Die historischen Perspektiven einer Pandemie
Ist die Party vorbei? Nur als Party scheint ein Teil der jüngeren Generation das Leben verstanden zu haben. Eine ubiquitäre Eventkultur spülte immer wieder den gleichen Typus zusammen, jederzeit zu größtmöglichem Amüsement bereit. Doch nach dem Verdacht weiser alter Männer: unfähig zum selbständigen Leben wie zum Sterben, unfähig, mit Krisen und Schicksalsschlägen umzugehen wie einst die Generationen vor ihnen.
Aus dem Augenblick zu leben wie ein Sommerfalter, der nicht an den Winter denkt, ist häufiges Merkmal der Jugend. Verantwortung des Alters ist es, in langfristigen Perspektiven zu denken und die Krise geistig einzuordnen. Irgendwozu muß es ja gut sein, ein alter, weißer Mann zu sein. Das Gedächtnis alter Männer reicht weit zurück. Ein schneller Zugriff auf das Gedächtnis, ein kurzer Griff in den Bücherschrank:
1947 warnte ein M. Stanley vor einem tödlichen Virus, der durch Mutation entstehen und sich schnell weltweit ausbreiten könnte. Die Warnung inspirierte George R. Stewart zu seinem Roman „Earth Abides“[1], der mit der Radiobotschaft beginnt:
„… und die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika wird hiermit ihres Amtes enthoben, ausgenommen ist der Distrikt Columbia, als außerhalb des Notstandsgebietes gelegen. Die Bundesbeamten und -offiziere, einschließlich derjenigen der bewaffneten Streitkräfte, unterstellen sich der Befehlsgewalt der einzelnen Staaten oder den noch amtierenden örtlichen Regierungen und Verwaltungsstellen. Auf Befehl des Regierenden Präsidenten. Gott schütze die Bevölkerung der Vereinigten Staaten …“
George R. Stewart, Leben ohne Ende.
Im Roman schützte er sie leider nicht. Weltweit überlebte nur etwa einer auf 100000 Menschen die Virus-Epidemie. Kultur und Zivilisation brechen vollständig zusammen. Am Ende bilden die Nachkommen der wenigen Überlebenden eine steinzeitliche Gesellschaft. Seit ich mir den Roman am 4.2.1970 gekauft hatte, gibt es für mich im Ausblick auf die Zukunft kein „unvorstellbares“ Seuchengeschehen.
Der Philosoph und Psychiater Slavoj Žižek warnt in der NZZ vom 13.3.2020:
Der Haken dabei ist, daß die Coronavirus-Epidemie unser Zusammenleben fundamental verändern wird. Das Leben wird, selbst wenn es am Ende wieder zur Normalität zurückkehrt, auf andere Weise normal sein, als wir es vor dem Ausbruch gewohnt waren. […]
Das ist die verstörendste Lektion, die die anhaltende Virus-Epidemie für uns bereithält: Der Mensch ist viel weniger souverän, als er denkt. Er trägt weiter, was ihm zugetragen wird. Er spricht und weiß nicht, was er sagt. Er taucht auf – und irgendwann verschwindet er wieder von der Erdoberfläche. Das muß er aushalten können, ohne verrückt zu werden.
Slavoj Žižek, Der Mensch wird nicht mehr derselbe gewesen sein: Das ist die Lektion, die das Coronavirus für uns bereithält, NZZ 13.3.2020
Auch der Blick in die Vergangenheit zeigt die heftigen gesellschaftlichen und weltgeschichtlichen Veränderungen, die etwa eine Seuche wie die Pest in Europa erzeugt hatte. Bedauernswerte Kinder, deren historischer Rückblick in der Schule nur bis 1933 reicht, weil alles Frühere „gesellschaftlich nicht relevant“ zu sein schien.
1348-1349 wütete die Pest in Deutschland. Ein Fünftel der Deutschen starb schon bei ihrer ersten Welle einen schnellen Tod. Die Überlebenden waren bis ins Mark erschüttert. Sie verzweifelten an Gott und der Welt. Lebensgier und Todesangst griffen um sich, die Sitten wurden ungebundener. Das zeigte sich auch in der Erotisierung der Kleidung und der Zunahme von Konkubinat und Prostitution, Hexenglauben und zauberischen Praktiken[ii]. Manche flohen betend ins mentale Jenseits, die meisten aber in vergnügten sich in fröhlichem Taumel der Sinne und Lüste. Sie hatten gelernt: Jeder Tag konnte der letzte sein. In seiner Rahmenhandlung zu den Novellen im Dekamerone schildert uns der Zeitzeuge Giovanni Boccaccio (1313-1375) aufs eindrucksvollste, wie Gesetz, Ordnung und Moral im von der Pest heimgesuchten Florenz 1348 zusammenbrachen. Geistig begann der Epochenwechsel vom Mittelalter zur Neuzeit schon unter dem Eindruck dieses Zivilisationszusammenbruchs von 1348 und in den Folgejahren, nicht erst um 1500.[2]
Einige waren der Meinung, ein mäßiges Leben, frei von jeder Üppigkeit, vermöge die Widerstandskraft besonders zu stärken. Diese taten sich in kleineren Kreisen zusammen und lebten, getrennt von den übrigen, abgesondert in ihren Häusern, wo sich kein Kranker befand, beieinander. Hier genossen sie die feinsten Speisen und die ausgewähltesten Weine mit großer Mäßigkeit und ergötzten sich, jede Ausschweifung vermeidend, mit Musik und anderen Vergnügungen, die ihnen zu Gebote standen, ohne sich dabei von jemand sprechen zu lassen oder sich um etwas, das außerhalb ihrer Wohnung vorging, um Krankheit oder Tod zu kümmern.
Andere aber waren der entgegengesetzten Meinung zugetan und versicherten, viel zu trinken, gut zu leben, mit Gesang und Scherz umherzugehen, in allen Dingen, soweit es sich tun ließe, seine Lust zu befriedigen und über jedes Ereignis zu lachen und zu spaßen, sei das sicherste Heilmittel für ein solches Übel. Diese verwirklichten denn auch ihre Reden nach Kräften. Bei Nacht wie bei Tag zogen sie bald in diese, bald in jene Schenke, tranken ohne Maß und Ziel und taten dies alles in fremden Häusern noch weit ärger, ohne dabei nach etwas anderem zu fragen als, ob dort zu finden sei, was ihnen zu Lust und Genuß dienen konnte.
Giovanni Boccaccio, Dekamerone, Einleitung
Erscheinungen wie heute fröhliche Corona-Parties gab es also schon vor 700 Jahren. Doch die Zeit der Parties ist zunächst einmal vorbei. Wie langfristig Einstellungsänderungen sich auswirken werden, wird davon abhängen, ob Corona uns nur eine neue Art Grippe bringen wird, die saisonal ihre Opfer fordert, oder ob die Menschheit den Virus nicht in den Griff bekommen wird wie die Pest im Mittelalter. Dann wird es vielleicht der nächste, noch effektivere Virus sein.
Wenn das Sein das Bewußtsein bestimmt
Es kann nicht ohne Einfluß auf langfristige Verhaltensweisen bleiben, wenn die Menschen voneinander abrücken müssen. Ab sofort sind Swinger-Clubs geschlossen. Auch das sexuell freizügige Mittelalter endete nach der Pest:
Wie einem historischen Gesetz folgend gab es in Deutschland kulturelle Blütezeiten und völlige Zusammenbrüche mit massenhaftem Sterben: 1348, 1648, 1948, alle 300 Jahre. 1348 beendete die Pest das blühende Hochmittelalter. Das Jahr 1648 ließ die Renaissance vergessen und setzte den Schlußpunkt unter den 30jährigen Krieg. 1948 zerstörte das Land vollständig und hinterließ Millionen Tote. Jede dieser drei Jahreszahlen markiert einen mentalen Umbruch, und zwar immer nach demselben Schema: auf Massensterben folgte eine moralisch lockere Zeit: sexuell das ausschweifende Spätmittelalter auf die Pest 1348, das frivole 18. Jahrhundert auf den 30jährigen Krieg und die sexuelle Revolution der 1968er Jahre auf den 2. Weltkrieg. Und bisher jedesmal wandten sich später nachfolgende Generationen entsetzt von der „Sittenlosigkeit“ ab. Der Moralpegel stieg wieder an. Dem „puritanische Moraldruck“ am Ende des bürgerlichen Zeitalters um 1900 galten selbst „nackte“ Tischbeine als obszön, weil sie „zu gewagtesten Phantasien Anlaß“ geben könnten[iii].[3]
Immer gingen geisesgeschichtlichen Umschwüngen wie einer plötzlichen Moralisierung des Lebens gravierende Veränderungen der realen Lebensverhältnisse voraus. Es spricht nichts dafür, daß die uns jetzt aufgezwungene Änderung unserer realen Lebensverhältnisse ohne Einfluß auf unsere mentale Landkarte haben wird.
Dinge, die wir gewöhnlich als Teil unseres Alltags erlebt haben, werden nicht mehr als normal gelten; wir werden gelernt haben, ein weit zerbrechlicheres Leben mit ständigen Bedrohungen zu führen. Wir werden unsere gesamte Einstellung gegenüber dem Leben anpassen – gegenüber unserer Existenz als Lebewesen inmitten anderer Lebensformen. Anders gesagt: Wenn wir Philosophie als Bezeichnung für unsere Grundorientierung im Leben verstehen, werden wir eine echte philosophische Revolution erfahren. Wir werden nach Corona anders über uns selbst denken als zuvor.
Slavoj Žižek, Der Mensch wird nicht mehr derselbe gewesen sein: Das ist die Lektion, die das Coronavirus für uns bereithält, NZZ 13.3.2020
Gegenwärtig stellt die Corona-Krise vor allem ein hohes Risikopotential für jede Art von Kosmopolitismus dar. Nach allen Seiten offene Grenzen und die potentiell freie Austauschbarkeit von Menschen sind eine Funktionsbedingung jener Art von „One World“, die Wohlstand und Eudämonie für alle verspricht. Was den Wohlstand derer betrifft, die das nötige Kapital dazu haben, Menschen global wie Monopoly-Figuren hin und her zu schieben, ist dieses Versprechen bereits eingelöst.
So wundert es nicht, daß die Berichterstattung des Claus-Kleber-ZdF sich weniger um die Gesundheit konkreter Menschen zu sorgen scheint als um das Prinzip der offenen Grenzen. Wes Brot ich eß, des‘ Lied ich sing. Sobald das Brot aufgegessen sein wird, werden solche Vögel ein anderes Lied singen.
[1] Deutsche Fassung: Leben ohne Ende, bei Heyne, München 1966.
[2] Dieser Textabsatz ist entnommen meinem Buch „Das ewig Weibliche“, 2019, S.107 ff.
[3] Dieser Absatz vollständig aus meinem Buch „Das ewig Weibliche“, S.227.
[i] Das Fresko wurde am 29.3.1942 durch Luftangriff vernichtet, Abbildung hier nach Abzeichnung von Carl Julius Milde 1852.
[ii] Edith Ennen S.240.
[iii] Thomas Huonker, Vorwort zur Neuausgabe von 1985 von: Fuchs, Illustrierte Sittengeschichte, Bd.I 1, S.12.
Krönert
Klasse Gedanken! Klasse Text! am besten der letzte Satz! Der macht mir Hoffnung! Und der Vogel der Wende 89 wird wieder in Massen erscheinen:Der Wendehals.Alles Gute wünsche ich Ihnen persönlich,wie auch für ihre Schriften.LG