Björn Clemens Gedichtband erschienen

„Was tun?“ sprach Zeus, bekanntlich zu dem Poeten, „die Welt ist weggegeben, der Herbst, die Jagd, der Markt ist nicht mehr mein. Willst du in meinem Himmel mit mir leben, So oft du kommst, er soll dir offen sein.“[1]

Wir wissen seitdem: Das banale Diesseits ist die Welt des Künstlers nicht. „Ich stehe mit beiden Beinen auf der Erde“, soll der Modeschöpfer Karl Lagerfeld gesagt haben, „aber nicht auf dieser!“ Solange er das modische Bedürfnis der Damenwelt stillte, verlangte das auch niemand von ihm. Man mißt auch Poeten nicht an ihrer realistischen Bodenhaftung. Wer Poesie liest, möchte selbst geistige Höhenflüge erleben, der schnöden Welt für einen Augenblick „Ade!“ sagen und sich entführen lassen.

Dichtende Juristen gab es schon viele, an ihrer Spitze Theodor Storm. Man mag schließlich nicht „mit finsterem Amtsgesicht“ immer nur „Relationen schreiben.“[2] Auch der Düsseldorfer Rechtsanwalt Björn Clemens mochte das nicht. Man kann nicht immer nur Bürostaub atmen. Darum möchte er die Blicke auf Höheres richten:

Wendet die Blicke zur leuchtenden Sonne
Vom Tale zum Berge zum Hohen empor
Ihnen erwachet im Hades kein Morgen
Da Euch zur Verheißung das Schicksal erkor.

Björn Clemens, Triage, Licht aus Schatten, 2021, ISBN 978-3-949653-00-1 [3]

Wer mit unserer traditionellen Symbolsprache vertraut ist, versteht das. Hochherzig ist die Gesinnung der Treuen, Ihnen ist das Morgen verheißen, doch niedrig der Sinn der Verworfenen, die sich von der Sonne abwenden:

Glaubet sie werden verraten einander
Verdorbene Saat trägt reichliche Fracht
Wählten sie selbst nicht ihr eignes Verdammen
Der Meineidsgenossen harrt ewige Nacht.

Björn Clemens

Auch ein Dichter darf heutzutage auf dem schmalem Grat zwischen schon Verfolgbarem und noch Erlaubtem keinen falschen Schritt tun. Da bietet sich der Weg in die poetische Unbelangbarkeit an. Metaphern sind schlüpfrig und vieldeutig, das ist so ihre Art. Man kann ihren Verwender auf nichts Konkretem festnageln. Man soll verstehen, aber man soll nichts beweisen können. Die Sprache der Dichtung war in allen Gesinnungsstaaten immer eindeutig zweideutig.

Einen Gegenschlag kann man mit poetischer Subversion führen. Die Eingeweihten verstehen das Zwitschern der Vögel und den Rhythmus ihrer Lieder. Für alle anderen bleibt sie eine Fremdsprache. Sie hören nicht die Zeilen zwischen den Zeilen heraus und können die Wortbilder nicht entschlüsseln:

Nur Geweihte tragen das Vermächtnis
Nur Sehende wissen von dem Licht
Nur die Treuen haben Recht zum Leben
Nur die Gläubigen kommen einst zum Herrn.


Doch die Ängstlichen stehen schon am Grabe
Die Knechte werden gerne unterdrückt
Die Sklaven wollen Unglück spüren
Und die Blinden scheuen freie Sicht.

Björn Clemens [4]

Wer schöne Poesie schreiben und zugleich eine politische Programmatik verfolgen will, steckt in einem Dilemma. Gewöhnlich ist die Thematik viel zu komplex, um sich in ein eingängiges Gedicht pressen zu lassen. Über die zeitbedingten Produktionen politischer Lyrik ist die Zeit hinweggegangen: sehr politisch, wenig lyrisch. So erging es den meisten langatmigen Gedichten und Liedern des Vormärz und der 1848er-Revolution mit ihren überlangen Zeilen ebenso wie dem Arbeiterdichter Karl Henckell (1864-1929).

Er mußte sich hüten, zu deutlich zu werden. Bei gleichzeitigem Verklausulieren, Poetisieren und Politisieren wurde er oft nicht allen Wünschen gleichermaßen gerecht. Scheinbar über Ulrich von Hutten und den Bauernkrieg dichtete er:

Kalt niederlächelte der Kaiserthron –
Da schuft ihr sie, die Revolution.
Mit Bürger, Bauer wider Fürstenmacht
Und unfehlbarer Pfaffenniedertracht.
Da schlugt ihr los – und schlugt zu früh. Verderben!
Auf Landstuhl, Franz , das war ein traurig Sterben. Es irrt der Freund umher im Schweizerland,
Qualübermannt.

Karl Henckell [6]

Na ja: Wer mag so etwas heute lesen? Der sittliche Nährwert des Gedichts bestand im guten Rat des Dichters Karl Henckell an seine sozialistischen Freunde und Genossen, mit ihrer Revolution nicht zu frühzeitig loszuschlagen. Henckell konnte auch gefälliger reimen, kannte sich aus mit Versmaß und Endreim und was der Leser als Konsument poetischer Aufmunterungen halt so liebt. Im Konflikt zwischen den Zielen der Poesie und der Propaganda muß sich jeder Dichter entscheiden, oft auch Kompromisse machen. Dem Rezensenten ist die Quadratur des Kreises nie gelungen, seinen poetischen Ansprüchen und politischen Ambitionen zugleich zu genügen.

Gern dürfen Dichter kompromißlos Metaphern mit metaphysischen Zutaten auftischen. Von Dichtung erwartet man das. Björn Clemens deckt seinen Lesern üppig den Tisch. An Licht und Finsternis, Freund und Feind, Liebe und Haß, Verheißung und Schicksal herrscht kein Mangel.

Wie das erste Adventslicht ein vorchristliches Symbol in der dunklen Jahreszeit ist, fehlt es auch in Björn Clemens Gedichten nicht an Licht und Finsternis.

Am vertrautesten lesen sich seine als „Volksliedstrophen“[7] verfaßten Vierzeiler, etwa „Die Masken“:

Sie tragen keinen Namen
Sie haben kein Gesicht
Kein Grund aus dem sie kamen
Und wissen nicht vom Licht


Verbeugen sich zum Staube
Der durch die Straßen weht
Der Schlinge gilt ihr Glaube
Der nur für sie gedreht.

Björn Clemens [8]

Die sich entfaltende Metaphysik ist protopolitisch.

Hohem Glauben wollen wir uns neigen
Tiefem Sinn sei unsere Seele zugedacht

Liest man das hübsch eingebundene Gedichtbändchen im Zusammenhang, erkennt man aber beim Vergleichen der gewählten Metaphern und Wortbilder mit historischen Liedvorbildern die Marschrichtung:

Sind verdorben unsre Fahnen
Oder aufgetragen von den Ahnen
Unser kämpferischer Stolz der Weg aus Holz?[9]

„Fahnen wehen“, in uns brennt „schöpferische Glut“, wir sind „Flamme nicht Asche“. Clemens sieht

Dort Freunde nah bei Freunden stehn
Gerufen von dem Worte
An weißen klaren Flammen
Im engen Kreis zusammen
Wo sie geheime Geister sehn
An weißen klaren Flammen
Im engen Kreis zusammen[10]

Für solche Freunde dichtet Clemens. Hinter der uns beherrschenden Machttechnik sieht er „metaphysische Kräfte und Gegensätze“, wie er im Vorwort schreibt: „Wer nun die Frage nach der Metaphysik dieser Machtverhältnisse stellt und damit über sie hinaus denkt, landet unweigerlich bei dem, was ich den politischen Satanismus nenne: eine mit pseudoreligiösen Mitteln maskierte Herrschaft des Bösen.“

Dagegen sind „wir“ – der Dichter und sein Publikum – „Katechonten“. Damit verweist Clemens auf das meist unausgesprochene Arcanum von Carl Schmitts Werk. Den gläubigen Katholiken Schmitt hatte der Albdruck bürgerkriegsähnlicher Zeiten und der allmähliche Zusammenbruch des alten Wertekosmos nie losgelassen.

Schmitt sieht, wie sein großes Vorbild Donoso, die Moderne im Zeichen des Antichristen, jenes im zweiten Thessalonicherbrief angekündigten Widersachers, der sich über alles erhebt, was Gott und Gottesdienst heißt, sich selbst zum Gott aufwirft und einen Zustand des Chaos, der Gesetzlosigkeit, der Lüge und der Bosheit herbeiführt.[11]

Stefan Breuer, FAZ 27.2.1995
Dräut der Satan, oder waltet da Gott? Der Himmel und die Sonne bieten einen unerschöpflichen Fundus für Metaphern.

Bekanntlich war Carl Schmitt bereit, zur Rettung des christlichen Abendlandes weitgehende Zugeständnisse bei gewissen bürgerlichen Freiheiten zu machen. Wer die verlorenen Seelen vor dem Satan retten will, kann nicht zimperlich sein. Katechon, der Aufhalter, ist der Staat in seiner durch die Einheit von Kirche und Staat geprägten Gestalt.

Wer Clemens‘ Eschatologie und seinen Glauben teilt, wird den Gedichtband freudig begrüßen und sich emotional in ihm wiederfinden: „Überwinden wir den Tod ins Morgenrot“.[12] Zuweilen wird der Dichter vom Visionär noch überrundet.

Ein guter Reim
heimlich und fein
schleicht sich in
dein Herz hinein.

Sacht führt er dich
an seiner Hand
in ein inn’res
Wunderland.

Das Land ist fern
und doch ganz dein.
Den Schlüssel hast
nur du allein.

KK 29.11.2021

[1] Friedrich Schiller, Gedicht „Die Teilung der Erde“.

[2] Lied: Oh alte Burschenherrlichkeit.

[3] Björn Clemens, Triage, Licht aus Schatten, 2021, ISBN 978-3-949653-00-1, „Im Tale“, S.39 f.

[4] Björn Clemens, Triage, Licht aus Schatten, 2021, ISBN 978-3-949653-00-1, „Triage“, S.29.

[5] Franz von Sickingen fiel am 7.5.1523 auf Burg Nanstein über Landstuhl.

[6] Entnommen: Klaus Kunze, Gegensätzliche Brüder: der Großindustrielle, der Sozialrevolutionär und der Tierarzt , in: Klaus Kunze / Karin Huser / Ursula Renner, Karl Henckell, Literatur- und Sozialrevolutionär. Hrg. Regula Schenkel und Edi Goetschel, Zürich 2017, ISBN 978-3-9523855-1-7, S.13 ff., S.23.

[7] Wolfgang Kayser, Kleine deutsche Versschule, 27. Auflage 2002, ISBN 978-3-7720-1426-0, S.40.

[8] Vgl. Theodor Storm, Loose, in: Theodor Storm: Sommergeschichten und Lieder. Duncker, Berlin 1851, Seite 37.

[9] Aus dem Gedicht „Wir Katechonten“, Björn Clemens, a.a.O. S.30.

[10] Aus dem Gedicht „Thing“, Björn Clemens, a.a.O. S.31.

[11] Stefan Breuer, Der letzte Ritter der heiligen Johanna, Rezension zu: Günter Meuter, Der Katechon, Zu Carl Schmitts fundamentalistischer Kritik der Zeit, FAZ 27.2.1995

[12] Aus dem Gedicht „Wir Katechonten“, Björn Clemens, a.a.O. S.30.