Schließen Sie ihre Augen, und lauschen Sie: Es lebte einst eine alte Großmutter. Manchmal kam ihre kleine Enkelin zu Besuch. Sie war der einzige, kleine Sonnenstrahl im Leben der alten Dame. Die aber sorgte sich um das Kind. Im Leben des Kindsvaters spielten nämlich Einflüsse mit, denen die Kleine nicht zum Opfer fallen sollte. Verzweifelt rief sie sogar das Familiengericht an und wollte sie zu sich nehmen. Aber das Schicksal riß die beiden für immer auseinander.

Können Sie sich die Oma gut vorstellen? Haben Sie sie bereits lieb gewonnen? Machen Sie sich ein Bild von ihr?

Dann stellen Sie sich danach bitte eine Frau vor, die wegen vierfachen Mordes verurteilt worden ist. Alle Opfer waren vermögende alte Männer. Mengen Sie nun in ihrer Vorstellung Schlafmittel in Erbsensuppe, und weben sie die Suppe in diese Geschichte ein, in der auch ein Gehilfe eine Rolle spielt, der sich mit dem Erwürgen und Verbrennen bestens auskennt.

Sehen Sie jetzt auch diese Frau klar vor Ihrem inneren Auge? Machen Sie sich ein Bild von ihr?

Sie dürfen die Augen nun wieder öffnen. Ihre beiden Vorstellungen sind wahr. Aber die Frauen sind in Wirklichkeit ein und dieselbe. Nur hatte ich Ihnen erst einen und dann einen anderen Aspekt der Geschichte vorenthalten. Wenn man sich völlig unterschiedliche Vorstellungen von etwas macht, gelangt man zwangsläufig zu völlig verschiedenen Bildern. Bei einem körperlichen Gegenstand, den man sieht, kann das nicht passieren.

Stellen wir uns aber keinen Körper vor, sondern soziale Beziehungen zwischen Personen, wird die unterschiedlich mögliche Wahrnehmung politisch hoch brisant.

Wenn man ganz unterschiedliche Fakten zugrundelegt, kommen verschiedenartige Bewertungen heraus: eine liebenswerte Oma oder eine Mörderin. Soziale Gebilde aber wie die Familie Krupp, der Verein Bayern München oder der Staat DDR bestehen aus mehr einzelnen Fakten, als ein Mensch gleichzeitig kennen und berücksichtigen kann. Wenn sie vergangen sind, gibt es sie nur noch in unserer Vorstellung. Wir müssen uns die Fakten wie zu einem Bild zusammensetzen, also im Kopf eine Idee davon bilden, was für uns ihr Prägendes ist.

Natürlich reden wir hier über Deutschland, das haben Sie schon gemerkt. Friedrich Schiller sagte über Wallenstein: „Von der Parteien Haß und Gunst verzerrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte.“ Genau um solche schwankenden Bilder geht es. Welches Bild wir uns von Deutschland machen, hängt von den Fakten ab, die wir in dieses Bild einfließen lassen. Darum stellen sich verschiedene Menschen völlig Verschiedenes unter „Deutschland“ vor. Je nach dem hassen sie es, lieben sie es oder bleiben gleichgültig. Zwischen „Blühe, deutsches Vaterland!“ und „Nie wieder Deutschland!“ klafft eine tiefe Kluft. Die ihr Vaterland lieben und die es hassen machen sich nämlich so unterschiedliche Vorstellungen von Deutschland wie von einer liebevollen Oma oder einer Mörderin.

Deutschlandhasser am Werk

Es gab und gibt keine präzise, einheitliche Idee „Deutschland“. Jeder hat seine eigene Idee von Deutschland im Herzen – genauer gesagt: im Kopf. Sie ist historisch eine junge Idee. Zwar schließt sie mehr als tausend Jahre unserer Geschichte ein. Wer in historischem Zusammenhang von Deutschland spricht, beginnt spätestens im 9. Jahrhundert bei Ludwig dem Deutschen. Im Mittelalter selbst stellte man sich aber kein Land Deutschland vor. Man lebte staatlich im Heiligen Römischen Reich, und dessen Reichsvolk waren auch mehrheitlich Deutsche. Sie hatten aber noch nicht die Idee eines abgrenzbaren Landes namens Deutschland. 

Platon hatte Ideen für real gehalten. Sie seien die Urformen des Seins, und in der körperlichen Welt sähen wir nur ihre schattenhaften Abbilder. Nehmen wir eine Kugel. Unter einer idealen Kugel werden alle Menschen sich dasselbe vorstellen. Ein Land ist aber keine Kugel. Es weist nicht für alle Leute dieselben Merkmale auf. Wir können uns sogar Länder und Orte vorstellen, die es gar nicht gibt, zum Beispiel das sagenhafte Avalon oder Tolkiens Auenland. Jeder kann sich die Idee eines solchen Ortes ein wenig unterschiedlich denken.

Als die Franzosen 1681 Straßburg besetzten, um zu bleiben, hatten die Kölner keine Idee von „Deutschland“. Ihnen ging das Gefühl ab, man hätte ihnen etwas weggenommen. 1794 hißten die Franzosen dann in Köln die Trikolore. Sie behaupteten: zu ihrer „Nation“ könne jeder gehören, der sich zu ihr bekenne. Nachdem sie auf dem Neumarkt einen Freiheitsbaum errichtet hatten, nahmen sie sich die Freiheit, die Kunstschätze Kölns zu plündern. Die Roten Funken erhielten französische Uniformen und durften 1812 zum Ruhme Frankreichs nach Rußland mitmarschieren.

Der Sachse Johann Gottlieb Fichte entwickelte dagegen kreative Ideen und propagierte diese ab 1807 in seinen „Reden an die deutsche Nation“. Seine Idee von Deutschland setzte sich schnell durch. Ernst Moritz Arndt kleidete sie in die Worte: „Soweit die deutsche Zunge klingt und Gott im Himmel Lieder singt.“ Ungeachtet der Staatsgrenzen sah er das deutsche Vaterland überall da, wo Deutsche wohnen. Die zukunftsweisende Idee wehrte die französische Rechtfertigung dafür ab, wo immer möglich Teile Deutschlands zu annektieren und die Bewohner flugs zu Franzosen zu erklären. Nicht durch einen Willensakt, durch keine Beitrittserklärung sollte man aus seinem Vaterland aus- und in ein anderes eintreten können. Deutscher zu sein galt jetzt als Frage der objektiven Identität. Das Vaterland sollte seine Kinder nicht einfach loslassen können und diese ihm nicht entrissen werden dürfen.

Die im 18. Jahrhundert erst schüchtern knospende Vaterlandsliebe blühte im 19. voll auf. Im selben Lied forderte Ernst Moritz Arndt: „Das ganze Deutschland soll es sein! O Gott im Himmel, sieh darein und gib uns rechten deutschen Mut, daß wir es lieben treu und gut!„. Die Liebe zu Deutschland drückt bis heute auch das Lied der Deutschen aus und gehört traditionell zum positiven Verständnis der Idee „Deutschland“. Wer sie teilt, denkt an Deutschland als Land unseres deutschen Volkes in Jahrhunderte zurückreichender Tradition: an die deutschen Kaiser des Mittelalters, die romanischen und gotischen Kathedralen, an ein leidgeprüftes Volk, das sich aus Kriegen wie dem 30jährigen immer wieder kraftvoll erhoben und unsterbliche Werke der Kunst, der Philosophie und der Wissenschaften geschaffen hat.

Und dann gibt es noch das böse Deutschlandbild, die Idee einer angeblichen direkten Traditionslinie von Friedrich den Großen (böse) über Bismarck (böse) zu Hitler (böse). Es ist die Idee eines Deutschlands, das eigentlich an allem schuld ist, und wo nicht, werden wir das auch noch bald herausfinden. Diese Vorstellung vom bösen „Deutschland“ gründet auf der Wahrnehmung ganz anderer Fakten als die vom guten „Deutschland“.

Vor allem aber gründet sie zentral auf derjenigen normativen Vorstellung von „Deutschland“, die damals die Nationalsozialisten hatten. Ohne deren Idee von „Deutschland“ wäre die heutige Idee vom „bösen Deutschland“, das man nicht lieben kann und das man schnellstens abschaffen muß, gar nicht vorstellbar. Beide Ideen sind nämlich miteinander verbunden.

Die Idee vom bösen Deutschland gründet zwar auch, aber nicht hauptsächlich auf anderen Fakten als die Idee vom guten Deutschland. Sie gründet sich darauf, was man sich heute von der bösen Idee der Nationalsozialisten von Deutschland für Vorstellungen macht. Immerhin hatte sich Hitler immer auf Deutschland bezogen. Wenn Deutschlandhasser heute Deutschland hassen, hassen sie das, was sie sich unter der Idee der Nationalsozialisten von Deutschland vorstellen. Sie nehmen Hitlers Deutschlandbild für bare Münze und zum Maßstab der Idee „Deutschland“. Sie meinen, damit die einzig gültige Vorstellung von Deutschland zu haben. Sie haben dabei die Idee eines „Deutschland“ , ständig beschäftigt, Minderheiten zu hassen, Juden auszurotten und fremde Länder zu erobern.

So hegen Deutschlandhasser eine antifaschistische Idee davon, welche nationale Idee zwangsläufig hinter dem Wort „Deutschland“ stecken müsse. Deutschlandhaß setzt heute ein bestimmte Vorstellung davon voraus, was frühere Menschen sich einst vorgestellt hatten. Er beruht auf der Idee von einer Idee. Die Deutschlandhasser von heute stellen sich im Grunde dasselbe Bild von Deutschland vor wie jener – Wie hieß er doch gleich? Sie bewerten es nur mit umgekehrtem Vorzeichen.

Jener hatte seine Absicht, „das Ende des Judentums in Europa“ herbeizuführen, vorher öffentlich verkündet. Das prägt mein Bild seines Nationalsozialismus. Muß es zwangsläufig mein Bild von Deutschland prägen? Er behauptete sinngemäß, die Verkörperung Deutschlands zu sein. Muß ich ihm das abnehmen?

Wenn Merkel heute sagte, Auschwitz sei Teil ihrer nationalen Identität, hätte jener – Sie wissen schon, wen ich meine – ihr nicht widersprochen. Seine Obsession zielte darauf ab, was in jenem Ort geschah. Die Idee eines von Juden „gereinigten“ Deutschlands, verbunden mit Orten wie Auschwitz, war Teil seiner nationalen Identität. So bildet der Ort für beide Kanzler einen festen Bestandteil der Identität – für den einen vielleicht triumphierend, für die andere eher verschämt.

In gewisser Weise hält das Denken jenes von damals jene von heute fest im Griff. Deutschlandhasser haben eine fremdbestimmte Idee von „Deutschland“. Der große Bestimmer von einstmals beherrscht heute noch ihr Denken. Seine Vorstellung seines Deutschlands ist zu ihrer geworden, und in Abscheu und Selbsthaß möchten sie Deutschland und mit ihm die Vorstellung zerstören, die sie so quält.

Fakten spielen nur im Hintergrund eine Rolle, wenn jemand sich eine Idee seines persönlichen Deutschlands bildet. Nach der Gauland’schen Vogelschißtheorie machen zwölf böse Jahre gegenüber 1200 anderen Jahren nicht das Deutschland Prägende aus. Es kann sich jeder selbst aussuchen, welche Ereignisse aus 1200 Jahren er für sein Bild von Deutschland verinnerlicht. Wirklich jeder? Kann wirklich aus 1200 Jahren auswählen, wer in der Schule nur von zwölf gehört hat? Vielleicht waren es auch dreißig, wenn Lehrer zu den gewissen zwölf Jahren noch die Jahre davor genommen hatten, um den historischen Ursprung des Bösen zu verdeutlichen.

Lieben Sie mal ein „Land der Täter“, wie man Deutschland jahrzehntelang genannt hat und heute noch im Staatsfernsehen nennt. Lieben Sie es mal, wenn Ihre Klassenfahrten Sie vorzugsweise zu Konzentrationslagern geführt hatten. Lieben Sie es ruhig, wenn Sie es schaffen, nachdem Zeit Ihres kurzen Lebens Deutschland vor allem im selben Atemzug mit den Worten Nazis und Auschwitz gefallen ist und dieser Kerl – wie hieß er doch noch? – jeden Tag auf irgendwelchen mindestens drei Fernsehsendern seinen Krieg „im Namen Deutschlands“ verliert!

Land der Täter – das Deutschlandbild der ARD.

Es tröstet, daß ich hier stark vereinfache und zuspitze. Man kann dem volkspädagogischen Druck auch entrinnen. Die Gedanken sind frei. Aber nicht jeder vermag der täglichen Berieselung zu entgehen. Nicht jeder bildet sich selbst historisch fort. Die suggestive Kraft der Selbsthaßpropaganda ist so stark, daß selbst schlichte Gemüter ihr erliegen, die ihr zum Trotz ihr Gegenteil wollen. Wer in vermeintlicher Liebe zu Deutschland die vom Deutschlandhaß vermittelten Vorstellungen verinnerlicht, hält dann womöglich in seinem Wahn für einen Beweis von Vaterlandsliebe, wenn er bewaffnet vor einer Synagoge aufkreuzt und wild um sich ballert. Er macht sich damit selbst zum Abziehbild des linken Zerrbildes von einem sein Vaterland liebenden Menschen.

Liebe vermag die Welt manchmal so zu sehen, wie sie nicht ist. Wenn wir uns entscheiden, zu unserem Land zu stehen, kann unsere Idee von Deutschland nur die eines liebenswerten Vaterlandes sein. Jenseits des verminten Geländes rein deskripitiver Geschichtsschreibung, außerhalb der Zäune und Wachtürme moralisierender Geschichtsdeutung, da sind wir frei. Hier können wir uns entscheiden, welche Merkmale unsere Idee von Deutschland aufweisen soll. Auch normative Komponenten dürfen zu dem ideellen Bild gehören. Wie soll unser Land aussehen?

Die Germania in meinem Kopf ist keine Mörderin, sondern eine liebenswerte Großmutter, zu deren Füßen eine fröhliche Schar kleiner Enkelkinder spielt.

Ludwig Fahrenkrog, Der Väter Land