Neue Sehnsucht nach der Identität
Plötzlich sehnen sich alle nach Identität. Für Rechte ist das ein Heimspiel. Unter Losungen wie „Identität gegen Entfremdung“ ziehen sie seit Jahrzehnten gegen Tendenzen zu Felde, uns unsere nationale Identität madig zu machen.
Ich habe dieses Jahr erst unter dem Buchtitel „Identität oder Egalität“ nachdrücklich auf das Menschenrecht auf Ungleichheit hingewiesen. Ohne Selbstbestimmung der persönlichen und kollektiven Identität gibt es keine Freiheit. Eine globale One World ohne das Recht auf Differenz zum Anderen, ein multinationaler, amorpher Einheitsbrei von Konsumenten, ist eine Albtraumvorstellung.
Jeder möchte eine Identität haben. Wo massenhaft dieselben Güter konsumiert und dieselben stereotypen Serien geguckt werden, ist das für manchen schwierig. Auf Sinnsuche findet er nichts, bei der Selbstverwirklichung ist nicht genug Selbstsubstanz zum Verwirklichen vorhanden, und auf der Suche nach „ihrer Mitte“ findet manch eine kriselnde Persönlichkeit keine vor. Da ist jedes Sinnangebot willkommen, das dem schwächelnden Ich neuen Halt bietet, ein neues Zentrum, an das es sich lehnen kann. So vielfältig die Angebote sind, so divers sind die neuen Minderheiten mit jeweils eigener, geliehener Scheinidentität.
Jetzt reiben sich manche Rechte verwundert die Augen: Haben Linke Ihnen das Stichwort geklaut? Diese diskutieren heiß über „Identitätspolitik“, seit diverse „Minderheiten“ genau auf dasjenige Recht pochen, von dem Rechte sich die Rettung ihrer deutschen Identität erhoffen. Diese Minderheiten haben für sich entdeckt, was Linke früher nie wahrhaben wollten: Jeder Mensch besitzt eine persönliche Identität, die auch auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruht. Greift jemand diese Gruppenidentität an, verletzt er jeden Einzelnen, der sich der Gruppe zurechnet.
Für die Deutschen hatte sich im vorigen Jahrhundert keine Identitätsfrage gestellt. Ob man sie gerade amtlich zu Herrenmenschen erklärte oder ab 1945 wie den letzten Dreck behandelte, ob man ihnen vor 1918 erzählte, am deutschen Wesen werde einmal die Welt genesen, oder ob man ihnen gegen Ende das Jahrhunderts einredete, sie seien ein verbrecherisches Tätervolk, war doch immer klar: Die Identität lautete: deutsch.
Identitätenpolitik in der Massengesellschaft
Damit ist es vorbei. Auf deutschem Boden haben sich Parallelgesellschaften gebildet, die nicht deutsch sind und es auch gar nicht sein wollen. In großen Städten sind wir bereits in der Minderheit. Das Jahrhundert der Minderheiten ohne Mehrheit ist angebrochen. Sie drängen an die Macht. Ihnen im Weg steht die Mehrheitsgesellschaft mit ihren überlieferten Vorstellungen von einem guten und friedlichen Zusammenleben. Die für die Mehrheit normale Ideenwelt wird darum erbittert attackiert.
Immer geht es um die Zersetzung und Beseitigung der bestehenden Normen und Institutionen. Zu den Normen gehört die Erfahrung, daß ein Mann und eine Frau als Eheleute und als Eltern zwar keine Garantie, aber die bestmögliche Chance haben, miteinander glücklich zu sein und in ihren Kindern fortzuleben. Leidvolle Erfahrungen zeigen, daß dieses Glück des umfassenden Schutzes durch staatliche Institutionen vor krimineller Gewalt und anderen Nachteilen bedarf. Gute Erfahrung haben wir mit der Idee des freiheitlichen Rechtsstaates, der das gleiche Recht für alle gewährleistet und die Schwachen notfalls vor den Starken schützt.
Solange anderen nicht geschadet wird, läßt er selbst den perversesten Neigungen ihren Freiraum. Das genügt „Minderheiten“ aber nicht. Die taz beschwert sich:
Es wäre schön, wenn die Gesellschaft so weit wäre, dass überall alle sie selbst sein dürften. Ist sie aber leider nicht. Darauf zu reagieren ist ein Akt der Selbstverteidigung, der Selbstbehauptung, der Selbstermächtigung. Uns gibt es. Wir sind es wert, daß wir von der Norm abweichen dürfen und nicht im normierten Mainstream untergehen.
Kommentar der „Autorin“ Malte Göbel, Das Unbehagen der Identitäten, taz 22.1.2020
Es geht aber schon lange nicht mehr darum, jemandem für sich zu verbieten, von der Norm abzuweichen. Malte Göbel: „Das Problem ist, daß die gesellschaftliche Realität anders aussieht. Die Normen in dieser Gesellschaft sind real und auch die daraus resultierenden Machtstrukturen.“ Wer von der Norm abweicht und an die Macht gelangen will, muß die geltende Norm zerstören und seine eigene Befindlichkeit als neue Norm durchsetzen.
Damit „Minderheiten“ die Macht ergreifen können, müssen sie also zunächst die bestehenden gesellschaftlichen Normen und Institutionen abräumen. Diesem Ziel dient ihre „Identitätspolitik“. Sie wurde schnell von Kommunisten als Instrument erkannt, das ihnen verhaßte demokratische System zu zerstören. Der englische Publizist Douglas Murray fand den Nukleus des marxistischen Paradigmenwechsels in den Arbeiten der „Postmarxisten“ Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Diese wandten sich vom „traditionellen Diskurs des Marxismus“ ab, der sich auf den Klassenkampf und die ökonomischen Widersprüchlichkeiten des Kapitalismus konzentriert habe. „Doch jetzt“, schreibt Murray, „müsse das Konzept des Klassenkampfes neu geschrieben werden, weshalb sie die Frage aufwerfen:“ „In welchem Umfang ist es notwendig geworden, das Konzept des Klassenkampfes zu modifizieren, um mit neuen politischen Themen – Frauen, nationale, ethnische und sexuelle Minderheiten, Anti-Atomkraft- und institutionskritischen Bewegungen – von eindeutig anti-kapitalistischem Charakter umgehen zu können, deren Identität jedoch nicht auf bestimmte Klasseninteressen ausgerichtet ist.“ [1]
Die postkommunisten Zerstörer unserer demokratischen Normen und Institutionen fahren gern auf dem Trittbrett der „Minderheiten“. Doch was bewegt diese selbst?
Die sozialpsychologische Antwort
In der Neuen Zürcher Zeitung vom 20.6.2020 hat Alexander Grau eine brillante sozialpsychologische Analyse vorgelegt. Ihr Ausgangspunkt ist die historische Einordnung unserer Zeit als fortgeschrittene Massengesellschaft.
Während jeder Mensch Identität(en) benötigt und sucht, gibt es keine sie stiftenden Sinnangebote mehr. Insbesondere prägt nicht mehr die frühere Vorstellung einer durch einen göttlichen Vater geschaffenen und geordneten Welt die Gesellschaft. Hier hatte jeder seine vorgegebene Identität: als Mensch, als Sünder, als Frommer oder, den Geboten folgend, jeweils in seiner Rolle als Kind, Gatte oder Eltern. Die Aufklärung ließ Gott abtreten.
Im 16. Jahrhundert bildete sich die Idee der menschlichen Würde heraus.Udo Di Fabio, 1999 bis 2011 Richter am Bundesverfassungsgericht, identifizierte als materiellen Kern der Idee und Sinn des Begriffs „Würde des Menschen“ die säkularisierte christliche Vorstellung von der Gottesebenbildlichkeit jedes Menschen.[2]
„Der moderne Ursprung dieser radikalen Idee liegt auf der Hand. Der Humanismus, repräsentativ verewigt durch die kleine Schrift Pico della Mirandolas über die Würde des Menschen, beginnt die Konstruktion seines Ideengebäudes mit einer im Grunde nur notdürftig kaschierten Gotteslästerung. Die biblische Offenbarung, wonach jeder einzelne Mensch ein Ebenbild Gottes sei, wird von seinen transzendenten theologischen Wurzeln und den praktischen Demutsermahnungen getrennt. Die jeweils einzelne Gottesebenbildlichkeit wird zur Identität des Menschseins schlechthin gemacht, wenn jeder Mensch auf Erden in den Rang eines gottgleichen Schöpfers erhoben wird und jeder als Schöpfer seines Schicksals, im Range gleich.“
Di Fabio, Udo, Die Kultur der Freiheit, 2005, S.98.[3]
Gott wurde von seinem Thron gestoßen und der Mensch vergöttlicht. Während die Mehrheit mit ihrer Identität zufrieden ist, sehen von deren Normen Abweichende ihre große Chance, die Mehrheitsnormen zu zerstören und – gottgleich – ihre eigenen Normen und ihren persönlichen Lebensstil zu schaffen und durchzusetzen.
Denn jede Frage des Lebensstils, jeder Lebensentwurf will nun genau bedacht sein. Es entsteht das, was der Soziologe Ulrich Beck die postreligiöse Theologisierung des Alltags genannt hat: «Die Entscheidungen der Lebensführung werden ‹vergottet›. Fragen, die mit Gott untergegangen sind, tauchen nun im Zentrum des Lebens neu wieder auf.»
Es gibt keine belanglosen Entscheidungen mehr. Alles wird wichtig und bekommt Bedeutung. Jede Lebenshandlung hat nun symbolischen Gehalt. Jeder Einkauf, jeder Jobwechsel, jeder Sexualpartner wird zu einem Bekenntnis für einen bestimmten Lebensentwurf. Das Ich ist sein eigener Erlösergott geworden.
Doch Götter reagieren empfindlich auf Kritik. Jeder Tadel, jede Mißbilligung ist für sie Häresie. Götter wollen angebetet werden. Das gilt für die Götter archaischer Zeiten, aber auch für die vielen kleinen Millionen Götter der Moderne: Der emanzipierte Individualist unserer Gegenwart will sein Leben radikal autonom führen – und seine Sicht auf sich selbst ist die einzig wahre. Also bitte schön: Die Gesellschaft hat dabei Applaus zu spenden, besser noch Verehrung.
Alexander Grau, Liberalismus ade: Wie der moderne Hyperindividualismus zum Hyperetatismus führt, NZZ 20.6.2020.
So schnell der Vorhang der Aufklärung sich öffnete und Menschen erkannten, daß wir nur „Zigeuner am Rande des Universums“ (Jacques Monod) sind, so schnell schloß er sich wieder. Anstelle der Gott zugewandten Religion trat eine Theologie der Vergöttlichung des Menschen. Grau schreibt treffend:
Das Individuum der emanzipatorischen Moderne möchte nicht nur den Applaus der Masse. Als kleiner Selbsterlösungsgott verlangt es nach einer Echokammer, in der den eigenen Idealen im Kreis Gleichgesinnter gehuldigt wird. Es bildet sich eine soziale Gruppe, deren Mitglieder Götter und Klerus in Personalunion sind: die Minderheit. Hier zelebriert man nicht nur die eigenen Lebensideale als Kult, sondern erhebt sich als Gemeinschaft der Inkarnierten über die Masse. Und das mit Erfolg. Denn in einer Gesellschaft, in der jeder anders sein will, wird die Zugehörigkeit zu einer Minderheit zum Beleg authentischen Selbstseins: Ich bin Minderheit, also bin ich.
Entsprechend wird die Minderheit auch moralisch aufgewertet. Als Produkt des modernen Individualismus übernimmt die Minorität auch dessen moralisches Überlegenheitsbewußtsein. In den Minoritäten und Subkulturen sammeln sich die Unangepaßten und Nonkonformisten und damit die Vorkämpfer eines auch aus ethischer Sicht überlegenen Lebensstils.
Von der Postdemokratie zu ihrer Zersetzung
Während sich die neue Minderheitentümelei sozialpsychologisch aus dem religiösen Bedürfnis erklären läßt, bildet sie gefährlichen Sprengstoff für unsere Demokratie. Die Normen, Institutionen und Spielregeln werden von der Mehrheit bestimmt. Die unter ihrem rechtlichen Schutz stehenden neuen Minderheiten akzeptieren das aber nicht.
Demokratietheoretisch wäre das kein das System gefährdendes Problem. Das Dilemma wird der Demokratie von einer politologischen Konstruktion namens Pluralismus eingebrockt. Dieser zählt nicht zu den Wesensmerkmalen der Demokratie, sondern fließt aus anderen ideologischen Quellen. Er besagt, alle Lebensentwürfe müßten gleichberechtigt sein. Das wäre schön und gut, würden sich alle damit bescheiden.
Viele der „Lebensentwürfe“ und neuen Minderheiten-Identitäten genügt das aber nicht. Sie wollen das System sprengen und an die Macht. Das Dilemma des Pluralismus besteht darin, daß er diejenigen schützt, die ihn beseitigen wollen. Sie drängen die Mehrheit zurück. Grau zufolge weicht der Staat vor ihnen zurück und fällt ihnen zum Opfer:
War dieser bis Ende des 20. Jahrhunderts Garant allgemeiner liberaler Grundrechte, so verwandelt er sich in der tribalisierten Minderheitengesellschaft zum Sachwalter des Schutzes von Minoritäten und Partialinteressen. Diese werden umgesetzt, indem der Staat allgemeine Bürgerrechte zurückschraubt: Er verordnet Quoten, greift so in das Eigentumsrecht oder das Wahlrecht ein und versucht, die Sprache zu reglementieren.
Das erklärt, wie der amerikanische Politologe Patrick J. Deneen betont, «warum heutige liberale Staaten – ob in Amerika oder Europa – gleichzeitig dirigistischer und individualistischer geworden sind». Emanzipation und Individualismus erzeugen «einen sich selbst verstärkenden Kreislauf, in dem das zunehmend entwurzelte Individuum den Staat stärkt, der es hervorgebracht hat».
Diese Tendenz wird noch dadurch verstärkt, daß in einer tribalisierten Gesellschaft unterschiedlichste Minderheiten aufeinandertreffen, die in Konkurrenz um die materiellen und ideellen Ressourcen treten. Dabei ergeben sich zwangsläufig Konflikte zwischen einander widerstreitenden Minderheitsidentitäten.
Alexander Grau
Viele Bürger wundern sich seit Jahren, warum unser Staat in immer mehr Lebensbereiche regelnd, fordernd und verbietend eingreift. Während unser Staat nicht mehr in der Lage ist, eine funktionierende Armee aufrechtzuerhalten und die innere Sicherheit zu garantieren, versickern Millionen um Millionen in dubiosen „bunten“ Kanälen, werden Gebührenverweigerer härter verfolgt als Randalierer immer mehr Menschen zu staatlich ausgehaltenen Kostgängern und Sozialstaatsuntertanen. Unser Staat wird zunehmend machtloser und zugleich autoritärer. Als schwacher Staat zeigt er sich bei der Verteidigung seiner grundlegenden Werte, Normen und Institutionen, als starker Staat führt er sich auf, seine Bürger administrativ zu gängeln, was sie tun sollen und lassen müssen, ja selbst wen sie lieben müssen und nicht hassen sollen. Grau beobachtet, wie er sich zum autoritären Regelungsstaat mausert:
Die daraus entstehenden Konflikte zwischen verschiedenen Minoritäten sind in einer pluralistischen Gesellschaft jedoch nur durch einen allmächtigen Regelungsstaat auflösbar. Dessen autoritärer Gestus wird noch dadurch gestärkt, daß er nicht im Namen schlichter Macht agiert, sondern als Hüter der überlegenen Minoritätenmoral.
Der Liberalismus erstickt an seinen eigenen Idealen.
Alexander Grau
Die neuen Ideale werden uns bereits täglich im Staatsfernsehen eingetrichtert. Sie sind allerdings gar nicht mehr liberal.
[1] Laclau / Mouffe, Socialist Strategy: Where next, in: Marxism today, Januar 1981, zit.nach Douglas Murray, Wahnsinn der Massen, 2019. S.79
[2] Di Fabio Die Kultur der Freiheit, 2005, S.114, ebenso Herdegen (2005) in Maunz-Dürig-Herzog, Grundgesetz-Kommentar, Art. 1 I GG Rdn.7.
[3] Di Fabio a.a.O., S.98.
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