzipation die traditionelle vaterländische Wertskala, an die Stelle des (pazifistischen) Humanismus das heroische Lebensideal, an die Stelle des Kollektivismus die Freiheit – und umgekehrt: an die Stelle des anarchischen Individualismus die soziale Disziplin und an die Stelle des politischen Liberalismus der Autoritarismus.“
Panajotis Kondylis, Der Konservativismus, S.504.
Das kennzeichnete rechtes Denken der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts bis hin zu rechten kommissarischen Diktaturen wie in Pinochets Chile und den griechischen Obristen nach ihrem Putsch. Rechtes Denken spiegelte das linke und bildete es indirekt ab.
Sowohl linkes als auch linksliberales und liberal-kapitalistisches Denken haben sich seitdem aber in Zielen und ihrer ideologischer Begründung erheblich verändert und verschoben, und diese Umpositionierungen ergriffen naturgemäß die Reaktionen der Rechten. Es macht zwar Rechten mächtig Spaß, Linke mit Bolschewismus-Vorwürfen aufzuspießen und ihnen die heimliche Sehnsucht nach der Diktatur des Proletariats nachzusagen, und Linke erklären gern Rechte für Kapp-Putsch-, Pinochet-Putsch- oder auch allgemein putschverdächtig und autoritätslüstern. Doch wo beide hinhauen, befindet sich der Gegner schon lange nicht mehr. Er hat, wie beim Hütchenspielen, schon lange die Position gewechselt.
Wenn man nicht ganz auf den Begriff einer Rechten verzichten will, wofür manches spricht, muß man ihn völlig neu denken, um ihn nach Antworten auf soziale Fragen abzuklopfen.
Wie lautet die soziale Frage?
Wenn der Begriff einer „sozialen Frage“ einen konkreten Sinn haben soll, kann er nur in den sozialen Auswirkungen der Massengesellschaft auf die Einzelnen in ihrer Bindung aneinander und zueinander bestehen. Das muß dann aber klar herausgestellt und präzise benannt werden, um nicht der ersten Begriffsverwirrung durch das Wort „Konservative“ die zweite folgen zu lassen, hier sei die ewig gleiche „soziale Frage“ der Linken gemeint.
Die soziale Frage der Linken besteht in mangelnder ökonomischer Gleichheit. Die soziale Frage der Rechten kann heute nur in mangelnder gesellschaftlicher Solidarität bestehen. Die Rechte ist Hüterin des Restbestandes bürgerlicher Werte und Tugenden in der Massengesellschaft. Hier haben alle jene Vorstellungen überdauert, die in der bürgerlichen Vorstellung einer funktionierenden Gesellschaft den sozialen Fugenkitt gebildet hatten: Familiensinn, Einstehen füreinander, Denken in Generationen, Heimatliebe.
Für sie gibt es in der Massengesellschaft keine Funktion mehr:
„Die Atomisierung der Gesellschaft setzte freilich damit an, daß im Zuge der Fortschritte der Industrialisierung die natürlichen Lebensverbände (Großfamilie, Hausgemeinschaft, Sippe, Dorfgemeinschaft) zum ersten Male in der Geschichte wirtschaftlich unbrauchbar, ja hinderlich wurden. Die bürgerliche Gesellschaft hatte aber die Tendenz zur Atomisierung weder in extremer Form gekannt noch gutgeheißen.
Sie behielt, wie wir wissen, den Glauben an die substanziellen Bindungen und die sozialen Voraussetzungen des Individuums und sah in der Familie die natürliche Zelle des sozialen Organismus. Erst unter den Bedingungen der Massendemokratie wurde die Atomisierung derart radikalisiert und legitimiert, daß die Mitglieder der Gesellschaft weitgehend mobil und miteinander austauschbar werden konnten.“
Panajotis Kondylis, Der Niedergang .., a.a.O., S.192 f.
Soziale Verhältnisse bilden erst dann eine soziale Frage, wenn jemand unter ihnen leidet. Die emanzipatorische Linke begrüßt den Fall aller traditionellen Lebensverbände als Befreiung. Ob die auf uns folgenden Generationen den Verlust überhaupt als Verlust wahrnehmen werden, ist ungewiß. Wir wissen nicht, ob kosmopolitische Errungenschaften ihnen ausreichenden emotionalen und materiellen Ersatz für das Verlorene bieten werden.
Eine soziale Frage wird daraus nicht, wenn niemand sie stellt. Jedenfalls ein Teil der Gesellschaft hat sich in der postbürgerlichen Gesellschaft häuslich eingerichtet. Dabei folgte er einem freundlichen Rat Niccolo Machiavellis: Wenn deine Ziele und Bestrebungen nicht zu den Zeitverhältnissen passen, wirst du scheitern. WhatsApp auf dem Handy erspart aber die Oma im Haus, auf die Kinder können statt der Oma auch „Kita-Fachkräfte“ aufpassen, und für die Alterssicherung sorgen die vielfältigen Netze des Sozialstaats.
Weil es die Konservativen gar nicht mehr gibt und ausgerechnet Liberale der falsche Ansprechpartner für soziale Fragen sind: Wer soll Antworten geben?
Wie lautet überhaupt die soziale Frage, und welche Antwort gibt die Rechte?
Sie müßte artikulieren, welche unabänderlichen menschlichen Grundbedürfnisse unerfüllt bleiben müssen in einer schönen neuen Welt herrlicher, untereinander austauschbarer Bürger und Bezugspersonen. Welche wesentlichen Komponenten unseres Menschseins verkümmern hier? Was für Menschen erzeugt die multifunktionale Verwendung jedes beliebigen Menschen an jedem beliebigen Platz?
Daß bisherige Solidargemeinschaften ihre Selbstverständlichkeit verloren haben, ist leicht zu verstehen. Es bedarf keiner näheren Erklärung, warum Eltern mit ihren Kindern solidarisch sind und im allgemeinen jeder umso solidarischer handelt, desto näher er sich dem Hilfsbedürftigen fühlt. In einer halbanonymen Massengesellschaft schmilzt aber nicht nur die eigene Identität als Mitglied einer Familie, eines Dorfes oder einer Heimat, es schwindet zugleich die Identifikation mit anderen Mitglieder solcher Gemeinschaften.
Statt in meinem Lebensumfeld solidarisch zu sein, soll ich plötzlich solidarisch sein mit völlig fremden Menschen, mit denen ich mich vielleicht gar nicht identifizieren mag. Massenanonymität und die Reduzierung der Menschen auf Funktionen wie des Verbrauchers zerstören die Bereitschaft, solidarisch zu handeln und Opfer zu bringen.
Indem die technischen Eigengesetzlichkeiten der Industriegesellschaft die identitätsstiftenden Lebensverbände (Großfamilie, Hausgemeinschaft, Sippe, Dorfgemeinschaft) außer Funktion und die solidarischen Bindungen weitgehend zerstört haben, kann zwischenmenschliche Solidarität nirgends andocken.
Das Entfremdungstheorem
Der „konservative“ Liberalismus hatte zentrale Tugenden und Werthaltungen des ständischen Konservatismus, seines alten Gegners, in sich aufgenommen und angeeignet: Treue, Pflichtbewußtsein, Tapferkeit, Unbestechlichkeit und vieles andere. Das waren ursprünglich Adelstugenden, keine Kaufmannstugenden. So spricht auch heute nichts dagegen, diese wiederzuverwenden oder weiterzuverwenden. Ebenso kann man auf die Kririk an sozialer Entwurzelung bzw. das Entfremdungstheorem zurückgreifen und es nutzen, ganz gleich, wer es schon einmal benutzt hatte. Ideen sind Waffen. Jeder kann sich ihrer bedienen.
Zu den klassischen Konservativen hatten Gutsherren wie von der Marwitz und von Gerlach gehört. Sie trauerten dem Verlust ihrer Patrimonialgerichtsbarkeit nach. In ihrer guten, alten Zeit der Ständegesellschaft, wußten sie, hatten ihre Bauern es unter ihrer Aufsicht gut. Im Liberalismus des späteren 19. Jahrhunderts, kritisierten sie, herrsche das Gesetz des Stärkeren und Listigeren. Hauptopfer seien die unteren sozialen Schichten, die jetzt in Städten und Fabriken schuften mußten und denen das als Freiheit und Gleichheit verkauft werde.
„In unzähligen Variationen und immer neuen mitleiderregenden Wendungen malen konservative Autoren bereits seit dem Ende des 18. Jahrhunderts das elende Leben der proletarischen Massen aus, die, plötzlich entwurzelt und ihrer traditionellen Bauerntugenden beraubt, sich in den Städten sammeln, sich maßlos vermehren und allen möglichen Lastern verfallen, während neu erfundene Maschinen oder eine zufällige Änderung des Geschmacks der Konsumenten und eine Umorientierung der Produktion sie jederzeit auf die Straße werfen können.“
Panajotis Kondylis, Konservativismus, S.363.
Das war ein erster Versuch, die sozialen Umwälzungen der technisch-industriellen Entwicklung geistig zu bewältigen. Eine Rückkehr zu den agrarisch-feudalen Lebensverhältnissen und ihren alten Bauerntugenden gab es aber nicht. Die Linke übernahm die Deutung der neuen Lage. Karl Marx verschob den Akzent der altkonservativen Kritik geringfügig und nannte die Entwurzelten „entfremdet.“ Wer eine Sache herstelle, lege einen Teil seiner Identität in sie. Stelle er aber gleichartige Werkstücke in Lohnarbeit her, sei ihm das nicht möglich und führe zur Entfremdung von seinem Produkt und seiner Tätigkeit, schließlich von seinen Mitmenschen.
Ob sich nun der proletarisierte Bauer seiner Bauerntugenden entäußert oder der Arbeiter sich im Werkstück nicht mehr wiederfindet, immer geht es um die Preisgabe von Identität und den nachfolgenden Verlust zwischenmenschlicher Bindungen. „Die Entwurzelung ist die Entfremdung der Rechten.“[1]
Diese Entfremdung oder Entwurzelung könnte heute eine neue soziale Frage aufwerfen. Die Antwort könnte in der Forderung bestehen, den Solidarität bindenden sozialen Grundeinheiten wie den Familien nicht nur ideelle Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen, wie sie typisch für Lippenbekenntnisse mancher Parteien sind.
Das menschliche Grundbedürfnis nach solidarischem Handeln bedarf eines Bezugspunktes, der gesellschaftlich auch funktioniert und den Solidarischen nicht verarmen läßt. Gegenwärtig knöpft man ihm als Zwangssolidaritätsabgabe einen Großteil seiner Einkünfte ab und steckt diese in die große staatliche Umverteilungs-Lotterietrommel. Ihm bleibt oft nichts zu teilen mehr übrig für solidarisches Handeln, zum Beispiel innerhalb seiner Familie. Er subventioniert massenhaft Leute, auch welche, die er zum Kuckuck wünscht, hat aber kein Geld mehr für die von ihm selbst bestimmten Solidargemeinschaften. –
Für die Linke scheint das alles heute kein Thema mehr zu sein.
Soziale Frage? Die Fragen liegen in der Luft, die Begriffe auf der Straße. Wer will, kann sie sich nehmen.
[1] Julika Rosenstock, Vom Anspruch auf Ungleichheit, 2015, S.107.
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