Zweifellos befinden sich unser Volk und Staat in Not. Daß die Epoche der Staatlichkeit zuende geht, hatte der scharfsinnige Analytiker Carl Schmitt schon vor rund 90 Jahren geschrieben. Auch

das Volk hat seine Rolle als Träger sozial und politisch bedeutsamer Funktionen eingebüßt. Es ist funktionslos geworden.[1]

Winfried Knörzer, Farben der Macht, 2021, ISBN 978-3-938176-90-0., S.188

Seine Funktion im gesellschaftlichen Gefüge hatte darin bestanden, daß Menschengruppen ihre gemeinsamen Interessen unter Berufung auf das Volk geltend gemacht hatten. So weiß es die Soziologie. Sie nimmt Werte und Ideologien nicht zum Nennwert, sondern fragt danach, warum Menschen in ihrem jeweiligen Namen Interessen durchzusetzen suchen.

Die Soziologie – Magd oder Herrin?

Auf die Einsichten der Soziologie als Magd der Geschichtsschreibung mögen wir nicht mehr verzichten. Für ein politikwissenschaftliches Verständnis unserer Gegenwart ist sie essentiell. Doch wehe, wenn die Dienerin nach der Herrschaft über alle Diskurse greift! Dann kollidiert sie heftig mit den Geltungsansprüchen anderer Disziplinen.

Auch das ist eine soziologische Erkenntnis: Selbst wenn sie wissenschaftliche Theorien aufstellen, artikulieren Menschengruppen Machtansprüche. Bei anderen drückt sich der unbedingte Wille zur Macht und zur Selbstbehauptung in existentiellerer Form aus als im Bilden von Hypothesen. Soziologen aber sind Meister darin, Hypothesen zu bilden und Kausalzusammenhänge aufzuzeigen, die oft nur für andere Soziologen verständlich sind. Sie sind allzeit bereit,

aus dem eigenen Geschmack eine mehr oder weniger umfassende Theorie von der Welt und dem Menschen zu machen… Es ist höchst ratsam, dies zu tun, wenn man sch am Spiel des sozalen Machtkampfes beteiligen will.[2]

Panajotis Kondylis, Macht und Entscheidung, 1984, S.12

Die Soziologie als Methode kann dem sozialen Machtehrgeiz dienen wie jedes andere Gedankengebäude. Theoretiker erheben und befriedigen ihre Machtansprüche vornehmlich durch das Entwerfen von Theorien.[3] Folgte die Welt nachweislich nur den soziologisch nachgewiesenen Gesetzlichkeiten, wüchse den Soziologen ein gesellschaftlicher Machtgewinn zu. Man will herrschen, nicht dienen.

Aus Sicht von Politik und Geschichtsschreibung spielt die Soziologie die dienende Rolle einer Hilfswissenschaft. Einst hatte man die Philosophie für eine bloße ancilla theologiae gehalten, eine Magd der Theologie. Die damalige Magd hat sich unterdessen zur Herrin aufgeschwungen und lächelt milde über die alten Theologen und Scholastiker.

Die Eliten zirkulieren – sie haben nichts anderes zu tun

Soziologie durchschaut das wuselnde Getriebe des gesellschaftlichen Auf und Ab und erklärt uns die geheimnisvolle Funktionsweise und Wichtigkeit der Elitenzirkulation. Diese ist in einer modernen Gesellschaft höchst nötig. Hat nicht der Zusammenbruch des Ostblocks mit seiner vergreisten Parteielite bewiesen, daß alle Anpassung an geänderte Verhältnisse regelmäßig des personellen Wechsels bedarf?

Zu den essentiellen Bedürfnissen auch unseres Staates zählt man seit seiner Gründung die Forderung nach einer „offenen Gesellschaft“, offen nämlich für ständigen Auf- und Abstieg. Die Soziologie verliert aber kein Wort, ob jede Methode, den Aufstieg zu erzwingen, unserem Volk und Staat nützt. Ihre Perspektive ist rein innergesellschaftlich. So wie ein Herz- und Kreislaufspezialist uns darüber aufklären kann, wie wichtig die Blutzirkulation ist, fragt der Soziologe nach der Elitenzirkulation. Ob das Blut aber einmal eingedrungene Giftstoffe durch den Kreislauf befördert, gehört nicht zum Fach.

Und daß die Methoden des Elitenkampfes geeignet sein können, Staat und Volkes als Ganzes zu gefährden, vermag die Soziologie wohl wahrzunehmen. Es ist aber ein politisches und damit nicht ihr Problem. Winfried Knörzer thematisiert in seiner neu erschienenen Aufsatzsammlung eingehend die Political Correctness. Soziologisch fungiert sie als Brechstange, mit der vornehmlich Angehörige der Mittelschicht in die Oberschicht vordringen.

Das von den Aufsteigern importierte Sprachspiel der  Political Correctness transportiert in seinem ideologischen Gehalt die Machtansprüche bislang von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossener Gruppen. Dieser ideologische Diskurs wiederum reflektiert die realen Veränderungen an der sozialen Basis. Das Sprachspiel stellt die Mitspieler auf die Probe, ob sie bereit sind, die realen Veränderungen durch die Akzeptierung ihrer symbolischen Vermittlung in Form des Political-Correctness-Diskurses anzuerkennen. Wer seine Zustimmung verweigert und damit den für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Dynamik erforderlichen Veränderungswillen vermissen läßt, wird als Auslaufmodell aussortiert. Political Correctness hat also gesamtgesellschaftlich die Funktion, mittels Elitenzirkulation der an sich veränderungsresistenten Oberschicht die Anpassung an die gesellschaftlichen Veränderungen aufzuzwingen.[4]

Winfried Knörzer, Farben der Macht, 2021, S.117

Aus soziologischer Perspektive ist gegen diese Analyse nicht einzuwenden. Auch gegen eine nötige Bluttransfusion wendet ein Arzt nichts ein. Spendet man aber die falsche Blutgruppe – wehe dem Patienten!

Die Selbstzerstörung von Volk und Staat

Die Funktionsweisen des gesellschaftlichen Machtkampfes muß man kennen. Der Beitrag der Soziologie ist zum Verständnis unverzichtbar. Winfried Knörzer hat mit seinem neuen Buch transparent gemacht, welche soziologischen Faktoren zu unserer Selbstzerstörung als Volk und zur Abdankung unseres Staates führen.

Er stimmt dabei kein konservatives Klagelied darüber an, daß der seit über hundert Jahren andauernde Geburtenschwund uns zum Verschwinden bringt. Er erklärt Gründe und Ursachenzusammenhänge. Er beklagt nicht die Erosion des Rechts und seine Aufweichung durch moralisierende Zumutungen: Er zeigt auf, warum neben das Recht „die Moral als zweite Orientierungsschiene“ eingezogen ist.

Damit aber die Legitimität von Moral zumindest partiell und temporär das normative Legitimitätsmonopol der Rechtsordnung ausstechen kann, muß der legitimatorischen Kraft der Moral ein zusätzlicher legitimationsschub verliehen werden. Dieser erfolgt durch die die Gesellschaft durchdringende Hypermoral, deren überschießende Kraft den ursprünglich dem Moralischen zugewiesenen Bereich überschreitet und ins Rechtliche ausstrahlt. Das ursprüngliche Legitimationsmonopol der Rechtsordnung paßt aufgrund seiner Starrheit nicht mehr in die auf Flexibilität angewiesene, extrem dynamisierte postmoderne Gesellschaft.[5]

Winfried Knörzer, Farben der Macht, 2021, S.162.

Mit dieser Analyse tritt aber nur eine Problemverlagerung ein. Das soziologische Erkenntnisproblem ist gelöst. Doch soll das alles sein? Die Soziologie analysiert nur und trifft keine Sollensaussagen. Sie verkneift sich an dieser Stelle die Antwort: Wenn die „auf Flexibilität angewiesene, extrem dynamisierte postmoderne Gesellschaft“ das Problem ist und wir uns in ihr selbst abschaffen, sollten wir sie nicht besser durch etwas anderes ersetzen, das uns bessere Chancen auf unseren Selbsterhalt bietet?

Das wäre eine souveräne Entscheidung, die ein demokratisch verfaßtes Volk treffen könnte. Solange sich jeder aber nur als Individuum definiert, wächst dem deutschen Volk als Ganzem ein solcher Wille nicht zu. Wer sollte ihn auch artikulieren? Die Sprachrohre der Mediengesellschaft befinden sich weitgehend in der Hand postmoderner Eliten, die weder dem deutschen Volk noch unserem Staat irgendeinen Wert beimessen. Knörzer setzt fort:

Das bedeutet dann auch, daß gesellschaftliche Kräfte, die stark genug sind, die Moral ihren Intentionen gemäß zu modeln und damit an den formalen Verfahren vorbei Normen zu setzen, bestimmen können, was als legitim und was als illegitim anerkannt wird. [6]

In den großen Momente des Politischen sieht man jemandem ins Auge und erkennt ihn als Feind.[7] Als Magd des Politischen öffnet die Soziologie uns die Augen und läßt uns die Waffen und Methoden durchschauen, die von Feinden unserer Existenz[8] gegen uns geführt werden.

Damit schafft sie eine erste Voraussetzung für Gegenwehr.


[1] Winfried Knörzer, Farben der Macht, 2021, ISBN 978-3-938176-90-0, S.188

[2] Panajotis Kondylis, Macht und Entscheidung, 1984, S.128.

[3] Panajotis Kondylis, Macht und Entscheidung, 1984, S.111 f.

[4] Winfried Knörzer, Farben der Macht, 2021, S.117.

[5] Winfried Knörzer, Farben der Macht, 2021, S.162.

[6] Winfried Knörzer, Farben der Macht, 2021, S.162.

[7] Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, S.67.

[8] Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, S.27.