Ich bin Wessi, das ist meine erste Diktatur!

In Diktaturen sind Verwaltungsgerichte unerwünscht

Das witzigste Bonmot dieser Woche las ich auf Twitter:

Gestern sah ich nach 22 h meine Nachbarn grillen.
Muß ich die jetzt anzeigen?
Entschuldigen Sie die dumme Frage, aber ich bin Wessi, und diese Diktatur ist meine erste.

Bekanntlich zeichnet sich die Diktatur durch Fehlen der Gewaltenteilung aus. Durch die Neufassung des Infektionsschutzgesetzes hat der Gesetzgeber sich selbst anstelle der Regierung beziehungsweise Verwaltung gesetzt. Alle Maßnahmen hat er bis ins Kleinste geregelt und einen sich selbst durch Inzidenzwerte vollziehenden Automatismus in Gang gesetzt. Entscheidungen der Verwaltungsbehörden sind nicht mehr vorgesehen. Das widerspricht der Teilung der gesetzgebenden von der regierenden Staatsgewalt und ist verfassungswidrig.

Wer es so beschlossen hat, muß sich verfassungsfeindliche Absichten nachsagen lassen. Als Nebeneffekt der Vereinigung von Gesetzgebung und Regierung wird auch die rechtsprechende als dritte Staatsgewalt kaltgestellt. Indem der Bundestag nämlich die Regeln erläßt und zugleich selbst je nach Inzidenzwert im Einzelfall vollzieht, gibt es für die untergeordneten Behörden nichts mehr zu regeln.

Bisher durften die Länder, Städte und Kreise je nach Infektionszahlen abwägen und selbst regeln, welche Maßnahmen erforderlich und verhältnismäßig sind. Diese Regelungen unterlagen der vollen Kontrolle der Verwaltungsgerichte. Diese sind dazu berufen, die Rechtmäßigkeit angefochtener Verwaltungsakte zu überprüfen. Das sind alle Regelungen eines Einzelfalles mit Außenwirkung. Beruhten sie auf einer ministeriellen Corona-Verordnung, wurde diese gleich mit überprüft: Die Rechtsprechung überprüfte als dritte Staatsgewalt das Regierungs- und Verwaltungshandeln.

Es war einmal

Das war einmal. Jedenfalls ist es Vergangenheit, was das Infektionsschutzgesetz und seine Einschränkungen unserer Grundrechte angeht. Die Neufassung des InfSchG stellt uns Bürger schutzlos, weil wir keinen verwaltungsrichterlichen Schutz mehr genießen.

Genau das entsprach der Absicht und dem Plan der Regierung. Ich vermeide die formulierung „unserer Regierung“. Professor Ulrich Vosgerau von der Universität Köln hatte in seiner Anhörung vor dem Bundestag gewarnt:

Da scheint es mir doch politisch eindeutig so zu sein, daß der Zweck des Gesetzes darin besteht, die Oberverwaltungsgerichte auszuschalten. Bislang konnte man gegen die Rechtsverordnungen, die zum Beispiel Ausgehverbote beinhalteten, nach § 47 der Verwaltungsgerichtsordnung vor die Oberverwaltungsgerichte ziehen. So hat zum Beispiel das OVG Hildesheim, das war es glaube ich, gerade ja diese Ausgangsbeschränkungen in Hannover klar ausgeschaltet mit der zutreffenden Beobachtung, dass nicht ansatzweise dargelegt worden sei, warum eine eigentlich eine nächtliche Ausgangsbeschränkung irgendetwas zu einer Reduzierung, OVG Lüneburg war es, des Ansteckungsrisikos beitragen soll. Das wäre in Zukunft ausgeschaltet. Es bliebe nur noch die Verfassungsbeschwerde übrig. Und die Verfassungsbeschwerde, das kann ich aus meiner anwaltlichen Erfahrung sagen, ist von vornherein keine besonders zuverlässige Rechtsschutzform.

Bundestag, Protokoll der 154. Sitzung, 16.4.2021

Die Krone des Rechts

Das Verwaltungsrecht, so lernte ich 1972 auf der Landespolizeischule in Münster, „ist die Krone des Rechts“. Wer als Richter tagtäglich Behördenentscheidungen auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft, verliert bald den Respekt vor dem Behördenhandeln. Nur allzuoft erweist es sich als rechtlich fehlerhaft, meistens aus Unfähigkeit.

Verwaltungsrichter sind eigenwillige Leute, die sich von etwaigen Wunschvorstellungen unserer Behörden nicht beeindrucken lassen. Nicht zufällig kommt der zäheste Widerstand gegen machtlüsterne und übergriffiges Staatshandeln von Verwaltungsrechtlern. So berichtete die Rheinische Post:

Die Bundes-Notbremse sei verfassungswidrig, sagt der Präsident des Düsseldorfer Verwaltungsgerichts. Zudem greift er Angela Merkel an und stellt ihr Verhältnis zum Rechtsstaat in Frage. Der Präsident des Düsseldorfer Verwaltungsgericht hat die sogenannte Bundes-Notbremse und Bundeskanzlerin Merkel scharf kritisiert. „Wenn die Bundeskanzlerin es als Mehrwert sieht, dass die Verwaltungsgerichte ausgeschaltet werden, dann frage ich mich, was für ein Verständnis von Rechtsstaat sie hat“, sagte Andreas Heusch beim Jahrespressegespräch des Düsseldorfer Verwaltungsgerichtes.
Merkel hatte am Dienstag im Gespräch mit Kulturschaffenden gesagt, dass das Bundesgesetz dafür sorgt, dass man für einzelne Regelungen nur noch vor dem Bundesverfassungsgericht klagen kann – nicht mehr vor den einzelnen Verwaltungsgerichten. „Wir haben nicht mehr die unterschiedlichen Verwaltungsgerichts-Entscheidungen“, sagte Merkel.
„Gerade in den letzten Monaten hat sich die Bedeutung der Verwaltungsgerichte für den Rechtsstaat gezeigt“, sagte dagegen Heusch. Man habe immer mit Augenmaß entschieden. „Die sogenannte Bundes-Notbremse berührt die Grundfeste des Rechtsstaats“, so der Verwaltungspräsident… [Auch] Nicola Haderlein, Vizepräsidentin des Düsseldorfer Verwaltungsgerichts,… kritisierte die Bundes-Notbremse: „Sie ist eine Beschneidung des Rechtsweges. Die Verfassungswidrigkeit springe ins Auge“…«

Rhenische Post 30.4.2021

Der Freiburger Verfassungs- und Verwaltungsrechtler Dietrich Murswiek begründet darum in einer Verfassungsbeschwerde zu Recht:

Die Aufhebung der Unterscheidung von Gesetz und Gesetzesvollzug durch den automatischen Selbstvollzug des Gesetzes führt dazu, dass der fachgerichtliche Rechtsschutz verlorengeht. Während gegen Vollzugsmaßnahmen durch Verwaltungsbehörden oder beim Gesetzesvollzug durch Rechtsverordnungen Rechtsschutz bei den Verwaltungsgerichten gegeben ist, ist fachgerichtlicher Rechtsschutz gegen Parlamentsgesetz nicht möglich.

Dietrich Murswiek, Verfassungsbeschwerde für Gebauer, Post u.a. vom 22.4.2021, S.26

Er kritisiert,

daß der Gesetzgeber eine materielle Verwaltungsentscheidung formell in ein Gesetz verpackt und auf diese Weise dem fachgerichtlichen Rechtsschutz entzogen hat. Statt durch die Verwaltung, die auf Stadt- oder Landkreisebene die Corona-Maßnahmen zuvor durch Allgemeinverfügungen geregelt hat, werden sie jetzt durch den gesetzlichen Inzidenzwert-Automatismus ausgelöst. Hierauf ist Art. 19 Abs. 4 GG als Maßstab anwendbar. Es wird hier nicht geltend gemacht, daß gegen das Gesetz der Rechtsweg zu den Fachgerichten eröffnet sein müsse, sondern es wird geltend gemacht, daß der Gesetzgeber gegen Art. 19 Abs. 4 GG verstößt, indem er durch Einbeziehung von Verwaltungsentscheidungen in das Gesetz materielle Verwaltungsentscheidungen dem fachgerichtlichen Rechtsschutz entzieht.

Dietrich Murswiek, Verfassungsbeschwerde für Gebauer, Post u.a. vom 22.4.2021, S.26

Artikel 19 Absatz 4 Grundgesetz lautet:

Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.

Das gilt nicht mehr uneingeschränkt.

Am Ende des langen Weges durch Gerichtsflure und Instanzen winkt uns unser Recht – aber nur, wenn die Tür ins Gericht offen bleibt.

Staatsstreich und Putsch

Das Staatsrecht unterscheidet einen Putsch von einem Staatsstreich. Wenn jemand die Macht an sich reißt, der vorher keine Kompetenzen als Staatsorgan hatte, liegt ein Putsch vor, zum Beispiel von irgendeinem General in einer Bananenrepublik. Einen Staatsstreich erkennt man hingegen daran, daß ein Staatsorgan die anderen ausschaltet und alle Macht an sich reißt. Daß es dann keine Gewaltenteilung mehr gibt, ist ein Nebeneffekt.

Das Infektionsschutzgesetz ist noch kein Staatsstreich, weil es nur einen Teilbereich des Lebens regelt. In diesem Teilbereich freilich maßt sich die Regierungsmehrheit wenige Monate vor der nächsten Bundestagswahl soviel Macht an, wie irgend geht. Die Verwaltung hat nichts mehr zu regeln, und die Verwaltungsgerichtete sind ausgebootet. Zugleich trichtern die staatsabhängigen Medien dem Publikum tagtäglich Angst vor Corona ein und rechtfertigen die Verbotspolitik der Regierungskoalition als alternativlos, wenn nicht gar als noch zu lasch.

Alle sollen kuschen und ruhig zuhause bleiben. Das ist die Wunschvorstellung der Regierungsparteien und ihrer medialen Helfershelfer.

Ja, das hätten sie wohl gern!

Souveränität der Repräsentanten?

Aber vielleicht haben sie ihre Rechnung halt ohne den Wirt gemacht. Sie sollen als Abgeordnete das souveräne Volk repräsentieren. Leider neigen Repräsentanten seit alters her dazu, die Souveränität der Repräsentierten auszuhöhlen und eine eigene Souveränität zu begründen.

Schon Proudhon hatte beobachtet, daß die Volksvertreter, sobald sie in den Be­sitz der Macht ge­langt sind, sofort ih­re Macht stärken, aus­bauen und ih­re Stellung unauf­hör­lich mit neuen Schutz­maß­re­geln zu umgeben suchen, um sich end­lich von der po­pulä­ren Bot­mä­ßig­keit gänz­lich zu befreien.[1] Theo­phrast bemerk­te, der größ­te Ehr­geiz der die höchsten Stellen im Volks­staate ein­neh­men­den Männer bestehe nicht so sehr in der Sucht nach Ge­winn und Berei­cherung, als viel­mehr darin, auf Kosten der Sou­ve­ränität des Vol­kes all­mäh­lich eine eigene zu gründen.[2] Jede einmal in den Besitz der Macht ge­lang­te Gruppe neigt dazu, diese festhalten zu wollen.

Dieselben Leute, die kritischen Stimmen ihre Verfassungsschützer auf den Hals hetzen, entpuppen sich als die ärgsten Verfassungsfeinde. Freilich wissen sie das nicht oder verdrängen es. Wir sollten die verfassungsrechtliche und historische Bildung unserer Abgeordneten nicht überschätzen. Manche mögen aufgrund von Korruptions- und Maskenaffären abgelenkt sein. Andere kämpfen gedanklich gerade gegen rechts, wieder andere vielleicht gegen den Schlaf, wenn Verfassungsrechtler sie bei ihrer Anhörung vor dem Bundestag warnen. Sie registrieren es nicht.

Für mündige Bürger ist es auch gleichgültig, warum Abgeordnete die Verfassung verletzen. Auf das Ergebnis kommt es an. Sie sind keine bösen Leute. Sie meinen es gut mit uns allen, nicht zuletzt mit sich selbst. Darum handeln sie, wie es ihrem Machterhalt am meisten nützt. Bei bevorstehenden Wahlen können die Koalitionäre nichts weniger gebrauchen an massenhaften Straßenprotest sich versammelnder und womöglich diskutierender Staatsbürger. Solche Leute sind allen Autokraten verhaßt, wie wir aus gewissen östlichen Despotien wissen.

Auch Herr Putin meint es gut mit seinen Russen. Er schickt seine Polizisten jetzt gegen demokratische Organisationen los und verhöhnt diese zugleich als Verfassungsfeinde. Herr Erdogan meint es mit seinen Türken auch gut. Weil ihnen nichts besseres widerfahren kann, als seine Alleinherrschaft, läßt er seine Polizisten wahllos jede Machtkonkurrenz verhaften. Muß ich noch von Minsk oder Hongkong sprechen? Die Videobilder gleichen sich: Kriegsmäßig ausgestattete Polizisten und unter ihnen irgendein aufmüpfig gewesenes armes Würstchen. Muß ich von in unserem Lande entstandenen Videos der letzten Wochen anfangen?

Wir sind bisher nicht in Minsk oder Moskau. Noch lange nicht. Jahrzehntelang haben wir mündige Bürgerschaft gelernt. Für ein diktatorisches Regime fehlen in unserem Lande alle menschlichen Voraussetzungen. Niemand könnte hier mal eben so eine absolute Monarchie ausrufen, einen Führerstaat oder eine Diktatur des Proletariats. Das würden unsere Mitbürger massenhaft nicht mitmachen. Aber der Teufel schleicht sich immer auf Samtpfoten an. Er kratzt schon an unserer Tür: Mal sehen, ob ihm jemand öffnet!

Manche der sieben Geißlein halten den Wolf vor der Tür schon für ihren Freund und Retter. Die Bereitschaft, für die „moralisch gute Sache“ das Klima, die ganze Welt oder die Unterprivilegierten dieser Erde zu „retten“ und dabei irgendeinem Rattenfänger zu folgen, steigt. Umfragen zufolge sinkt der Prozentsatz derer, für die ihre Freiheit der höchste Wert ist. Mehr werden die Verführten, denen mit Schalmeienklängen „Gerechtigkeit“ durch „Gleichheit“ vorgekaukelt wird – als ob an Gleichheit irgendetwas Gerechtes wäre.

Die geistigen Brandstifter haben bereits willige Vollstrecker ihrer Ideologie im Bundestag gefunden: Wenn alle erst einmal zu Hause einsitzen, wenn wir alle gleich arm oder reich sind, alle gleich gesund oder krank, alle im moralischen Fühlen und Denken gleichgemacht worden sind, dann werden sie erst zufrieden sein.

Nur frei werden wir dann leider nicht mehr sein.

Ob wir uns das gefallen lassen? Das neue Infektionsschutzgesetz wirkt wie ein Probelauf.


[1] Proudhon (1809-1865), Les confessions d’un révolutionnaire, S.286.

[2] La Bruyère, Caractères, suivis des caractères de Théophraste, S.381.

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„Wer die Regierung kritisiert, ist Verfassungsfeind“

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