Während es bei Friedrich Schiller noch hieß: „Alle Menschen werden Brüder“, zerschneidet der Liberalismus alle brüderlichen Bande. Unter seiner Vorherrschaft werden alle Menschen Waren – letztlich käuflich.
Für Adam Smith ist der allgemeine Austausch die unmittelbare Folge der Arbeitsteilung: ‚So lebt denn eigentlich jeder vom Tausch, oder er wird in gewissem Sinne ein Kaufmann, und das gemeinwesen entwickelt sich letztlich zu einer kommerziellen Gesellschaft.“ In der liberalen Vorstellung ist der Markt also wohl das vorherrschende Paradigma innerhalb einer gesellschaft, die dazu berufen wird, sich selbst völlig als Marktgesellschaft zu definieren.[1]
Alain de Benoist, Gegen den Liberalismus, 2019, deutsche Ausgabe 2021, S.82.
Fleißig ist der Liberalismus an der Arbeit, mit €- und $-Zeichen zu etikettieren, was immer global Menschen wertvoll ist: Bodenschätze werden gehoben, Wälder gerodet, Wasserkraft ausgebeutet, Kunst „auf den Markt“ geworfen, und zuguterletzt verwandelt sich der menschliche Körper in eine Handelsware, die auf Porno-Seiten für Geld vermarktet wird.
Indem er alle gesellschaftlichen Erscheinungen auf eine Welt meßbarer Dinge reduziert, verwandelt er letztlich selbst die Menschen in Dinge – in ersetzbare und austauschbare Dinge, vom Standpunkt des Geldes aus gesehen.
Alain de Benoist, Gegen den Liberalismus, S.83.
Der politische Liberalismus hat mit ein bißchen liberal zu sein so wenig zu tun wie der Sozialismus mit ein bißchen sozial zu empfinden. Er zieht die organisatorischen Konsequenzen aus den Erfordernissen des ungezügelten Kapitalismus: Tendenzielle Abschaffung aller den Freihandel behindernden Zölle, Grenzen, Staaten, Völker und ihrer kulturellen Institutionen.
Die Nutznießer [2]
Er bildet einen Extremismus eigener Art und ist das umfassende metaphysische Rechtfertigungssystem der in den westlichen Ländern herrschenden Personen und Gruppen.[3] Sein Regierungssystem ist der Parlamentarismus, der uns in Deutschland heute als Parteienstaat vor Augen steht. Beide, das Phänomen Parlamentarismus und seine liberale Herrschaftsideologie, dienen letztlich der Aufrechterhaltung eines bestimmten Status quo, in dem sich faktische Machtpositionen normativ ausprägen[4] und stabilisieren. Es ist die Macht derer, die ihren ökonomischen Vorteil aus einer Wirtschaftsverfassung ziehen,[5] in der ein freies Spiel der Kräfte weitestmöglich ist.
Für sie hat sich die Bezeichnung Kapitalismus eingebürgert. Ihre Gesetzmäßigkeiten führen innerstaatlich und international zu analogen Wirkungen: Freie Geldwirtschaft begünstigt den ökonomisch Starken dadurch entscheidend, daß er alle anderen als ökonomische Kräfte wirksam aus dem Kreis der allgemein akzeptierten Spielregeln ausschließt. Der ökonomisch Schwache soll sich nicht mehr mit anderen als ökonomischen Mitteln wehren dürfen: vor allem nicht mit Gewalt. Um ihre finanzielle Überlegenheit voll ausspielen zu können, mußten theoretisch alle entgegenstehenden Wertvorstellungen ausgeschaltet und nur die harmlose Diskussion übrig gelassen werden.
Zur Disposition mußten konsequenterweise also alle diejenigen eigentlichen Wertinhalte gestellt werden, die sich nicht im formellen freien Kräftespiel von selbst einstellen. Doch welche Ideen schützen den Liberalismus noch vor seiner eigenen Abschaffung, wenn sich zum Beispiel der Respekt vor dem Privateigentum des anderen eines Tages einmal nicht aus der freien Diskussion ergibt? Ratlos seufzt Habermas: „In modernen Wirtschaftsgesellschaften spitzt sich dieses allgemeine Problem in besonderer Weise zu auf die normative Einbindung der aus traditioneller Sittlichkeit entlassenen strategischen Interaktionen.“[6] Offiziell erklärt sich der Liberalismus für unzuständig, eine geistige und moralische Ordnung herzustellen.[7] Das Problem ist auf alleiniger Grundlage der liberalen Vorstellung einer Ordnung nicht zu lösen, die sich angeblich von selbst einstellt, wenn sie die „aus der traditionellen Sittlichkeit entlassenen“ internationalen Finanzstarken machen läßt, was sie wollen. Sie kann man allenfalls durch eine staatliche Ordnung auf Grundlage von Ordnungsideen einbinden, deren zentraler Wert ein anderer ist als das freie Kräftespiel.
Bürgerliche Freiheiten als Funktionsvoraussetzungen
Wem also nützt Liberalismus konkret? „Die liberalen Rechte, die sich, historisch gesehen, um die gesellschaftliche Stellung des privaten Eigentümers kristallisiert haben, lassen sich unter funktionalen Gesichtspunkten als die Institutionalisierung eines marktgesteuerten Wirtschaftssystems begreifen, während sie unter normativen Gesichtspunkten bestimmte private subjektive Freiheiten gewährleisten.“[8] Diese normativen Freiheiten haben aber, wie alle Normen, auch einen funktionalen Zweck: Sie sind einerseits den marktwirtschaftlichen Prinzipien zugeordnet, andererseits besteht ihr materieller Wertgehalt darin, alle mit dem freien Kapitalmarkt unvereinbaren Prinzipien zu vernichten. So hält der normative Kern des bürgerlichen Liberalismus letztlich eine bestimmte Eigentumsordnung und eine Chancenverteilung aufrecht: Begünstigt ist beim Erwerb materieller Güter, wer bereits materielle Güter besitzt. Die liberale Ethik fordert so viel wirtschaftliche Privatautonomie wie möglich, und bewahrt gerade noch so viel Staat, wie nötig ist, um das Eigentum als solches und das marktgesteuerte Wirtschaftssystem zu erhalten.
Der normative Kernbestand des Liberalismus läßt sich nur verstehen durch eine Gesetzmäßigkeit, der nicht nur der Liberalismus unterliegt: Ein komplexes soziales System läßt sich nur aufrecht erhalten, wenn seine funktionalen Voraussetzungen normativ aufgeladen werden. So wandelt sich das Geldhaben-Dürfen zum heiligen Recht des Kapitalisten, und alle konkurrierenden Wertprinzipien wurden zu Unwerten. Auf der anderen Seite des wirtschaftlichen Zyklus mußte dem Verbraucher ein ebenso heiliges Recht zugesprochen werden: Es dient funktional dazu, die Voraussetzungen der massenhaft produzierenden Industriegesellschaft zu sichern. Inhaltlich tritt es als Werthaltung auf, indem es den Begriff der Menschenwürde uminterpretierte:
Mit ihm verbindet sich jetzt die Vorstellung egalitärer Teilhabe am Massenkonsum als Voraussetzung sogenannter Selbstverwirklichung.
Die Menschenrechte sind also „entgegen dem teleologischen Geschichtsverständnis der Demokraten keine endgültige geistige und ethische Errungenschaft nach langen Jahrhunderten der Unterdrückung und der Finsternis, sondern“ stellen „im Grunde die Funktions- und Überlebensweise der Massendemokratie dar“ und sind mit ihr „auf Gedeih und Verderb verbunden.“[9]
Panajotis Kondylis, 1991
Die liberale Ethik des Parteienstaats dürfen wir als die Ethik derjenigen begreifen, die unter den konkreten Bedingungen des Parteienstaates wirtschaftliche und sonstige Vorteile genießen, weil sie Parteiungen angehören, die unter einem löcherig gewordenen staatlichen Dach ihre Schäfchen ins Trockene bringen. Sie setzen ihr spezifisches Recht eigennützig so, daß es sie und ihren weiteren Machterhalt begünstigt.
Die Geldmacht ist angewiesen auf ein System, das funktional alle nicht ökonomischen Machtmittel ausschaltet, indem es sie in ihrem materiellen Wertgehalt negiert und tabuisiert.
„Weil das Recht auf diese Weise mit dem Geld und administrativer Macht ebenso verzahnt ist wie mit Solidarität, verarbeitet es in seinen Integrationsleistungen Imperative verschiedener Herkunft.“[10]
Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung
Das Recht ist in einem politischen System, das den Regeln der Theorie der kommunikativen Vernunft folgt, aus demjenigen Grund mit Geld und administrativer Macht verzahnt, weil es das Geld und die administrative Macht kraft seiner eigenen Spielregeln zu den ausschlaggebenden, letztlich alleinige Geltung beanspruchenden Regeln erhebt. Demgegenüber ist die von Habermas beschworene Solidarität als weiterer Imperativ eine pure Fiktion in einem Gesellschaftssystem, welches die Prämie auf egoistisches und nicht auf solidarisches Handeln setzt.
Der liberale Extremismus
Wie jede Idee muß aber auch die liberale darauf geprüft werden, wohin ihre absolute Dominanz über andere Prinzipien führt. Man kann sie wie jede Idee ideologisch einseitig aus einem Prinzip entwickeln: dem der Harmonie, die sich von unsichtbarer Hand aus dem Nichts einstellt. Dieses idealtypische Bild eines normativen Liberalismus muß in gedanklicher Klarheit entwickelt werden, um das Walten liberaler Vorstellungen zu erhellen und aufzuzeigen, wohin sie gedanklich konsequent führen.
So können wir den libertären „Nur-Liberalen“ skizzieren: Sein Wertegerüst ist denkbar mager. „Laß doch jeden machen, was er will!“, lautet sein Motto. Eine Gesellschaft der Wölfe schreckt ihn nicht. Für überindividuelle und nicht materiell verstandene Sinnfragen ist er vollständig blind, und zwar ganz bewußt.[11] Gegen eine multikulturelle Gesellschaft aus Muselmanen, Christen, Pornographen und Satansanbetern hat der Liberale keine prinzipiellen Einwände, solange ihm niemand aus religiösen Gründen das Geldverdienen verbieten würde.
Gesellschaftliche Bindungen und Pflichten gegenüber der Gemeinschaft stören da nur. Man denkt sich dann ein Weltbild aus, das vom sozialen Wesen des Menschen nicht viel übrig läßt.[12] So werden sich potentielle Räuber, Plünderer, Mafiosi oder Finanzhaie nicht nach einer effektiven Staatsgewalt sehnen, die sie in ihrem Eifer nur behindern könnte. Ihre Ethik wird eine kriminelle, anarchische, autonome oder liberale sein, jedenfalls eine gemeinschafts- und tendenziell staatsfeindliche. Wer sich dagegen durch Räuber etc.pp. oder durch einen äußeren Feind bedroht fühlt, wird seinen Schutz unter einem starken Staat suchen und eine dementsprechende Gemeinschaftsideologie bzw. -ethik entwickeln.
Der Liberalismus reduziert den Menschen auf Ökonomie und fungiert damit als Herrschaftsideologie der ökonomisch Starken gegenüber den ökonomisch Schwachen. Sie redet ihnen ein, das freie Walten rein ökonomischer Gesetze führe auch zu ihrem Vorteil, und diesen Vorteil sieht er ausschließlich im Geldverdienen: So bezeichnet Francis Fukuyama ihn ganz richtig als dasjenige „Regelsystem, in dem das materielle Eigeninteresse und die Anhäufung von Reichtum als legitim gelten.“[13]
Der Liberalismus ist die Ideologie des ökonomisch Starken nicht nur im privaten und innerstaatlichen, sondern auch im internationalen Maßstab. Seine Endzeitvision ist der globale Markt in der liberalen One World.
„Der Erwerbssinn, die Hauptkraft der jetzigen Kultur, postuliert eigentlich schon um des Verkehrs willen den Universalstaat.“[14]
Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, 1905.
Der Liberale Fukuyama, sieht die menschliche Entwicklung linear mit einem Anfangs- und Endzustand geradewegs ins Finale der reinen Ökonomie abrollen.[15] Im unmittelbaren Interesse der ökonomisch stärksten Macht liegt es, alle nicht ökonomisch vorgetragenen Angriffe dadurch unmöglich zu machen, daß die Ökonomie zum allein legitimen Austragungsort von Konflikten erklärt wird. Das ist die klassische Strategie der USA.
Sie wird allerdings erst funktionieren, sobald alle unliberalen Störenfriede befriedet sind. Solange die Gegner des globalen Kapitalflusses mit anderen als ökonomischen Mitteln kämpfen, muß die Alleingeltung des Ökonomischen notfalls gewaltsam hergestellt werde; zum Beispiel durch einen kleinen Einmarsch in irgendeiner Bananenrepublik. Das Freihandelsprinzip verlangt freien Zugang aller Anbieter zu allen Märkten.
Durchgesetzt hat sich auch im internationalen Wettbewerb erst, wer seine Macht normativ begründet und seine Gegner zur Anerkennung derjenigen Normen bewegt, deren Geltung die Macht weiter stabilisiert. Wo ausschließlich ökonomische Gesetze herrschen, ist militärische Macht nutzlos; ebenso wie umgekehrt in einer von militärischen Gesetzen erfüllten Welt der bloße Händler machtlos ist und wie in einer von göttlichen Geboten erfüllten Welt der Ketzer nichts zu melden hat.
Das Ende der Geschichte und die Heraufkunft einer „friedlichen“ Handelsepoche auszurufen bedeutet also nichts anderes, als den Machtanspruch derjenigen konkreten Menschen und Menschengruppen anzumelden, die ihre Stärke und ihren Vorteil in einer Weltordnung sehen, die allein unter handelsmäßigen Gesetzen steht. In fortgeschritteneren Ländern vermag man ein anderes als das Händlerethos schon gar nicht mehr zu denken. Anders außerhalb der westlichen Wertschöpfungsgemeinschaft: Diese eignet sich offenbar hervorragend dazu, eine Zeitlang den materiellen Wohlstand von Industriestaaten zu sichern.
Die Grenzen dieses Wachstums haben wir bereits überschritten und leben von der Substanz unseres Planeten. Unter den Gesetzen eines globalen Marktes verwandeln sich die Güter aller Nationen in käufliche Waren. Am Liberalismus gehen erst die solidarischen Familienbande und kulturellen Institutionen und mit ihnen schließlich die Völker zugrunde.
[1] Alain de Benoist, Gegen den Liberalismus, 2019, deutsche Ausgabe 2021, S.82.
[2] Ab hier publiziert unter der Kapitelüberschrift „Wem nützt Liberalismus“, in: Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, 1998, S.119 ff., hier leicht gekürzt.
[3] Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S.45.
[4] Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3.Aufl.1929, S.337 ff.
[5] Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, S.66.
[6] Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt 1992, S.23.
[7] Auguste Comte, Die Soziologie, S.59, „Die stationäre Lehre“.
[8] Habermas, Faktizität und Geltung, S.104.
[9] Panajotis Kondylis, Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform, 1991, S.209.
[10] Habermas, Faktizität und Geltung, S.59.
[11] Ebenso z.B. Joachim Fest, Offene Gesellschaft mit offener Flanke, FAZ 21.10.1992; Ernst Nolte, Die Fragilität des Triumphs, FAZ 3.7.1993.
[12] Konrad Adam, Die Ohnmacht der Macht, Berlin 1994, S.187.
[13] Fukuyama, Die Zukunft des Krieges, FAZ-Magazin 16.12.1994, S.16 ff. (17).
[14] Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, S.126, 65.
[15] Francis Fukuyama, Der Mensch braucht das Risiko, DER SPIEGEL Nr.15/1992, S.256; ders. Das Ende der Geschichte.
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