Leben und sterben für die Identität

Wenn ein Baum gefallen ist, geht es dem Laub schlecht. Eine Eiche, heißt es, wächst 500 Jahre, gedeiht dann 500 Jahre und braucht auch 500 Jahre, bis alles an ihr unwiderruflich tot ist.

Sägt der Mensch sie ab, geht es natürlich schneller. So fiel in Deutschland so manche Eiche. Die berühmteste war jener den Germanen heilige Baum, den der Missionar Bonifatius fällte.

Es dauerte Generationen, bis die letzten Germanen ihren alten Götterglauben ablegten. Vergessen haben sie ihre Götter nie völlig. Als Windgeist, als „der Wode“ spukte Wodan noch Jahrhunderte in den Köpfen.

Der lebende Baum gibt seinen Blättern Halt und närt sich. Sie fangen Sonnenlicht auf und geben ihm zurück, was er braucht. Ohne den Halt ihres Baumes verwehen die einzelnen Blätter zusammenhanglos im Wind. Der lebendige Germanenglaube war wie ein solcher fester Halt. Als er gefallen war, lebten noch einzelne Menschen, die seinen Elementen anhingen. Erinnerungsfetzen und ehrfürchtiges Schaudern unter Eichen blieben. Aber der Zusammenhang ging verloren.

Und wir Letzten treiben heimatlos
Tang nach dem Sturm,
Herbstlaub im Wind,
Vater: Du weißt, wie einsam wir sind!

Agnes Miegel (1879-1964)

Es verloren sich mit der Zeit die Priester, Druiden oder Heiligen des alten Glaubens, wie auch immer sie sich nannten. Traurige Gefühle mögen sie bewegt haben:

Wodan zu opfern, nachdem die Christen im Lande herrschten, verhieß keine glückliche Zukunft und keinen gesellschaftlichen Aufstieg. Eine zeitlos gültige Regel besagt, man solle sein Fähnlein rechtzeitig nach dem neuen Wind drehen, weil

„die Menschen bei allem, was sie tun, besonders aber, wenn sie Großes vorhaben, die Zeitverhältnisse in Betracht ziehen und sich danach richten müssen. Wer sich durch schlechte Wahl seiner Mittel oder durch Naturanlage in Gegensatz zu seiner Zeit stellt, wird meistens unglücklich, und seine Handlungen nehmen ein schlechtes Ende.“

Niccolo Machiavelli (1468-1527), Discorsi, Ausgabe von Kröner, 1977, S.312, Buch III Kap.9.

Die ostpreußische Dichterin Agnes Miegel starb 1964 fern ihrer Heimat Königsberg, entwurzelt und einsam. Sie blieb ihrer verlorenen Heimat treu. Ist es eine besondere Herzenstiefe der Deutschen, daß sie wie abgerissene Blätter ihrem Baume treu bleiben, auch wenn dieser längst gefällt am Boden liegt? Oder ist es eine spezielle Dummheit, die uns geistig ein wenig schwerfällige Nordländer heimsucht, während der schnelle Verstand des Italieners Machiavelli uns nahelegt, rechtzeitig von der Fahne zu gehen?

Ohne ihren Stamm werden die Blätter zum Spielball des Windes.

Tatsächlich hat es in Deutschland immer Wetterwendige und Bodenständige gegeben. Es gab Familien wie die Weizsäckers, die es fertigbrachten, im 20. Jahrhunderten vier verschiedenen Regierungssystemen treu zu dienen und in jedem in höchste Staatsämter aufzusteigen.

„Wer Bildung und Moral besitzt,
der wird bemerken, daß anitzt
Fast nirgend mehr zu finden sei
Die sogenannte Lieb und Treu.

Wilhelm Busch (1832-1908), Die Partikularisten

Einen besonderen Bonus an Glaubwürdigkeit gibt es für Wendehälse freilich hierzulande nicht. Das Empfinden unseres Volkes verlangt nach Treue als einem emotionalen Höchstwert. 1866 hatte sich das Königreich Hannover unklugerweise mit Preußen angelegt, bei Langensalza aber die Waffen gestreckt. Es wurde annektiert. Wilhelm Busch spottete darauf über die ihrem König noch treuen alten Hannoveraner. Sie waren noch treu, obwohl sie gar keinen König mehr hatten:

Sie stecken „bei Mutter Köhm“ über einem Klaren die Köpfe zusammen:

„Dagegen ruft der lange Korte
Mit Zorneseifer diese Worte:
Kreuzhimmeltausenddonnerwär,
Uns‘ olle König mot weer her!“

Wilhelm Busch

Er kam allerdings nicht wieder. Nie wieder. Auf seinem Thron saß jetzt – gewissermaßen – der Preußenkönig. Auch ihm waren viele Menschen treu. Auch ihre Liebe und Treue wurde ein Opfer der Zeit. Preußen löste sich in Deutschland auf wie eine Brausetablette in Wasser: Sie verlieh dem Wasser ihren Geschmack und vernichtete sich damit selbst. Zurück ließ Preußen eine Staatsidee. Ihre letzten Anhänger sind es heute, die wie Laub vom Wind der alles in sich hineinschlingenden Gesellschaft weggepustet werden – treu einer Idee, die nur noch in ihren eigenen Köpfen lebt.

Ethische Fundamentalnorm

Viele Deutsche sind Meister darin, für eine verlorene Sache zu leben und zu sterben. „Deutsch sein, heißt, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun.“ Liebe und Treue sind für viele von uns elementare Gefühle. Sie verbinden sich mit der eigenen Persönlichkeit, verschmelzen mit dem Selbstbild eines Menschen. So können sie locker überstehen, wenn das Objekt ihrer Liebe und ihrer Treue gar nicht mehr existiert.

Die Treue galt im 19. Jahrhundert als ethische Fundamentalnorm.

Bismarck sagte einmal, die königtreuen Menschen würden in Deutschland niemals aussterben. Wohl könne es aber sein, daß es einst keine Könige mehr geben werde.

Viele Deutsche haben in allen Zeiten für verlorene Sachen gekämpft. Wenn jemand seine persönliche Identität mit einer „Sache“ so verknüpft und seine Herzenssache zu einem Teil seiner selbst gemacht hat, kann sie ihm wichtiger sein als seine Interessen, vielleicht sogar dem Interesse am eigenen Leben.

In diesem Fall verbindet die Identität ihre Selbstbstätigung geradezu mit dem Verzicht auf die Verfolgung eigener Interessen, und sie würde jeden Respekt vor sich selbst verlieren, wenn sie anders handelte.
Hierher gehört eine breite Palette von Einstellungen und Handlungsweisen, die von Selbstmord aus Scham bis zum Heldentod auf dem Schlachtfeld oder einem entbehrungsreichen Leben im Dienste der Armen reicht.

Panajotis Kondylis, Das Politische und der Mensch, 1999, S.588.

So kann man sein Leben dem Vaterland weihen, aber auch der Natur – oder was man dafür hält -, den Unterprivilegierten, der Demokratie, der Vergangenheitsbewältigung – oder seiner Frau. Gustav Heinemann, offenbar ein brillanter Kopf und von Beruf Bundespräsident, hatte dies einmal zur Antwort gegeben, als man ihn nach seiner Vaterlandsliebe fragte. Jedem das Seine!

Das politische Verständnis

Klug beraten ist, wer die Verschmelzung der Prsönlichkeit vieler Menschen mit einer Idee berücksichtigt. Er mag sich selbst fragen, ob die Gegenstände seiner eignen Liebe und Zuwendung in der Lebenswirklichkeit (noch) existieren, und falls nicht, welche Konsequenzen das für ihn haben sollte.

Noch wichtiger ist aber das Verständnis des politischen Gegners. Wie zwei Feldherren auf dem Schlachtfeld müssen sich Gegner intensiv in den anderen hineindenken, um ihn zu verstehen (Kondylis a.a.O., S.620). Man muß verstehen, wer der andere im tiefsten Innern ist, worum es ihm eigentlich geht. Das ist die Stunde der Bewährung für politisches Denken und Handeln.

Dieses Verständnis kann manchmal besagen, daß der Gegner selbst dann bis zum Letzten weiterstreiten wird, wenn die Gedankenkonstrukte, an die er glaubt, längst widerlegt und zerfleddert am Wegrand der Geschichte verrotten. Es kann aber auch als Baustein für eine Brücke des Verständnisses dienen, wenn sich der Innerste Kern gegnerischer Liebe und Treue – überraschenderweise – als dem eigenen ziemlich ähnlich erweist.

So etwas übersieht man leicht, wenn man nur die gegnerischen Fahnen und Transparente liest und dem Gegner nicht bis ins Herz blickt.