Mit dem Verlust leben

Konservativ zu sein, heißt mit dem Verlustgefühl zu leben. Es verläßt den Konservativen nie.

Er weiß um den Wert des Vergangenen, des Zerstörten, des heute Verleugneten. Er hält seinen Toten die Treue.

Gerade diese Eigenschaften sind es ja, die ihn zu einem Konservativen machen. Er blickt um sich und vergleicht die Welt mit der früheren aus seiner Erinnerung. Manchmal vergleicht er sie auch mit der früheren, um die er nur aus Erzählungen geliebter Menschen weiß: von der guten, alten Zeit, einem goldenen Zeitalter.

Er hatte sich seine heile Welt in seiner Vorstellung so fest gefügt. Die reale Welt seiner Gegenwart gleicht aus seiner Sicht einer chaotischen Trümmerwüste.

Die menschlichen Institutionen und Wertvorstellungen änderten sich in der Neuzeit immer schneller und ließen in jeder Generation wieder Menschen ratlos und verzweifelt zurück, die am Alten, am Vergangenen hingen. Jetzt drohte das alte Heilige vergessen zu werden:

Aus diesem Gefühl erwuchs die Romantik des 19. Jahrhunderts und speiste sich der Trotz der Konservativen nach 1918, den Paul Warncke (1866-1933) idealtypisch in die Verse kleidete:

Ich weiß ein Wort, mit reißendem Stoß
will es die Seele mir fressen;
Es krallt sich fest, und es läßt mich nicht los,
Das grausige Wort „Vergessen“!

Vergessen ist, wie Schwert und Schild
Einst wogten auf blutiger Halde ´
Vergessen ist das ragende Bild
Im Teutoburger Walde.

Vergessen ist, was uns groß gemacht
Im Wandel der tausend Jahre,
Der Held der Fehrbelliner Schlacht
und sein grollendes „Exoriare!“

Vergessen der Alte von Sanssouci
Und was er für Deutschland gewesen,
Als hätten von seinen Taten wir nie
Mit freudigem Stolze gelesen.

Vergessen sind Leipzig und Waterloo,
Von Nacht und Nebel bemeistert,
Und all das Edle, daran wir froh
Uns in goldenen Tagen begeistert.

Vergessen der Kaiser, eisgrau und alt,
Der neunzig Jahre durchmessen….
Es liegt ein Grab im Sachsenwald,
Vergessen, vergessen, vergessen!

Vergessen ist, was wir selber gesehn
Vom Nordmeer bis zu den Karpathen,
Bei Tannenberg das große Geschehn,
Der Brüder unsterbliche Taten.

Und Sieg um Sieg vier Jahre lang,
Wir sahen sie freudetrunken;
Nun sind sie ohne Sang und Klang
Vergessen, verschollen, versunken!

Vergessen der Stolz und der männliche Mut,
Vergessen der Mut und die Ehre!
Vergessen das heilige, rote Blut
Der todesmutigen Heere!

Die Tage tanzen in rasender Flucht ´
Wir sind vom Teufel besessen,
Und Ordnung und Sitte und Treue und Zucht,
Vergessen sind sie, vergessen!

Paul Warncke

Das Rad der Geschichte

Weil die Weltgeschichte sich bisher aber immer nur vorwärts bewegte und nie rückwärts, kommt das Vergangene niemals zurück. Kluge Konservative wissen das. Sie schätzen das Alte hoch, wissen aber, daß es endgültig vorbei ist.

Vielleicht haben sie auch Niccolò Machiavelli (1469-1527) gelesen, der schon in seinem 1531 erschienenen Buch „Discorsi“ schrieb:

Der aber wird weni­ger Fehler machen und mehr Glück haben, der … sei­ne Handlungsweise mit den Zeitverhältnissen in Ein­klang bringt.[1]

Machiavelli, Discorsi, III.Buch, 9. Kap., S.314, desgl. 8.Kap., Stuttgart 1977, S.312.

Der kluge Konservative rettet, was zu retten ist. Er sieht schon aus Verantwortungsgefühl für seine Nachkommen keinen Grund, sich einen Strick zu nehmen. Sie brauchen ihn noch. In seinem Weltbild herrscht unbedingte Pflichterfüllung. Defätismus ist nicht seine Sache, vielmehr vorbildliches Verhalten.

Hatte nicht schon Martin Luther gesagt: „Und selbst wenn morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch einen Apfelbaum pflanzen?“ Darin zeigt sich eine innere Haltung, eine Festigkeit, die unserer Vorfahren und aller der Dinge würdig ist, die in den letzten Jahrzehnten zermahlen und zerrieben wurden.

Diese Haltung drückte der Historiker Felix Dahn (1834-1912) in seinem bekannten Gedicht über die letzten Goten aus:

Gebt Raum, ihr Völker, unsrem Schritt
Wir sind die letzten Goten
Wir tragen keine Schätze mit
Wir tragen einen Toten.

Mit Schild an Schild und Speer an Speer
Ziehn wir nach Nordlands Gründen
Bis wir im fernen grauen Meer
Die Insel Thule finden.

Das soll der Treue Insel sein
Dort gilt noch Eid und Ehre
Dort senken wir den König ein
Im Sarg der Eschenspeere.

Wir kommen her, gebt Raum dem Schritt
Aus Roms falschen Toren
Wir tragen nur den König mit
Die Krone ging verloren

Felix Dahn

Es kommt darauf an, wie wir leben, nicht daß wir sterben müssen

Diese innere Haltung sagt uns: Es kommt nicht in erster Linie darauf an, daß wir sterben werden. Das müssen wir alle sowieso. Es kommt darauf an, wie wir leben.

Hans Bohrdts (1857-1945) Gemälde „Der letzte Mann“ steht idealtypisch für eine innere Haltung

Konservative sind gewöhnlich keine Träumer, sondern Realisten. Gerade sie hängen besonders an unserer Vergangenheit. Sie wissen genau um die Vergänglichkeit aller historischen Größe. Panta rei, wußten schon die alten Griechen: Alles fließt.

Die konservativen Geister scheiden sich aber je nach persönlichem Naturell: Die einen klagen, räsonnieren und resignieren, die anderen aber schleudern der schnöden Gegenwart ihre heroische Verachtung entgegen. Wenn einen Konservativen der Trotz packt, kann er zum heroischen Realisten werden: „Und wenn ich der letzte bin, der die Fahne hoch hält, dann gehe ich eben mit der Fahne unter. Ich lasse aber nicht von ihr.“

Er mutiert dann vom Gefühls-Konservativen zum politischen Rechten. Daß kein Menschenwerk ewig ist, ordnet er in sein Weltbild ein. Er weiß um das ständige Werden und Vergehen im Strom der Zeiten. Es mag ihn aber überraschen, alles, was er liebt, so frühzeitig schon im Mahlstrom des Vergehens zu sehen.

Die Lebensdauer einer Nation aber ist bestimmt, und ebenso der Schritt und der Tak, in welchem ihre Geschichte sich erfüllt.[2]

Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, S.926.

Die Erkenntnis der eigenen Vergänglichkeit und der alles Wertvollen läßt aber seine Geschichtsinterpretation unberührt.

Der Held verachtet den Tod, und der Heilige verachtet das Leben.[3]

Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, S.1177.

Er sieht in seinen Gegnern dieselben Gesetzmäßigkeiten des Lebens walten, die ihn selbst erfüllen. Zu siegen oder unterzugehen ist ihm kein Weltgericht der Geschichte, sondern Schicksal oder das Ergebnis eines Kräftemessens. Daß Menschen ihre Interessen einzeln oder kollektiv durchsetzen wollen, ist ein Gesetz, das immer gilt. Dabei benutzen sie gewöhnlich nicht militärische, sondern geistige, ideologische Waffen.

Die rechte Haltung bewahren

Oswald Spengler (1880-1936) ist jedes Defätismus und jeder Vaterlandslosigkeit ebenso unverdächtig wie Ernst Jünger (1895-1998). Und doch beobachteten sie übereinstimmend, wie alles ihnen Wertvolle, ja quasi Heilige, zerstört wurde, und sie entwickelten daraus eine vorbildliche Haltung. Wer auf Haltung verzichtet, knickt ein. Jünger hob den Blick weit über den Horizont seiner Zeit. Er sah nicht nur, was im Augenblick war. Er lebte aus dem, was immer gilt, dem Gesetz des Werdens und Vergehens.

Es gibt eine Querschnittslähmung, die den Nerv der Geschichte durchtrennt. Mit ihr erlischt die Tradition. Die Taten der Väter können nur noch im Schauspiel oder in der Tragödie fortleben, nicht aber in der Aktion. Damit muß man sich abfinden. […]

Allerdings haben sich bei uns immer noch Konservatoren erhalten. Traumstädter, die sich als Revenants vereinigen. Ihre Séancen zeigen mit jenen der Anarchisten eine gewisse Ähnlichkeit. Sie stellen an ihren Stammtischen Fähnchen auf und halten dort junge Leute frei, die sich über sie belustigen. […]

Für den Historiker sind solche Erscheinungen eher gespenstisch als epigonal. Lange Strecken sind dürftig, blutlos, ohne Ausbeute. Die Tradition wird erhalten, wo sie mit ihren letzten Trägern zugrund, das heißt auf den Grund geht.[4]

Ernst Jünger, Eumeswil, 1977, S.161 f.

Daß die Tradition mit den letzten ihrer Träger erlischt, wußte niemand besser als Ernst Jünger. Bis zu seinem Tod trug er bei passender Gelegenheit den ihm 1918 verliehenen Pour le Mérite. Er starb als letzter der Träger dieses höchsten Tapferkeitsordens. Bis zuletzt verleugnete er ihn nie.

Was geschieht mit einem Treuen, wenn der Gegenstand seiner Treue nicht mehr existiert? Was macht ein Monarchist, wenn der König tot und die Monarchie abgeschafft ist? Wozu wandelt sich ein Konservativer, wenn alles Geliebte zerstört wurde? Wie der Witwer am Grab der geliebten Frau wird er ihr in Gedanken zuflüstern: „Meine Liebe bleibt in mir, solange ich lebe, und ich werde in Deinem Geiste weiterleben.“

Einen einzelnen Menschen gibt das Grab nicht wieder her. Solange wir aber noch gar nicht „die letzten Goten“ sind, werden heroisch Veranlagte nicht resignieren und vielleicht Paul Warncke zustimmen, dessen oben begonnenes Gedicht sich fortsetzt:

Und der grinsende Feind höhnt uns ins Gesicht
Und lacht der heiligen Rechte;
Den Herrn spielt jeder freche Wicht,
Und wir sind seine Knechte!

O Deutschland, wo blieb dein eisern Geschlecht,
Du ragendstes Volk der Erde!
Du übst dich wie ein geborener Knecht
In knechtischer Gebärde.

In Stücke reißt dich der taumelnde Feind,
Da du dich selber verloren,
Da du, einst herrlich und stolz geeint,
Dich blöder Zwietracht verschworen.

Ich aber weiß: es kommt der Tag,
Der wird empor dich rütteln,
Da steigst du auf aus dem Sarkophag,
Da wird der Ekel dich schütteln.

Da wird erwachen der stürmende Groll
Und den züngelnden Drachen vernichten;
Da wirst du, göttlichen Zornes voll,
Gewaltige Taten verrichten!

Paul Warncke

Die Geschichte ist keineswegs zuende. Der dies schreibt und der es liest: Wir sind doch noch lange nicht „der letzte Mann“. Doch wären wir es, dann wüßten wir, was wir zu tun haben und welche Haltung uns geziemt. Packen wir es rechtzeitig an!


[1] Niccolo Machiavelli, Discorsi, III.Buch, 9. Kap., S.314, desgl.8.Kap.S.312.

[2] Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918 in zwei Bänden, hier zitert nach der einbändigen Ausgabe (Text nach dem Druck von 1923), Anaconda-Verlag 2017, ISBN 978-3-7306-0453-3, S.926.

[3] Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, S.1177.

[4] Ernst Jünger, Eumeswil, 1977, S.161 f.