Daimler-Betriebsrat fassungslos
„Daimler will Motoren in China bauen – Betriebsrat fassungslos“ – so titelten mehrere Nachrichtenportale. Die Gewerkschafter verstehen die Welt nicht mehr. Wir können sie ihnen aber schnell erklären.
„Zusammen mit ihrem einst erbitterten Konkurrenten Geely und heutigen Groß-Aktionär will die Daimler AG einen komplett neuen Verbrenner entwickeln. Der Fahrzeughersteller aus China hatte in diesem Jahr bereits den Zuschlag für die Produktion des vollelektrischen Smarts bekommen, weshalb das ursprüngliche Werk im französischen Hambach zum Verkauf steht.“
Anna Lena Schüchtle 26.12.2020 auf BW 24
schreibt Anna Lena Schüchtle am 26.12.2020 auf BW 24, „Der schwäbische Autobauer sieht sich aktuell mit einer neuen Aufgabe konfrontiert, denn China schloß jüngst ein mächtiges Bündnis, das zahlreiche Jobs bei der Daimler AG vernichten könnte. Der Grund: Laut Experten müßte der Fahrzeughersteller einen großen Teil seiner Produktion nach Asien verlagern, um auf dem Weltmarkt auch weiterhin bestehen zu können. Zumindest bei der Kooperation mit Geely scheint sich diese düstere Prognose bereits zu bewahrheiten. Der asiatisch-pazifische Markt hat mittlerweile eine große Bedeutung für die Daimler AG – vor allem das Geschäft in China boomt. Gemeinsam mit Geely will der Stuttgarter Konzern nun einen neuen Benzinmotor entwickeln, der dann auch in Fahrzeugen mit Hybridantrieben verbaut werden soll. Geplant ist jedoch, dass nicht nur in Europa, sondern auch in der Volksrepublik produziert wird.“[1]
Die Macht hat, wer die Regeln regelt
Zwischen den Interessen der deutschen Belegschaften der Daimler AG und denen dieser AG besteht ein offener Widerspruch und Konflikt. Er kann nicht innerbetrieblich geschlichtet werden. Die Macht hat, wer die Regeln regelt. Die innerbetriebliche Macht, die Produktion ins Ausland zu verlagern, hat der Konzern. Er bestimmt auf dem Arbeitsmarkt die Regeln, weil niemand ihn daran hindert.
Die Belegschaft ist nicht machtvoll genug, ihre Interessen durchzusetzen. Unser Staat wäre es, hätten wir ihn denn. Ein deutscher Staat, der die Interessen einer deutschen Belegschaft wahrnimmt und Gesetze entsprechend erläßt, existiert aber seit Jahrzehnten nicht. Es müßte ein nationaler Staat sein, der das Gemeinwohl aller Deutschen vertritt. Das würde sich hier mit dem gemeinsamen Interesse aller Deutschen decken, die Kerne unserer Industrie in unserem Lande zu erhalten. Wir sind aber liberal.
Einen nationalen Staat haben wir nicht. Wir haben gar keinen Staat, der willens oder imstande ist, die gemeinsamen Interessen aller Deutschen nachdrücklich zu vertreten.
Interessenkonflikt zwischen Eigennutz und Gemeinwohl
Zwischen Staat und dem Egoismus des Individuums besteht immer ein Interessenkonflikt: Als Einzelner hat jeder ein gegen das Allgemeinwohl gerichtetes Interesse: zum Beispiel daran, am liebsten keine Steuern zu zahlen. Derselbe hat als kleines Teilchen des Ganzen, unserer Gemeinschaft, aber ein gerade entgegengesetztes Interesse daran, daß Steuern fließen, weil sie ihm selbst zugute kommen. So steckt der Interessenkonflikt verborgen in jedem Einzelnen.
In einem funktionierenden Staatswesen muß das Interesse des Ganzen ebenso vertreten sein und durch eine Institution verkörpert werden wie die vielerlei Interessen der Einzelnen. Der Staat sollte Sachwalter des Ganzen sein und die gemeinschaftlichen Interessen der Nation vertreten. Die vielfältigen Interessen der gesellschaftlichen Kräfte sind im Bundestag vertreten. Wo aber in anderen Staaten wie den USA die Interessen der Allgemeinheit institutionell in der Person des Präsidenten gebündelt werden, herrscht in Deutschland ein Machtvakuum. Oft tritt es auch als geistiges Vakuum in die Öffentlichkeit.
Die Gesellschaft hat in Deutschland die Machtbalance zwischen Gemeinwohl und den Egoismen beseitigt und sich zur absoluten Gesellschaft aufgeschwungen. Sie bildet den extremen Gegenpol zu einem absoluten Staat, wie es ihn im Absolutismus gegeben hatte. Die jeweils stärksten gesellschaftlichen Parteiungen haben die Staatsgewalten in der Hand. Die Gesellschaft hat den Staat entmachtet.
Globalisierungsgewinner und -verlierer
Doch wer beherrscht die Gesellschaft? Sind Glück, Sicherheit und Wohlstand für alle ausgebrochen, seit die Gesellschaft die absolute Freiheit ausgerufen und dem Staat die Nachtwächtermütze aufgesetzt hat?
Glückliche Gesichter gibt es tatsächlich, aber bei Daimler sind es nicht mehr so viele. Höheren Gewinn machen die hinter der Daimler AG stehenden Anteilseigner. Das Finanzkapital ist international eng miteinander verbunden und verwoben. Es ist daran interessiert, aus einem Unternehmen größtmöglichen Gewinn herauszuholen. Dieses Interesse ist legitim. Unsere Interessen als Deutsche, als Arbeitnehmer und als Verbraucher richten sich aber dagegen, daß globale Konzerne und Finanziers durch ihre schiere Marktmacht stärker unsere Lebensverhältnisse beherrschen, als unser eigener Staat das noch vermag. Wer wollte sie noch an die Leine nehmen, die Daimlers und Microsofts, ihre Marktstrategen und Hintermänner?
Als Deutschland 1924 die ihm von den Siegermächten des ersten Weltkriegs abgepreßten Reparationen nicht mehr hatte zahlen können, lieh das amerikanische Finanzkapital uns „großzügig“ viele Milliarden Reichsmark. Damit begab Deutschland sich in die Rolle eines privaten Schuldners der Kapitalgeber. Die letzten Raten wurden erst 2010 abgezahlt. Scharfsichtig erkannte Ernst Niekisch 1929, was sich da eigentlich ereignet hatte:
Durch den Dawespakt, dem die deutsche Wirtschaft den Weg ebnete, wurde die „Herrschaft des Kapitals – und zwar in diesem Falle die Herrschaft des Finanzkapitals – über die Gesellschaft“ auch in Deutschland aufgerichtet.
Ernst Niekisch, Gedanken über deutsche Politik, 1929, S.165
Unterdessen hat in Deutschland die Gesellschaft die Herrschaft über den Staat gewonnen. Die Herrschaft über die Gesellschaft aber übt in vielen Bereichen das Finanzkapital aus. So kann man etwas überspitzt und stark vereinfachend formulieren.
Gesellschaftliche Kräfte wie die Gewerkschaften oder die Daimler-Belegschaft werden ihres Sieges über den Staat nicht froh. Wo sie einen Staat gut brauchen könnten, um ihre Interessen dem der globalen Konzerne entgegenzusetzen, erwächst ihnen keine Hilfe mehr. Auf dem Staatsbaum wuchsen viele Äste. Die gesellschaftlichen Kräfte haben auf ihnen gesessen und den Stamm ganz unten abgesägt. Da liegen sie nun verstreut herum und werden zur beliebigen Beute globaler Mächte, die ihren eigenen Vermögensstamm gut hüten.
Niekisch hatte 1929 vorgeschlagen, den Werkseigentümern „von Staats wegen so starke Bindungen“ aufzuzwingen, „daß sie dem Umfang ihrer Verfügungsgewalt und ihres bestimmenden Einflusses nach auf gleichem Fuß mit der Arbeiterschaft festgehalten werden.“[2] Einen das internationale Finanzkapital bindenden Staat haben wir aber nicht. Die reine Lehre des Liberalismus verbietet ihn. Für das einheimische Unternehmertum benötigen wir solche staatlichen Regulierungen auch eher nicht. Wir müssen uns aber gemeinsam dagegen wehren können, wenn uns internationales Finanzkapital ein deutsches Werk einfach wegkauft und schließt, um Konkurrenz auszuschalten.
Der liberale Extremismus der vergangenen Jahrzehnte fiel von einer Liberalisierung und Privatisierung in die andere. Die Bastionen des Gemeinwohls wurden geschleift und verhöhnt, zum Beispiel durch Heinrich Bölls Satz, er sehe nur noch Reste verfaulender Macht, die mit rattenhafter Wut verteidigt werden. Dafür hat man den Mann gefeiert und ihm Orden angeheftet.
Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien
sang man 1948 im Karneval in Köln das Lied von Karl Berbuer. Mit uns kann man es ja machen.
Vom deutschen Staat ist nicht mehr übrig geblieben als von einer im Stall festgezurrten Kuh, von deren Milch sich jeder bedienen darf. Um aber unsere deutschen Vorstellungen von gutem Zusammenleben zu schützen und zur Geltung zu bringen, benötigen wir neben einer freien Gesellschaft auch einen Staat. Er muß die Machtbalance gewährleisten, die zwischen Gemeinnutz und Eigennutz jederzeit gehalten werden muß.
Der Allgemeinheit wie auch der Daimler-Belegschaft würde es nützen, gäbe es einen Schutz vor einem Finanzkapitalismus, der uns nach Gutsherrenart behandelt: wie Eingeborene einer Bananenrepublik. Nach Lage der Dinge gehören die Entscheidungsträger der Daimler AG bereits zu den Gutsherren oder vollziehen jedenfalls deren Willen. Am 15. Mai 1919 schrieb der sozialdemokratische „Vorwärts“:
„Wir sind Eingeborene einer Kolonie. Das ist die ganze grausame und unerbittliche Wahrheit, über die man im Reinen sein muß, ehe man weiter denkt.“
Vorwärts, 15.5.1919
Mitspracherechte über unser Schicksal können wir uns erst dann wieder erkämpfen, wenn wir uns zu einer Staatlichkeit aufraffen, die dazu fähig ist.
[1] Anna-Lena Schüchtle, „Fassungslose“ Daimler-Mitarbeiter: Für mehr Profit baut Konzern neuen Motor in China, 26.12.2020.
[2] Niekisch, Gedanken über deutsche Politik, 1929, S.212.
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