Nein, nicht „die Demokratie“ kriselt. Gern erzählen uns die herrschenden Parteieliten die Legende von unserer Demokratie in großer Gefahr. Tatsächlich befindet sich aber lediglich das parlamentarische Regierungssystem in einer Legitimationskrise.
Dominik Geppert lehrt Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Universität Potsdam und ist Sprecher der Kommission zur Geschichte des Parlamentarismus. Er unterscheidet richtig:
„Der Parlamentarismus ist ja nicht erst in der oder durch die Pandemie prekär geworden. Er ist ja schon länger unter Druck. Wir haben es nicht mit einer Krise der Demokratie zu tun, sondern – das aber schon durchaus – mit einer Krise der repräsentativen Demokratie. Wir haben Verschiebungen im Macht- und Kontrolldreieck von Exekutive, Legislative und Jurisdiktion, die wegführen von den Parlamenten und hin zu den Regierungen auf der einen Seite und den Gerichten auf der anderen Seite.“
Dominik Geppert, Demokratie im „Reinheitsfanatismus“, Interview mit dem DLF 6.6.2021.
Seit Jahren fühlen sich weite Kreise nicht mehr hinreichend demokratisch vertreten. Die Parlamentarier der etablierten Parteien bedienen bestimmte Erwartungen spezieller Gruppen und Verbände. An der Interessenvertretung einfacher, arbeitender Leute hapert es. Die Kritik daran bricht sich immer lauter Bahn und wird auch von Randgruppen mitgetragen, die Morgenluft wittern. Sie alle fordern mehr demokratisches Gehör.
Repräsentation in der Demokratie?
Weil sie in den Parlamenten anscheinend nicht repräsentiert sind, handeln sie außer- und antiparlamentarisch. Sie wenden den demokratischen Grundgedanken gegen das Prinzip Repräsentation. Das ist freilich aus Sicht des Parlamentarismus erheblich zu demokratisch:
Der Antiparlamentarismus unserer Zeit sei Ergebnis – so paradox es klingen mag – von zu viel Demokratie, nämlich durch plebiszitären oder populistischen Anti-Parlamentarismus.
Michael Köhler, DLF 6.6.2021 über die Ansicht Dominik Gepperts.
Vor diesem Hintergrund verwirren die Etablierten gern zu ihren Gunsten die verfassungsrechtlichen Grundbegriffe. Sie lassen ihren willfährigen Verfassungsschutz verkünden, die Regierungskritiker, die Querdenker, die Anhänger der Alternative, sie alle seien eine Gefahr für „die Demokratie“, und „die demokratischen Parteien“ müßten gegen sie errichten, was blumig als „Brandmauern“ bezeichnet wird. Was diese Kräfte aber vereint, ist tatsächlich nicht der Wunsch nach weniger, sondern nach mehr Demokratie – eben wegen der Krise der reinen Parlamentarismus.
Erinnern wir uns: Parlamente haben in Deutschland eine lange und gute Tradition. Sie sind aus Ständeversammlungen hervorgegangen und wahrten gegenüber den Landesfürsten das Recht, Steuern zu bewilligen. Immer bildeten sie ein Gegengewicht zur Macht der zeitweise absolutistisch regierenden Fürsten. Der Reichstag des deutschen Kaiserreiches war sein gesetzgebendes Gremium. Der Kaiser setzte die Regierung ein, die aber mit dem Reichstag, seinen Gesetzen und seinem Budgetrecht klarkommen mußte.
Machtgleichgewicht durch Gewaltenteilung
So entstand ein Machtgleichgewicht, eine echte Gewaltenteilung. Der Staat war in Person des Kaisers und seiner Regierung repräsentiert, die Gesellschaft im Parlament. 1918 kam der entscheidende Wendepunkt, der Sündenfall der deutschen Verfassungsgeschichte: Am 28.Oktober trat ein Reichsgesetz auf Druck der im Parlament versammelten Parteienvertreter in Kraft, durch das Reichskanzler und -regierung ihrer Verantwortung gegenüber dem Souverän enthoben und dem Parlament unterworfen wurden. Bis heute sind Kanzler und Regierung ihm entzogen und unterstehen der jederzeitigen Disposition der jeweiligen innergesellschaftlichen Majorität bzw. sind mit deren Parteivorsitzendem identisch.
Bis heute beherrscht unser Parlament alle drei Staatsgewalten: Es macht nicht nur die Gesetze, sondern wählt auch Ausschüsse, die uns regieren und über die höchsten Richter entscheiden. Die Bundesregierung funktioniert, technisch gesehen, wie ein Parlamentsausschuß. Diese theoretische Allgewalt des Bundestages nennt man verfassungsrechtlich „Parlamentarismus“.
Nur theoretisch ist sie, weil die Abgeordneten ihre Entscheidungen gewöhnlich nicht in freier Diskussion treffen. Sie sind nominell dem ganzen Volk verantwortlich. Tatsächlich sitzen die meisten dort als Gefolgsleute ihrer Parteien. Alle verfassungsrechtlichen Funktionen werden praktisch von den jeweils herrschenden Regierungsparteien bespielt.
Gegen sie richtet sich der Zorn all derer, die sich von ihnen nicht mehr vertreten fühlen und darum den reinen Parlamentarismus nicht für sonderlich demokratisch halten. Sie sind zwar selbst auch nicht „das Volk“. Wenn sie aber laut skandieren: „Wir sind das Volk!“, reklamieren sie für sich eine erzdemokratische Mitsprache und schreien nicht etwa, sie wollten „ihren Führer“ wiederhaben.
Zum „Volk“ gehören alle Bürger, und die Legitimität des Parlamentarismus hängt davon ab, daß alle Gruppen und Interessen gleiche Chancen der Machtgewinnung haben. Davon sind wir heute weit entfernt. Chancengleichheit für alle politischen Kräfte ist eine nicht eingelöste Forderung, solange die politische Macht aus den Lautsprechern der Staatssender kommt. Manche Gruppen und Interessen werden dort liebevoll gehätschelt. Der normale Deutsche – früher nannte man den deutschen Michel „Otto Normalverbraucher“, wird zur Witzfigur verzerrt: alles „alte weiße Männer“ oder „Umweltsäue wie Oma“.
Das Repräsentationsdefizit
Aber nicht nur breite Bevölkerungskreise haben keine gleiche Chance, mit ihren Interessen durchzudringen. Das Hauptproblem besteht in fehlender Repräsentation des Ganzen. Unser jeweiliger Bundessonntagsredner hat nämlich gegenüber der Allmacht des Parlaments so gut wie keine Funktion.
Da das Ganze in der Bonner Verfassung nicht hinreichend vertreten ist, liegt das Strukturdefizit des Grundgesetzes vor allem in einem Repräsentationsmangel. Der in ein gesellschaftliches Kräfteparallelogramm eingebundene Bürger bedarf der Repräsentation seiner Interessen gegenüber anderen gesellschaftlichen Mächten in einem pluralen Vertretungsorgan, dem Bundestag. Aber auch sein Fundamentalinteresse an der Integrität desjenigen Ganzen, das seine individuelle Freiheit schützt, müßte vertreten werden. Das eigentliche Problem besteht im Konflikt zwischen verschiedenartigen Einzelbelangen und ihrem möglichen Gegensatz zum umfassenden öffentlichen Interesse.[1] Weil man mit dem Repräsentationsmodell im Grundgesetz 1949 ein Höchstmaß an „demokratischer“ Legitimation bewirken wollte, muß der Parlamentsabsolutismus als korrigierbarer Konstruktionsfehler der Verfassung angesehen werden, weil das Repräsentationsprinzip nur unvollständig durchgeführt wurde.
Darin liegt ein Systembruch, ein Widerspruch des gedanklichen Modells der Interessenvertretung in sich. Jeder einzelne hat zwei Seelen in seiner Brust:[2] Er hat ein Interesse an einem möglichst großen Anteil an den volkswirtschaftlich verfügbaren Gütern, der im Geldzeitalter seinem innergesellschaftlichen Rang entspricht; zugleich aber auch ein Interesse, das sich spezifisch auf den unbeschädigten Fortbestand des Ganzen gegen alle Teilkräfte als solche und gegenüber anderen Ganzheiten richtet, also gegenüber anderen Staaten. Es geht also um Interessen von grundsätzlich zweierlei Natur. Es gilt die „durch den Staat organisierte homogene Volksgesamtheit“ durch andere Repräsentanten zu vertreten als die Gesellschaft in ihrer wirtschaftlichen, regionalen, weltanschaulichen und politischen Zersplitterung.[3]
Dieses Fundamentalinteresse jedes einzelnen kann aber in einem interessenpluralistisch organisierten Gremium nicht repräsentiert werden, sondern nur in einer Person. Diese repräsentiert das Ganze gegenüber seinen Teilen. Die Interessen des Ganzen und die seiner Teile können nicht in demselben Organ vertreten sein. Dieses müßte sonst gleichzeitig gegensätzliche Interessen vertreten, was es der Natur der Sache nach nicht kann. Das zeigt sich heute z.B. an der Person des Bundeskanzlers, der, obwohl Parteivorsitzender, das Wohl des ganzen Volkes zugleich mehren soll, also auch das der Interessengegner seiner Partei. Im 18. Jahrhundert, der Epoche des absoluten Staates, repräsentierte der König das Volk und verkörperte dessen Einheit. In unserem Jahrhundert der absoluten Gesellschaft wählt es sich ein Parlament voller kleiner Könige, die es in seiner pluralen Form als Gesellschaft repräsentieren sollen. Es wird Zeit, wieder beide Aspekte zwischenmenschlichen Daseins zugleich zu repräsentieren.
Nach deutscher Verfassungstradition ist der berufene Vertreter der Fundamentalinteressen aller Bürger der vom Volke direkt gewählte Bundespräsident. Dieser ernennt einen nur von ihm abhängigen Kanzler, wie in Frankreich und der Weimarer Republik, oder er regiert selbst, wie in den USA. Sein Kanzler ist aber nicht vom Parlament abhängig wie im Parlamentarismus. Ihm wird gerade gegenüber dem Parlament, das auch künftig die Gesellschaft mit ihren Binneninteressen vertritt, die notwendige Repräsentation des zu den innergesellschaftlichen Interessen meistens quer liegenden[4] Allgemeininteresses obliegen, und als dessen Vertreter wird er mit staatlicher Regierungsmacht in einem gewaltenteilenden Verfassungssystem dem gesetzgebenden Parlament ebenbürtig gegenüberstehen.
Das wird dann im Ergebnis kein Parlamentarismus im engeren Sinne mehr sein, sondern ein Präsidialsystem, das im Prinzip so funktionieren wird, wie es auch bei unseren amerikanischen und französischen Nachbarn funktioniert. Nebenbei bemerkt wäre ein Präsidialsystem, wie hier vorgeschlagen, mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne des BVerfG ohne weiteres vereinbar. Art.79 III und 20 GG verlangen nicht das rein parlamentarische Regierungssystem, sondern lassen ein präsidiales durchaus zu.[5] Wünschenswert ist dabei eine möglichst weitgehende Trennung von Staat und Gesellschaft in Form einer völligen Unabhängigkeit des Präsidenten und der Regierung vom gesetzgebenden Parlament. Als Pragmatiker würden wir eine Verfassung wie die Weimarer und die jetzige russische[6] mit einer Regierung, die vom Vertrauen von Parlament und Präsident abhängt, natürlich als Teilverwirklichung unserer Prinzipien immer noch lieber sehen als unser heutiges System reiner Parlamentsherrschaft.
Die Ironie der Geschichte des historischen Liberalismus bringt es mit sich, daß gerade das hier geforderte Regierungssystem einmal liberalen Forderungen exemplarisch entsprochen gehabt hatte: Bevor es Liberale 1918 und 1948 bevorzugten, nach der ganzen Macht zu greifen und einen liberalen Parlamentsabsolutismus zu errichten, sahen sie „das Wesen des echten Parlamentarismus gerade darin, daß die Exekutive nicht das untergeordnete Instrument des Parlamentswillens ist, sondern ein Gleichgewicht zwischen beiden Gewalten besteht.“[7] Machtgleichgewichte verhindern ihrer Natur nach die eindeutige Entscheidung zwischen zwei antagonistischen Prinzipien. Das hier eingeforderte Gleichgewicht zwischen den repräsentierten Interessen des Ganzen und denen seiner Teile ist aber notwendig, wenn ein Absolutismus der einen oder anderen Seite vermieden werden soll. Entgegen Carl Schmitt ist es also kein „Mangel“ dieser „rechtsstaatlichen Idee“, daß sie „die letzte, unabwendbare, politische Entscheidung und Konsequenz der politischen Formprinzipien umgehen will.“[8]
Wenn man schon von der Vertretbarkeit von Interessen ausgeht, dann muß man auch konsequent sein und mit dem Repräsentationsgedanken ernst machen. Es genügt dann eben nicht, die Interessen derjenigen in einem Parlament zu bündeln, die sich aufgrund ihres Lebensalters und ihrer Kraft überhaupt organisieren können. Nur bestimmte Eliten können die gegebenen Beteiligungsmöglichkeiten ausschöpfen und dabei ihre Interessen artikulieren.[9] Aus verbandssoziologischen Gründen lassen sich vor allem ganz allgemeine Interessen und die Interessen von Randgruppen ohne Macht zur Konfliktsaustragung nicht organisieren;[10] und was nicht organisiert ist, bleibt nach dem rein liberalen Modell weitgehend ungeschützt. Sind Partikularinteressen regelmäßig stärker organisiert, stellt von Arnim weiter mit Olsonscher Logik fest, bleibt der Appell zum Allgemeininteresse auf der Strecke.
Mit Recht hat Böckenförde darauf hingewiesen, daß der politische Ort zur Austragung von Fundamentalkonflikten fehlt, wenn konstituierte Interessengruppen die einzigen Faktoren der politischen Willensbildung sind. Diese Konflikte würden verdrängt, und sie wären nur bei einer Mobilisierung der Gesamtheit aller Bürger artikulationsfähig. Diese Mobilisierung bedürfe staatlicher Leitungsorgane.[11] Ein solches Organ wäre der Bundespräsident mit den hier vorgeschlagenen Kompetenzen. Das strukturelle Defizit des ultraliberalen Bonner Modells liegt darin, daß er diese Befugnis nicht hat.
Das ist ein Repräsentationsmangel, der die jeweilige Majorität der Gruppeninteressen durch den Bundestag uneingeschränkt herrschen läßt und dem Staatsganzen keine wirksame Vertretung zugesteht. Diese Vertretung ist eine Bedingung, ohne die Staat und Gesellschaft nicht voneinander geschieden werden können.
Anders als heute muß das Volk doppelt repräsentiert sein: In seiner Erscheinungsform als bürgerliche Gesellschaft mit pluralen Interessen in einem Parlament abgeordneten Vertreter dieser Einzelinteressen; als ganzes Volk hingegen in einer vom Volke direkt gewählten Einzelpersönlichkeit, die den Staat verkörpert und durch ihren Kanzler die Belange des Ganzen vertritt.[12]
[1] Friedrich, Carl J., Der Verfassungsstaat der Neuzeit, 1953, S.306.
[2] Ebenso Hans Herbert von Arnim, FAZ 27.11.1993; Rebenstorf, Hilke, Steuerung des politischen Nachwuchses durch die Parteiführungen? in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 14.8.1992, S.45.
[3] Daß es hier Interessen von grundsätzlich zweierlei Natur zu repräsentieren gibt, betont auch Preuß, Zeitschrift für Rechtspolitik 1993, 135: Er unterscheidet die Repräsentanten der durch den Staat organisierten homogenen Volksgesamtheit von den Repräsentanten der Gesellschaft in ihrer wirtschaftlichen, regionalen, weltanschaulichen und politischen Zersplitterung.
[4] Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Demokratie und Repräsentation, Hannover 1983, S.11
[5] Roman Herzog, in: Maunz-Dürig-Herzog, Art.20 GG II. Rdn.81.
[6] Zur Russischen Verfassung von 1993 Schweisfurth, FAZ 9.12.1993.
[7] Carl Schmitt, Verfassungslehre, S.304 nach R.Redslob, Die parlamentarische Regierung in ihrer wahren und in ihrer unechten Form, 1918.
[8] Carl Schmitt, Verfassungslehre, S.305.
[9] Böckenförde, Demokratie und Repräsentation, S.10.
[10] Arnim, Wenn der Staat versagt, FAZ 13.7.1993.
[11] Böckenförde, Demokratie und Repräsentation, S.10.
[12] Der Abschnitt „Repräsentationsdefizit“ ist aus aktuellem Anlaß, gekürzt, entnommen dem Buch: Klaus Kunze, der totale Parteienstaat, 1994, 2. Auf. 1998. Link zum Volltext.
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