Konservative wohin man blickt?

Eine Buchbesprechung von Uwe Sauermann

Wer oder was ist ein Konservativer? Ein Soziologe, der hundertfünfzig Jahre oder weiter zurückblickt, kann diese Frage ohne Zweifel beantworten. Aber in der Gegenwart? Kremlastrologen witterten „Konservative“ in der Führung der KPdSU. In den USA griffen Neocons zur Macht, die einen „Mitfühlenden Konservatismus“ propagierten und entlegene Erdteile mit Kriegen überzogen. „Konservative“ gibt es in der CDU, wenn auch auf dem Abstellgleis.

Wer oder was ist ein Rechter? In der Presse liest man vom „rechten Seeheimer Kreis“ der SPD, von „Parteirechten“ selbst bei den Linken. Das rechte Lager bildete sich ursprünglich in den Abgeordneten ab, die in den Parlamenten auf der rechten Seite saßen. Waren das nicht die Konservativen? Aber bis 2013 saß im Bundestag die FDP rechtsaußen. Was als „rechts“ zu gelten hat, scheint also nicht klar zu sein. Doch jetzt gibt es ein Buch von Klaus Kunze, das in Zukunft als Maß dafür gelten kann, wer mit Recht als „Rechter“ zu gelten hat und wer nicht. Sein Buch „Die solidarische Nation“ ist, obwohl der Titel darauf hindeuten könnte, nicht etwa ein weiterer Versuch der „Linken Leute von Rechts“; Kunze unternimmt es nicht, sich anschlussfähig an den Zeitgeist heranzuschreiben, sondern sein Buch ist das Manifest eines genuin Rechten.

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Klaus Kunze bekennt sich so wie Yoram Hazoni zum Nationalismus als Gegenentwurf zum Imperialismus. Er eiert nicht herum mit schwammigen Begriffen wie „Patriotismus“, die für Untertanen eines „Landesvaters“ noch einen Sinn gehabt haben mögen. Wir lernen daraus: ein Rechter ist erstens ein Nationalist. Und zweitens? Nationalgefühl ist gelebte Solidarität, sagt Kunze, und da gerät neben der Nation und dem Staat das leibhaftige Volk ins Spiel. Kunze ist kein Schwärmer: als Jurist beurteilt er das Volk nüchtern und weiß, dass es auch wie eine Hammelherde mit Masken vor Mund und Nase herumtraben kann. Dennoch fühlt er sich auch dem Schwächsten zugehörig und verbunden. Der Nationalstaat hat die Aufgabe, für die Menschen da zu sein und ihre Institutionen in Form zu halten. Tut er das nicht, hat er seine Aufgabe verfehlt und löst sich schließlich auf.

Gibt es Liberalkonservative?

Wie kommt es aber, dass diese Forderung nicht Gemeingut geworden ist, dass „Rechte“ mit libertären Ideen liebäugeln, dass sie sich als „Konservative“ oder gar „Liberalkonservative“ bezeichnen? Die Antwort könnte kurzweg lauten: diese Leute sind eben keine Rechten. Aber so einfach macht es sich Kunze nicht. Er begibt sich auf die Suche nach dem Ursprung des Irrwegs, auf dem sich viele Rechte derzeit befinden. Wie können sie die „soziale Frage“ (und nebenbei: die Ökologie) für linkes Gewäsch halten?

Die Antwort klingt kompliziert, ist aber wohl in sich stimmig. Die deutsche Rechte hat sich in der Nachkriegszeit, von Ausnahmen abgesehen, erst spät aus der Deckung gewagt. Sie hat stattdessen den Tarnnamen „Konservatismus“ gewählt. Armin Mohler hat zum Beispiel seine Dissertation „Die Konservative Revolution in Deutschland“ genannt, obwohl diese Umschreibung für die meisten der Akteure während der Weimarer Republik nicht zutraf. Die empfanden sich als Rechte, gelegentlich als „Linke Leute von Rechts“ oder als Vertreter einen „Neuen Nationalismus“. Erst 1974 hat sich Armin Mohler (zum Unbehagen vieler seiner Freunde) in seinem Buch „Von rechts gesehen“ unumwunden zu seinem Rechtssein bekannt. Diese jahrzehntelange Tarnung hat (wenn auch nicht bei Mohler) schließlich zu einer Vermischung der Begriffe „rechts“ und „konservativ“ geführt, und dies mit höchst bedauerlichen Folgen für die „Rechte“.

Was ist Konservatismus? Es war der Kampf der alten Eliten gegen die Ideen der Französischen Revolution und gegen den Wegfall ihrer in der ständischen Gesellschaft erworbenen Privilegien. Dieser Kampf war spätestens mit dem Ende des Kaiserreichs 1918 beendet. Seitdem gibt es keinen soziologisch begründeten Konservatismus mehr. Wer sich danach und bis heute „konservativ“ nannte, hatte einen mehr oder weniger geschickt versteckten liberalistischen Giftstachel.

Echte Konservative gab es also nicht mehr. Ideengeschichtlich hat sich die Weiterentwicklung des entleerten „Konservatismus“ Klaus Kunze zufolge so abgespielt: Der deutsche Liberalismus war im 19. Jahrhundert „fortschrittlich“, nationalistisch, denn die Einigung des Reiches schuf wirtschaftlich ungeahnte Möglichkeiten der Häufung von Reichtum. Von den besitz- und bildungsbürgerlichen Altliberalen trennten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts aber die eher linksstehenden Liberalen, die den „Liberalismus“ allmählich zu ihrem eigenen Markennamen machten, während sie die zurückgebliebenen Altliberalen zu „Konservativen“ erklärten, eine Bezeichnung, mit der die Altliberalen sich schließlich versöhnten.

Aber diese „Konservativen“ blieben Liberale, Wirtschaftsliberale, und sie blieben es bis heute. „Für solche, jetzt konservativ genannten Liberale konnte es nicht im Ansatz eine ‚soziale Frage‘ geben“, schreibt Kunze. Das rächte sich am Ende der zwanziger Jahre. Der Sieg des Nationalsozialismus ist sicher auch damit zu erklären, dass das Volk instinktiv erfasst hatte, dass die ursprünglich überwältigend starke konservative Deutschnationale Volkspartei, gemessen an der NSDAP Hilters eine Splitterpartei war, eben eine wirtschaftsliberale, keine Volkspartei.

Auch „konservativ“ lackierte Liberale folgen ihrer Ideologie, und die führt heute zwangsläufig zum Neoliberalismus. Würden Liberale vor dieser Extremform ihres Glaubens zurückschrecken, würden sie ihre Ideale verraten. Dazu schreibt Kunze:

Der Neoliberalismus wünscht sich einen Staat, der den Kapitaleignern gegenüber schwach, aber auf der anderen Seite so stark ist, daß er die finanziell nicht so begünstigte Mehrheit der Bevölkerung wirksam davon abhalten kann, auf dumme Gedanken zu kommen.“

Staat um der Menschen willen

Auch ein Neoliberaler ist also zur Absicherung seiner Interessen für einen starken Staat und könnte sich zeitweise für eine „rechte“ Partei begeistern. Eine echte Rechtspartei würde sich allerdings davor hüten, einen Staatsgedanken zu vertreten, der dem Schutz von Finanzhaien dient, bevor die mit ihrem Neoliberalismus den Staat zugrunde richten. Der Staat ist um der Menschen willen da, und deshalb hat der Staat, wie ein Rechter ihn sich denkt, ein Sozialstaat (aber: kein Wohlfahrtsstaat) zu sein. Er soll Leistende fördern und Bedürftige schützen.

Klaus Kunze ist nicht sentimental, wenn er dies fordert, sondern es sind rationale Gedanken, die ihn zu der Erkenntnis bringen, dass „Soziales und Nationales ineinandergreifen“, wie es im Untertitel der „Solidarischen Nation“ heißt. Das bedeutet für einen Rechten aktuell: ein „weiter so“ darf es nicht geben angesichts einer dilettantischen Politik, des Vormarschs des Neoliberalismus, des Überbordens des bürokratischen Sozialstaats und der unkontrollierten Masseneinwanderung. Gefragt ist nicht weniger als die Neuformierung oder Wiedererweckung des auf nationaler Solidarität gegründeten Staates. Wiedererweckung?

Tatsächlich schweben Kunze die Soziale Marktwirtschaft und der Sozialstaatsgedanke der frühen Bonner Republik vor. Aber bis dahin muss Aufräumungsarbeit geleistet werden. In der Frühzeit des westdeutschen Staates gab es noch traditionsbewusste und am Wohl der Nation orientierte Politiker, Ökonomen und Sozialpolitiker. Mit denen wäre eine fast bedingungslose Öffnung des Staates für den alle Grenzen niederreißenden Neoliberalismus nicht zu machen gewesen. Heute haben wir Parteipolitiker, für die der Neoliberalismus Glaubensbekenntnis ist, die nicht mehr mit dem „einfachen Volk“ fühlen, die in ihrem abgeschotteten Raum aufwachsen: Parteijugendfunktionär – Ellenbogenkampf bis zum Abgeordnetenmandat – Staatssekretär – als Krönung vielleicht Richter beim Bundesverfassungsgericht.

Rechts und verfassungstreu

Und wir haben Massen von staatlich alimentierten Vorfeldorganisationen der Parteien, die fast alle neoliberalistisch orientiert sind. Klaus Kunze ist es sicherlich bewusst, dass selbst sein eigentlich bescheidener Rückgriff auf die Soziale Marktwirtschaft und den ursprünglichen Sozialstaatsgedanken Titanenkämpfe erfordern wird.

Aber er vertraut, für einen Juristen naheliegend, auf das Grundgesetz: haben nicht dessen „Väter“ genau das gewollt, was in der frühen Bonner Republik sich verfassungsgetreu manifestiert hat? Wollten sie das, was sich heute tut, gerade nicht? Nur ein Staat, der Energien genug hat, den Neoliberalismus mitsamt seiner zwangsläufigen Begleiterscheinungen wie Bevölkerungsumschichtung, Lohndumping, Monopolbildungen oder Privatisierungen abzuweisen, kann als Nationalstaat mit einer solidarischen Verfassung überleben. Die derzeitige BRD gehört nicht dazu. Klaus Kunze ruft seine Leser auf, dies nicht nur zu erkennen und damit vielleicht alle Zukunftshoffnungen fahren zu lassen, sondern sich einzumischen. Das Grundgesetz gilt schließlich immer noch, und es ist in Kunzes Augen sehr gut brauchbar als Fundament einer wiedererweckten Solidarischen Nation.

Wer ein wirklicher Rechter ist, dem die „Konservativen“ in seiner Umgebung schon immer ein schwer erklärliches Unbehagen bereitet haben, findet in diesem Buch handfeste Argumente. Es ist ein Manifest der aktuellen Rechten, an dem sich die Geister scheiden werden, und das ist gut so und vom Autor sicher so gewollt. Genuine Rechte werden sich darin wiedererkennen und das Buch nicht nur mit stillem Vergnügen lesen, sondern es in ihrem Umfeld verbreiten.

Uwe Sauermann

Uwe Sauermann studierte in München und Augsburg Politische Wissenschaften, Neueste Geschichte und Völkerrecht. Obwohl es mehrere Veröffentlichungen zu Niekisch gab, ist Sauermanns Werk bis heute die materialreichste und gelungenste Analyse von Ernst Niekischs Zeitschrift „Widerstand“. Uwe Sauermann war später für das öffentlich-rechtliche Fernsehen tätig, schon vor dem Ende der DDR Korrespondent in Ost-Berlin und Leipzig, produzierte zeitgeschichtliche Filme und berichtete danach für die ARD u.a. aus Indien, Irak und Afghanistan. Er lebt heute in Berlin.