Was die Rechte aus den Fehlern der Linken lernen kann
Jedes Ende birgt einen neuen Anfang. Die alte Linke war marxistisch inspiriert. Für den freien Westen waren ihre Klassenkampftheorien seit Jahrzehnten durch die reale Existenz eines östlichen Sozialismus widerlegt. nach dessen ökonomischem Zusammenbruch 1989 sahen auch seine spätmarxistischen Epigonen das ein. Nur ein paar Ewiggestrige Linke und linke Theoretiker auf deutschen Lehrstühlen bewahren das verstaubte Erbe.
Die ideologische Mutation vom Marxismus zum Postmarxismus wurde auf der gegenüberliegenden Seite des Spektrums nicht rechtzeitig und nicht vollständig in ihren Konsequenzen für die eigenen Positionen erkannt. Während die alte Rechte eine neue Rechte gebar, erzeugte auch die alte Linke eine neue.
Das 19. und 20. Jahrhundert hatte die Epoche der großen ideologischen Entwürfe und Utopien gebildet. Sich aus ihrem Treibsand herauszuarbeiten, gelang vielen alten Streitern nicht. Sie verstummten und starben mit ihm aus.
Neue Linke und Rechte benutzten strukturell dieselbe Methode, aus den hemmenden Gedankengehäusen ihrer Vorgänger auszubrechen. Einem ausschlüpfenden Schmetterling gleich mußten sie die alte Puppenhülle aber erst einmal sprengen. Ihre Methode nannten die Rechten Metaphysikkritik, die Linken Dekonstruktion.
Das aufzubrechende Gedankengefängnis besteht jeweils in einem Normativismus. Normativ ist eine jede Lehre, die behauptet, es gebe eine universelle Seinsordnung jenseits der Naturgesetze, aus der für jeden Menschen ein vorgegebenes, absolut geltenden Sollen folgt. Den Glauben an eine solche verbindliche Ordnung nennt die Philosophie Metaphysik.
Metaphysiker wähnen alle Menschen einer objektiven, aus sich selbst heraus geltenden Seinsordnung unterworfen. Je nach Geschmack handele es sich um Gottes Schöpfungsordnung, eine ewigen Wiederkehr des Gleichen, ein dialektisch-materialistisches Gesetz der Geschichte; die angebliche Vernunftnatur des Menschen oder ein Gesetz des Stärkeren; die Gleichheit aller, die Menschenantlitz tragen oder die Höher- und Minderwertigkeit von Rassen; die westlichen Wertegemeinschaft und unzählige andere mehr.
Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, Esslingen 1995, S.9.
Mit der philosophischen Aufklärung wurde nach und nach alle Metaphysik widerlegt.
Die rechte Metaphysikkritik
Plato und Hegel gingen an keinem Intellektuellen spurlos vorbei. Zu bestechend scheint ja auf den ersten Blick die Vorstellung zu sein, die Ideen müßten vor den Erscheinungen schon existiert haben. Wenn die Herstellung des ersten Tisches die vorherige Existenz einer Idee Tisch vorauszusetzen schien, hielten schon Theologen des Mittelalters die Ideen für real: Universalia sunt ante rem. Wilhelm von Ockham warnte dagegen: Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem. Vervielfache nicht die „Wesenheiten“ ohne Notwendigkeit!
Von platonischen Trugschlüssen beflügelt, gelangte trotzdem man seit Fichte zu Gebilden wie dem deutschen Volksgeist, mit Herder von Völkern als Gedanken Gottes, Staaten als Inbegriff der sittlichen Ordnung (Hegel) und dergleichen mehr. Heute nennt man alle diese Vorstellungen zusammenfassend essentialistische: Sie behaupten die wesenhafte Existenz kollektiver Ordnungen wie die eines Volkes. Wer sie heute noch vertritt, zieht sich den Bannfluch des Bundesverfassungsgerichts zu. Er steht im Verdacht, eine völkisch-kollektivistische Ordnung errichten zu wollen und die individuellen Grundrechte der nicht „zum Volk Passenden“ zu schmälern.
Metaphysikkritik hat hohes destruktives Potential. In „Mut zur Freiheit habe ich 1995 alle Schuldmetaphysik widerlegt, vor allem diejenige, die uns kollektive Verantwortung oder spezielle Pflichten auferlegen will, bloß weil wir Deutsche sind. Mein Preis dafür bestand in der Unmöglichkeit, künftig nationale Forderungen mit metaphysischer Begründung zu unterfüttern. Aus dem heiligen Deutschland unserer Großväter wurde das Deutschland meiner Vorstellung, das ich liebe.
Wenn man den Begriff des Volkes nicht als bloße Sammelbezeichnung für viele einzelne Menschen betrachtet, kann man […] nur zu dem Schluß kommen, daß es Völker nur in unserer Vorstellung gibt: „In mente“, hätte Ockham gesagt: im Geiste. Real vorhanden sind allerdings die Verwandtschaftsbeziehungen, die gemeinsame Sprache und die gemeinsame Geschichte der Angehörigen eines Volkes. Alle diese Umstände bewahren das Phänomen „Volk“ aber nicht, wenn es als Volk nicht mehr „in mente“ ist: im Bewußtsein seiner Angehörigen also. Das „Deutschland, welches wir lieben und zu sehen begehren, hat nie existiert und wird vielleicht nie existieren. Das Ideal ist eben etwas, das zugleich ist und nicht ist. Es ist die im tiefsten Herzen der Menschen leuchtende Sonne, um welche unsere Gedanken“[1] sich drehen. Das reale Deutschland: das können nur konkrete Menschen sein, die Gesamtheit aller Deutschen. Wer sich für sie verantwortlich fühlt und sie zu seiner Herzenssache macht, rechnet zu ihnen die Gesamtheit der Lebenden, der Toten und der Ungeborenen. Das ideale heimliche Deutschland dagegen trägt jeder nur in sich allein.
Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, 1.Aufl., S.236.
Wie jede Liebe, ist diese Liebe zweckfrei und nicht begründungsbedürftig. Wenn ich mich entscheide, mich von ihr leiten zu lassen, verzichte ich darauf, mit metaphysischem Zauberstab den Volks- oder Weltgeist zu beschwören. Verzichten muß ich zugleich auf jedes „Gott-will-es!“, also auf jeden Anspruch auf soziale Geltung für alle. Dieses Dilemma teile ich mit Neulinken:
Linke dekonstruieren sich selbst
Auch sie erheben einen sozialen Geltungsanspruch. Altlinke trugen ihn mit der Behauptung vor, es gebe historische Gesetzmäßigkeiten, die von der fröhlichen Urgesellschaft über den Sündenfall des Privateigentums an Produktionsmitteln, den Klassenkampf und die Revolution zwangsläufig über den Sozialismus in einen fröhlichen Kommunismus münde. Die Theorien von Karl Marx enthielten damit pure Metaphysik.
Als die Marxisten Ernesto Laclau und Chantal Mouffe 1985 die erste Auflage ihres wegweisendes Buchs zur Dekonstruktion des Marxismus publizierten, war bereits von einer Arbeiterklasse weltweit nichts zu sehen, die allgemeine Verelendung der Massen blieb jedenfalls in den Industrieländern aus, und die angeblichen Gesetze des historischen Materialismus erwiesen sich als Seifenblasen. Die beiden erkannten früh die Zeichen der Zeit. Sie argumentieren radikal im Sinne der konstruktivistischen Theorie. Ihr zufolge bestehen alle sozialen Einheiten aus Individuen und nichts sonst. Sobald sie sich im Sinne gemeinschaftlichen handelns artikulieren, entstehen daraus vergängliche Gebilde wie Familien, Verbände, Gruppen, Klassen oder Völker, die jederzeit in sich zusammenfallen können, wenn sie nicht mehr „artikuliert“ werden.
Sie wenden damit die Denkstruktur klassischer Metaphysikkritik an. Das ist keineswegs originell. Beeindruckend ist aber, daß Linke zu diesem Umdenken überhaupt imstande waren. Ihr ideologischer Schlüssel paßte aber nicht mehr auf die Realität. Sie mußten das meiste über Bord werfen, was sie aus Karl Marx gelernt hatten und zu schätzen wußten. Als die Kluft zwischen seiner Beschreibung und der Realität des 20. Jahrhunderts aber nicht mehr zu übersehen war, wagten sie den Schritt, den Marxismus zu dekonstruieren.
Darin lag keineswegs ein Abschied von ihren revolutionären Gefühlen. Immer noch sehnten sie sich nach Gleichheit aller Menschen und wehrten sich „gegen die Rekonstruktion einer hierarchischen Gesellschaft.“ Es
sollte die Alternative der Linken darin bestehen, sich vollständig auf dem Feld der demokratischen Revolution zu verorten und die Äquivalenzketten zwischen den verschiedenen Kämpfen gegen Unterdrückung zu erweitern.
Ernesto Laclau, Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, S.219
Alle metaphysischen Behauptungen erheben den Anspruch universeller Geltung. Diesen Anspruch zu zerstören, zählt zu den zentralen Aufgaben jeder Metaphysikkritik alias Dekonstruktion:
Es gibt keine radikale und plurale Demokratie ohne den Verzicht auf den Diskurs des Universalen und seiner impliziten Behauptung eines privilegierten Zugangspunktes zu ‚der Wahrheit‘, die nur von einer begrenzten Zahl von Subjekten erreicht werden kann.
Ernesto Laclau, Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. 1991, 3. Aufl. 2006, S.237.
Ich hatte das 1995 ein wenig ausführlicher begründet:
Ihre weiteste geographische Intensität erreicht das Dominanzstreben, wenn der Normativist seinen Normgeltungsanspruch auf die ganze Welt ausdehnt, indem er für seine Ideen universale Geltung fordert. Die geläufige Taktik dabei ist es, die subjektive Welt-Anschauung universal zu verabsolutieren und so den Normgeltungsanspruch: „Alles hört auf mein moralisches Kommando!“, auf die ganze Welt auszudehnen. Bei Religionen ist das der Regelfall: Jeder Ungehorsame werde sicher Ärger bekommen werde, wenn er sich nicht nach den Geboten ihres jeweiligen Gottes richtet. Nur sehr bescheidene Völker schreiben ihren Göttern nicht gleich die Schöpfung des ganzen Weltalls zu. Derartige aus dem Jenseits begründete, also transzendierte Geltungsansprüche[2] sind der Regelfall gesellschaftlicher Herrschaftslegitimation, sie sind der Kitt des Gemeinschaftlichen schlechthin und spielen bei der Aufrechterhaltung aller sozialen Systeme die ausschlaggebende Rolle.
Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, 1995, Kapitel „Der Universalist“, S.68 ff.
Ein Kernpunkt der dekonstruktiven Methode besteht im Nachweis, daß es eine Arbeiterklasse als historische „Entität“ überhaupt nicht gibt. Es mag Intellektuelle geben, die sich das zeitweise so vorstellten. Es gab und gibt auch Arbeiter, die sich vorstellen, Arbeiter zu sein. Aber ein historisches Subjekt „Arbeiterklasse“ gibt es ebensowenig wie ein die Zeiten überdauerndes historisches Subjekt eines Volkes. Diese Vorstellungen bezeichnen Laclau und Mouffe in ihrem Jargon als Essentialismus der Totalität:
Nur wenn der offene, ungenähte Charakter des Sozialen gänzlich akzeptiert, wenn der Essentialismus der Totalität der Elemente verworfen wird, wird dieses Potential klar erkennbar und kann ‚Hegemonie‘ ein wesentliches Werkzeug für eine politische Analyse der Linken sein.
Ernesto Laclau, Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. 1991, 3. Aufl. 2006, S.238.
Daß es „die Arbeiterklasse“ als „Essenz“ gar nicht gibt, bildet für altgediente Marxisten eine wesentliche neue Einsicht. Sie werden zu Postmarxisten, indem sie ihre Ideale bewahren, sie aber nicht als absolut und universell geltende Gesetzmäßigkeiten der Geschichte mehr ausgeben.
Das Dilemma
Damit stehen sie vor demselben Dilemma wie die postnationalistische Metaphysikkritik. Wie soll man den Anspruch auf soziale Geltung und Vorherrschaft der eigenen Wünsche erheben, wenn man nicht nicht mehr mit ihrer Übereinstimmung mit den ewigen Gesetzen des Daseins begründen kann?
Hier bleibt Laclau und Mouffe nur die resignierende Hoffnung, der demokratische Weg solle zugleich das Ziel bedeuten. Sie halten vielleicht die sich immer wieder von unten erneuernde Diskussion und die Artikulation eigener Ansprüche auf beschreibender Ebene für ein Funktionsprinzip alles Gesellschaftlichen, das sie auf normativer Ebene auch einfordern. Damit reihen sie sich in die Vertreter der Diskurstheorien im weitesten Sinne ein. Unerklärlich bliebe dabei, wie die Weltgeschichte anscheinend jahrtausendelang auch ohne Diskurs per Ordre du Mufti funktionieren konnte.
Die Weltgeschichte war für linke Theoretiker aber noch nie ein Feld, auf dem sie mit Kenntnissen glänzen konnten. Wenn wir wohlwollend annehmen, es sei gar nicht ausdrücklich gesagt und nicht gemeint gewesen, sie hätten ein zeitloses gesellschaftliches Funktionsprinzip entdeckt, bleibt am Ende eine normative Leere. Sie besteht darin, daß Laclau und Mouffe an keiner Stelle ihres Werkes geltend machen können, warum ihr sozialistischer Traum einer demokratischen Revolution denn normativ zwingend wäre. Wer die Frage nicht beantworten kann, warum etwas denn genau so sein soll, wie eres fordert, verzichtet auf jeden gesellschaftlichen Geltungsanspruch.
Dann bleibt ihm nur wie auch mir das offenherzige: „Weil ich das eben so will. Es entspricht meinen Gefühlen und Bedürfnissen.“ Manche Leute können eben von ihrem Jesulein nicht lassen, andere von ihrem Vaterland, wieder andere von ihrem Traum von einer roten Revolution. Den persönlichen Gefühlen folgt die persönliche Entscheidung, die Dezision.
Es nimmt nicht wunder, daß sich Chantal Mouffe 2007 in ihrem Büchlein „Über das Politische“ zu Carl Schmitt bekannt hat, einem prominenten Theoretiker des Dezisionismus: Jede Ordnung gilt nur und erst, wenn jemand entscheidet, daß sie gelten soll. Schmitt war gläubiger Katholik, Mouffe ist Sozialist. Die Inhalte unseres Glaubens sind durch welten getrennt. Die gemeinsame Denkstruktur und die Argumentationslogik aber verbindet uns.
[1] Paul De Lagarde, Deutsches Wesen, S.83.
[2] Habermas, Faktizität und Geltung, S.23.
Schreibe einen Kommentar