Die bürgerlichen Flügel der AfD – nationaler Imperativ oder Tanz um das goldene Kalb?

Selbst Linke möchten heute bürgerlich sein

Alle möchten sie die Bürgerlichen sein, selbst die Grünen. Der Streit um das Prädikat „Bürger“ tobt seit einem Jahrhundert, auch innerhalb des nationalen Lagers. Am 17. März 2021 griff sogar der von Herkunft tscherkessische Grüne Özdemir den AfD-Vorsitzenden Jörg Meuthen in einer Talk-Schau an:

Özdemir schießt schnell zurück, meint, das sei ein „ziemlich raffinierter Trick“ von Meuthen. „Jetzt sind Sie hier in der Sendung und machen so einen auf bürgerlich und die anderen Parteimitglieder reden auf den Demonstrationen.“
Meuthen antwortet nur: „Ich bin bürgerlich.“

Focus-Text zum ZDF-Video

Es gibt zu denken, daß inzwischen selbst ein Funktionär der alten Revoluzzer-Partei die Bürgerlichkeit positiv affirmiert, seiner rechten Konkurrenz aber abspricht. Auch in der AfD adelt sich mit Bürgerlichkeit, wer sie seinen Gegnern abspricht: Unter dem hämischen Applaus der linken Konkurrenz eignen liberale Konservative sich gern die alleinige Bürgerlichkeit an und sprechen sie ihren mehr nationalen Parteifreunden ab.

Wenn ein Begriff sich einmal allgemein durchgesetzt hat, müssen auf seinem Boden unweigerlich Auseinandersetzungen um seine richtige Auslegung stattfinden. Jedes Lager versucht, ihn für sich allein zu reklamieren. So geschah es einst mit Begriffen wie Demokratie, so geschah es im 20. Jahrhundert mit dem Schlagwort Sozialismus, und so geschah und geschieht es mit der Bürgerlichkeit. Alle möchten gern Bürger sein.

Daß rechtlich jeder Bürger ist, der die Bürgerrechte hat, Ausländer also nicht, versteht sich von selbst. Darum geht es in der politischen Arena nicht. Es geht auch nicht um die soziologische Dimension: Vor hundert Jahren konnte man noch von einem Bürgertum, einem Bauernstand und einer Arbeiterklasse sprechen. Die industrielle Massengesellschaft und Jahrzehnte des sozialen Umverteilungs-Egalitarismus haben das obsolet gemacht. Es gibt kein Bürgertum im Sinne eines nach Merkmalen und Lebensstil klar abgrenzbaren Standes mehr.

Der fette Burgeois

Ein besonders idealistischer Teil der Bürgersöhne verzweifelt seit Jahrzehnten an der Bürgerlichkeit. Er beobachtet an ihr selbstzufriedene Trägheit, einen egoistisch auf das Materielle beschränkten Horizont und angepaßten Untertanengeist. Vor diesem Geist hatte einst der Dichter Theodor Storm seinen Sohn gewarnt:

Was du immer kannst, zu werden
Arbeit scheue nicht und Wachen;
Aber hüte deine Seele
Vor dem Karrieremachen.

Wenn der Pöbel aller Sorte
Tanzet um die goldnen Kälber,
Halte fest: du hast vom Leben
Doch am Ende nur dich selber.

Theodor Storm
Steiler Abstieg: vom mediterranen Stierkult zum goldenen Kalb als Symbol werteblinder Vergötzung des schnöden Mammons.
Nicolas Poussin, Die Anbetung des goldenen Kalbes, 1633 / 1634
(gemeinfrei, Wikiwand)

Solche Karrieremacher, von Idealisten verächtlich als „Scheiß-Bourgeois“ bezeichnet, prägen seit Jahrzehnten das Bild unserer ewigen Regierungsparteien. Derselbe Menschentypus hatte zuvor bereits die politischen Systeme der DDR, des 3. Reiches und des Kaiserreiches mitgetragen. Wo immer ein Zug einfährt, in dem es Freibier, Würstchen und bezahlte Posten für alle gibt, springen Trittbrettfahrer auf – auch die AfD bildet da keine Ausnahme.

So richtet sich der ganze Zorn junger Idealisten gegen den Tanz um die goldenen Kälber, den Vorrang des Eigeninteresses und schließlich gegen die Geldwirtschaft als solche. Wo es nur noch um Geld geht, bleiben die Ideale auf der Strecke. Auf der sicheren Grundlage der bürgerlichen Existenz seines Elternhauses läßt sich leicht räsonnieren gegen den Kapitalismus: Er zerstört das Klima und ist ungerecht, schimpfen die einen Bürgerkinder, an ihm gingen die Völker zugrunde, bemängeln die anderen.

Auch die Auseinandersetzung zwischen dem selbsternannten bürgerlichen Teil der AfD mit seinen liberalen, kapitalismusaffinen Neigungen und ihrem eher kapitalismuskritischen Flügel findet auf dem Boden derselben Bürgerlichkeit statt. Das gilt jedenfalls, wenn man diese soziologisch und habituell definiert.

Nationalliberale gegen Nationalisten

Ideologisch hingegen verläuft die Scheidelinie zwischen Alt-Nationalliberalen und Nationalisten. Beispielhaft erkennen wir sie in einem Briefwechsel zwischen dem nationalen Dichter Hans Grimm (1875-1959) und dem Nationalrevolutionär Ernst Niekisch (1889-1967). Sie verstanden sich nicht und redeten aneinander vorbei.

Beide verstanden nämlich, wie Grimm schrieb, „unter Bürgerlichkeit etwas ganz anderes“.[1] Niekisch antwortete darauf:

Unter bürgerlicher Gesinnung verstehe ich jene Gesinnung, die bewußt Wirtschaftswerte zu den obersten Werten erhebt (nochmals: ‚Wirtschaft ist Schicksal‘). Sie kann nationalen politischen Werten bei alledem noch mancherlei bedingte Anerkennung zollen (wie es selbst in den USA geschieht). Ihr setze ich die nationale Gesinnung entgegen, welche nationalpolitische Wert an die erste Stelle rückt und auch das Privateigentum nur bedingt gelten läßt.

Ernst Niekisch an Hans Grimm, um 1930, in: Hans Grimm, Suchen und Hoffen, Aus meinem Leben 1928-1934, Lippoldsberg 1960, S.53.

Während Niekisch mit intellektueller Präzision diesen philosophischen Dreh- und Angelpunkt hervorhob, vertrat Grimm als Dichter einen rein habituellen, auch historisch grundierten Begriff von Bürgerlichkeit. Er sah sie als Ergebnis einer in aufeinander folgenden Generationen erworbener Haltung an und fügte hinzu,

daß altbürgerliche Art sich durch Nachwuchs aus dem ganzen Volk immer wieder lebendig erhalten hat, daß sie freilich in  e i n e r  Generation nie erworben wurde, sondern viele Jahre erfüllter bürgerlicher Pflicht, viele Jahre bescheidenen Wohlstandes, viele Jahre ehrfürchtigen Lernens hat ein Geschlecht nötig, ehe altbürgerliche Haltung und Empfindlichkeit bei ihm zum Ausdruck kommt und sich schöpferisch äußert.

Hans Grimm, Suchen und Hoffen, Aus meinem Leben 1928-1934, Lippoldsberg 1960, S.55.

Hans Grimm hätte Niekisch entgegenhalten können, daß gerade das besitzende Bürgertum des 19. Jahrhunderts eine spezifische Ideologie entwickelt hatte. Mit ihr war es unvereinbar, einen von mehreren Werten zum obersten Wert zu erheben und andere notfalls zu opfern. Materieller Wohlstand war die Voraussetzung, sich umfassende Bildung anzueignen. Die bürgerliche Interessenlage erzeugte den politischen Liberalismus. Gefordert wurde wirtschaftliche Freiheit, sich diesen Wohlstand aneignen zu dürfen. Altliberales Denken suchte alle Gegensätze nicht aufzuheben, sondern miteinander zu versöhnen und zu einer harmonischen höheren Einheit zu verschmelzen: Wie ein Uhrwerk sollten Staat, Gesellschaft und Wirtschaft aus unterschiedlichen, aber einander ergänzenden Teilen zusammengefügt werden.

Mit diesem bürgerlichen Harmoniedenken ist nicht nur Klassenkampf schlechthin unvereinbar, sondern jede Ideologie, die ein Gestaltungsprinzip zum allein maßgebenden erklärt und notfalls die anderen opfert. Niekisch wollte notfalls das ökonomische Prinzip dem nationalen opfern, was dem eher Nationalliberalen Grimm unverständlich blieb. Etwa in der Zeit jenes Briefwechsels zwischen Grimm und Niekisch unterschied der Verfassungsrechtler Carl Schmitt diese verschiedenen Prinzipien mit bleibender Treffsicherheit. Er leitete sie aus unterschiedlichen Sachgebieten her mit den berühmten Sätzen:

Das Politische hat nämlich seine eigenen Kriterien, die gegenüber den verschiedenen, relativ selbständigen Sachgebieten menschlichen Denkens und Handelns, insbesondere dem Moralischen, Ästhetischen, Ökonomischen in eigenartiger Weise wirksam werden. Das Politische muß deshalb in eigenen letzten Unterscheidungen liegen, auf die alles im spezifischen Sinne politische Handeln zurückgeführt werden kann. Nehmen wir an, daß auf dem Gebiet des Moralischen die letzten Unterscheidungen Gut und Böse sind; im Ästhetischen Schön und Häßlich, im Ökonomischen Nützlich und Schädlich oder beispielsweise Rentabel und Nicht-Rentabel. Die Frage ist dann, ob es auch eine besondere, jenen anderen Unterscheidungen zwar nicht gleichartige und analoge, aber von ihnen doch unabhängige, selbständige und als solche ohne weiteres einleuchtende Unterscheidung als einfaches Kriterium des Politischen gibt und worin sie besteht.

Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, 1932, S.26

Die praktische Konkordanz der Prinzipien

Der Liberale wird immer die verschiedenen Prinzipien miteinander versöhnen wollen, so daß niemals das eine vollständig ein anderes vernichten kann. Das Ökonomische, das Moralische, das Ästhetische, das Politische: alles möchte er bewahren und miteinander in Einklang bringen. Das Bundesverfassungsgericht spricht von „praktischer Konkordanz“, wenn zwei Verfassungswerte im Einzelfall miteinander kollidieren. Es müsse dann eine Lösung gefunden werden, durch die beide in ihrem Kern bestehen blieben. Das ist genuin altliberales, bürgerliches Denken. Es möchte immer ein Sowohl-als-auch.

Niekisch hatte das klar erkannt – und abgelehnt. Für ihn galt das Primat des Politischen, des Nationalpolitischen, dem er die Wirtschaft notfalls opfern wollte. Wer diesem einen Prinzip notfalls alle anderen opfert, opfert notfalls auch die persönliche Freiheit. Das war Niekisch völlig klar, das nahm er in Kauf. Es ist typisches Merkmal intellektueller Ideologen, notfalls zugunsten eines Prinzips alle anderen zu opfern. Darin gleichen sich kommunistische Politkommissare, christliche Inquisitoren und Wahrer der arischen Herrenrasse wie Himmler aufs Haar.

Niekisch irrte, bürgerliche Gesinnung erhebe bewußt Wirtschaftswerte zu den obersten Werten. Wer ausschließlich an kapitalistisches Geldscheffeln denkt und dabei über Leichen geht, wer zugunsten seiner Profitmaximierung notfalls Völker und Kulturen zugrunde gehen läßt, denkt nicht bürgerlich. Finanzhaie sind dem bürgerlichen Denken ebenso ein Greuel wie Prediger des einzigen Weges zu ihrem Herrn dort oben oder Politkommissare, die Firmen und Höfe enteignen.

Die Flügel der AfD

Das Bild der AfD ist diffus, denn jede große Partei hat ihre Flügel. Extrempositionen, wie sie Niekisch um 1929 vertreten hatte, fehlen. Es lassen sich aber Schwerpunktbildungen klar ausmachen. Der Flügel um Jörg Meuthen ist wirtschaftsliberal und damit klassisch bürgerlich. Dabei wird er mißtrauisch beäugt von der anderen Seite, die stärker nationalpolitisch denkt. Sie befürchtet die allmähliche Auflösung alles Nationalen im Topf des globalen Finanzkapitalismus.

Keine Seite möchte zugunsten ihres Lieblingsprinzips notfalls die anderen opfern. Die nationale Seite fordert nicht die völlige Unterordnung des Ökonomischen, und die Wirtschaftsliberalen lassen sich nicht nachsagen, nicht auch national zu sein. Es geht nur um unterschiedliche Gewichtungen. Von keiner Seite wird eine Quadratur des Kreises verlangt. Alle sind durch und durch bürgerlich und suchen das nationale Prinzip mit Wirtschaftsfreiheit zu verbinden. Zu Feindschaften und Verteufelungen gibt es keinen Grund, und das wäre auch keine bürgerliche Haltung.

Daß das ausschließliche freie Walten globaler Kapitalinteressen die bestehenden Völker und Nationen in Frage stellt, ein ausschließlicher Primat nationalpolitischer Imperative aber mit dem Verlust der Freiheit einhergehen kann, muß beiden Seiten klar sein. Ohne eine praktische Konkordanz geht es nicht.


[1] Hans Grimm an Ernst Niekisch, in: Suchen und Hoffen, Aus meinem Leben 1928-1934, Lippoldsberg 1960, S.52.

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  1. „In der Bundesrepublik Deutschland führte Mitte der 1980er Jahre Heiner Geißler, der damalige Generalsekretär der CDU, die Lagertheorie in die deutsche Öffentlichkeit ein. Geißler bezeichnete innerhalb des neu entstandenen Vier-Parteien-System die Mitte-rechts-Parteien CDU, CSU und FDP als bürgerliches Lager, SPD und Grüne als linkes Lager. “ Wikipedia zu bürgerlichen Parteien. Eingedenk A. Dugins These von der Vorherrschaft der liberalen Ideologie seit dem Ende des Real existierenden Sozialismus liegt es doch nahe, davon auszugehen, daß jetzt alle Parteien sich als „bürgerlich“ bezeichnen, weil nun die einstige Ideologie des Bürgertumes zu der aller Parteien sich entwickelt hat. So gibt es jetzt keine ideologischen Auseinandersetzungen mehr sondern nur noch Debatten unter der Voraussetzung einer von allen geteilten Ideologie. Der nationalconservative Flügel der AfD wird dann konsequenterweise ausgegrenzt,weil er als patriotisch, nationalistisch oder gar völkisch qualifiziert, nichtliberal ist. Denn das Grundprinzip des Liberalismus ist nun mal der Primat
    des Einzelnen, nicht allein ökonomisch zu verstehen vor der sozialen Gemeinschaft, was jedem nationalen Denken widerspricht, das den Einzelnen als Glied seines Volkstumes ansieht. So ist die AfD selbst zerrissen zwischen liberaler und nichtliberaler,nämlich nationaler Ideologie.

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