Wenn ein Glaubenssystem zusammenbricht, gibt es gewöhnlich Tränen. Die Gläubigen verstehen die Welt nicht mehr. So ereilt auch die langjährigen Funktionseliten unseres Landes seit 2015 ihr Schicksal. Die Wirklichkeit ist über sie hereingebrochen.

Ihr verträumter Glaube hatte darin bestanden, endlich die vermeintlichen Irrwege der deutschen Geschichte hinter sich gelassen zu haben. In alle vier Himmelsrichtungen gaben sie Freundschaftserklärungen an alle Welt ab. Sie wähnten, damit das Phänomen der Feindschaft endgültig besiegt zu haben. Ab jetzt, waren sie sich sicher, würde uns alle Welt nur noch freundlich behandeln. Diesem Glauben entsprach operativ der Multilateralismus. Eingebunden in ein weltweites Netz von Verträgen sollte Deutschland nie wieder gefährliche Sonderwege beschreiten. Sie sahen ja so herrlichen Zeiten entgegen.

Bestärkt wurde diese Weltsicht durch den scheinbar genialen Einfall, man könne alle zwischenmenschlichen Konflikte durch Diskurs lösen. Wenn alle einander in einer idealen Gesprächssituation nur geduldig zuhörten, würde sich gewiß ein Konsens herausbilden. Das Verhaltensrepertoire sollte sich auf verbale Kommunikation beschränken. So wuchsen in Deutschland zwei Generationen junger Leute heran, deren Vorstellungswelt von vielen bunten Luftballons geprägt war und die sich Konfliktbewältigung nur noch in Stuhlkreisen vorstellen mochte.

Doch leben wir leider in einer anderen Welt, in einer anderen Realität. Die Gewalt hat bisher immer über die Rede gesiegt, zumal, wenn die Gewalt groß war und die Rede klein. Wie weit deutsche Politik mit beschwichtigendem Kleinreden von Konflikten kommt, sahen wir in den Nahostkriegen der letzten Jahre. Dort hört uns niemand mehr zu. “Wie viele Divisionen hat der Papst?”, soll Stalin 1945 gespottet haben, als die Angloamerikaner den Papst an den Verhandlungstisch um die Aufteilung Deutschlands hatten holen wollen.

Wie viele einsatzfähige Divisionen hat die Bundeswehr? Welche anderen, nicht kriegerischen Mittel haben wir, unsere Interessen in der Welt durchzusetzen? Präsident Trump hat bereits die erste Stufe eines Handelskrieges gegen Deutschland begonnen. Er läßt “Sanktionen” gegen deutsche Unternehmen verhängen, Strafmaßnahmen. Wer einen anderen bestraft, stellt sich rangmäßig über ihn. Amerika behandelt Deutschland wie eine unbotmäßige Kolonie, deren Eingeborene gegen amerikanisches Recht verstoßen, unzivilisiert wie sie sind. Statt russischen Erdgases sollen wir lieber amerikanisches kaufen.

Natürlich wäre das “strategisch viel sicherer”, wir wären dann nicht “abhängig von den Russen, die uns jederzeit den Gashahn zudrehen” könnten. Herr Trump hätte viel lieber selbst einen Gashahn in der Hand, den er uns jederzeit zudrehen könnte, zum Beispiel, wenn wir nicht brav unseren Militäretat auf 2% erhöhen.

Handeln Freunde so?

Völker haben keine Freunde, Völker haben nur Interessen. Das Weltbild unserer Funktionseliten zerbröckelt vor aller Augen. Der multilateralistische Glaube zerbricht, es gebe eine Art historischer Entwicklungstendenz hin zu einer One World, zusammengehalten durch Verträge und Abkommen. Es gibt aber kein solches „Ende der Geschichte“. In unserer realen Staatenumwelt vertreten alle anderen, für jedermann sichtbar, ihre eigenen Interessen: “America first”, “Britannia rules the waves” und so weiter, wir kennen das noch.

Alle Völker vertreten in einer Welt immer knapperer Ressourcen ihre eigenen Interessen. Nur Deutschland hat eine Regierung, die lieber die Welt rettet als ihr eigenes Volk. Tatsächlich haben auch in den letzten Jahrzehnten alle Völker ihre ureigenen Interessen vertreten. Unsere Funktionseliten haben sich darüber nur mit schwülstigem Pathos einer angeblichen westlichen Wertegemeinschaft hinweggetäuscht. Die hat es tatsächlich nie gegeben.

Was es gegeben hat, war eine ständige Übernahme US-amerikanischer Positionen und Begriffe. Keine Mode war zu geschmacklos, kein Trend zu plump, um nicht bald in Deutschland als der letzte Schrei begrüßt und kopiert zu werden. Das gilt auf dem Gebiet der Politik, auf dem der Mode, auf dem der Ideologien, zuletzt der politischen Korrektheit mit allen seinen schrillen Folgen wie dem Genderismus.

Die Interessenlage der USA auf einen Blick

Vergessen wurde schnell, daß die NATO ausdrücklich gegründet wurde, um “die Amerikaner drin, die Russen draußen und die Deutschen unten zu halten”. Ach wie gern duckten sich unsere Politiker und Feuilletons unter die militärischen Fittiche der USA. Das erlaubte ihnen, die Kleinen, Harmlosen und Guten der Weltpolitik zu spielen. Nun ist die NATO “hirntot”, formuliert der Franzose. Tatsächlich sehen die USA keinen Anlaß mehr, “die Amerikaner drin, die Russen draußen und die Deutschen unten zu halten”. Der Wind hat sich gedreht.

Lange Zeit hatten wir in einer von zwei in sich abgeschotteten Welthemisphären gelebt, der sogenannten westlichen, tatsächlich aber amerikanischen. Einen gewissen Freiraum, eine eigene kleine Spielwiese, hatten die „westlichen“ Völker nur im Rahmen ihrer treuen Gefolgschaft zu den USA. Diese Epoche ist vorüber. Heute erfüllt sich die Hoffnung des Staatsrechtlers Carl Schmitt, daß

die Erde immer größer bleiben wird als die Vereinigten Staaten von Amerika und daß sie auch heute noch groß genug ist für mehrere Großräume, in denen freiheitsliebende Menschen ihre geschichtliche, wirtschaftliche und geistige Substanz und Eigenart zu wahren und zu verteidigen wissen.

Carl Schmitt, hier zitiert nach Helmut Quaritsch, Positionen und Begriffe Carl Schmitts, Berlin 1991, S.123.

Die amerikanisch gelenkte Nachkriegszeit hinterließ uns in Deutschland ein kosmopolitisch erzogenes Politikertum, das durch bloße Freundschaftserklärung an alle Welt politische Konflikte beseitigen wollte. Wenn ein Volk allerdings aufhört, politisch zu handeln, verschwindet nicht die Politik aus der Welt. Es verschwindet nur ein schwaches Volk. In die bunte Luftballonwelt unserer Politiker ist der Sturm der Realität gefahren. Wenn sie ihr Fähnchen nicht schnellstens nach diesem rauhen Wind drehen, wird er sie wegfegen. Aber sie sind ja Meister der Anpassungsfähigkeit. Mal sehen, was sie uns demnächst erzählen. Vielleicht: “Deutschland zuerst?”