Wie sich die linke “Jungle World” im Dschungel verirrt
Wer seine politische Lageanalyse auf breiter Basis durchsetzt, schafft die Voraussetzungen seiner Machtübernahme. Geistige Führung sucht immer die ärgste Konkurrenz auszuschalten und gibt die Losung aus: “Da steht der Feind!”
Aus Sicht echter Linker ist das allemal der Kapitalismus, das wissen sie von Marx und Engels. Dieser sei, glaubte man im 19. Jahrhundert, die ökonomische Seite der bürgerlichen Gesellschaft. Um ihr Eigentum an den Produktionsmittel zu schützen, nutzten die Bürger den Staat und trieben ihn notfalls bis in den Faschismus. Glückliche Marxisten, deren Dogmen Jahrhunderte gesellschaftlicher und ökonomischer Entwicklung überdauern!
In einem Lehrstück ihrer verkürzten Weltsicht haben Johannes Hauer und Marco Hamann in der “Jungle World” vom 7.1.2021 viel Richtiges, aber noch mehr geistig Rückständiges von sich gegeben.
Sie halten Markus Söder, einen führenden Exponenten des Parteienstaates, allen Ernstes für einen Etatisten:
Die Beurteilungen des Staats gehen dieser Tage extrem auseinander, zugleich lassen sie jedoch ungewohnte Übereinstimmungen hervortreten. So zählen zu den Anhängern des starken Staats nicht nur Staatssozialisten, sondern auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU). Dieses Lager der Etatisten schreibt dem Staat die Aufgabe zu, eine höhere Vernunft zu verkörpern. Der Staat legt demnach einer von auseinanderstrebenden Partikularinteressen geprägten Gesellschaft die Zügel an und sichert so den Fortbestand des Gemeinwesens. Da die Individuen ihrem Egoismus nachgehen, soll der Staat die Zerrissenheit der bürgerlichen Gesellschaft überwinden und das nationale »Gemeinwohl« verwirklichen.
Johannes Hauer und Marco Hamann, Der Staat des Kapitals in der Coronakrise, Jungle World 7.1.2021.
Die Autoren benötigen die schwache Erinnerung an einen über Partikularinteressen stehenden Staat argumentativ, um ihn in Gegensatz zu den Libertären zu setzen, dem
passenden Gegenstück zum etatistischen Denken. Sie sehen im Staat vor allem die äußere Grenze ihrer individuellen Freiheiten. Allgemeine Regeln lehnen sie unabhängig von deren spezifischem Inhalt ab.
Johannes Hauer und Marco Hamann
Beide säßen freilich “denselben Illusionen über den bürgerlichen Staat auf”:
Im Kern ist der bürgerliche Staat weder eine bloße Repressionsmaschine noch ein Wohltätigkeitsverein. Der moderne Staat ist zuallererst ideeller Gesamtkapitalist, das heißt er ist »nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten« (Friedrich Engels).
Johannes Hauer und Marco Hamann
Sozialagentur statt Staat
Tatsächlich hat sich der moderne Staat aber gerade im Gegensatz zur bürgerlichen Gesellschaft und ihren auch finanziellen Interessen herausgebildet. Er ist weder ihr Exponent, noch diente er ursprünglich allein ihrem Schutz. Vielmehr verstanden die Staatstheoretiker der frühen Neuzeit, an ihrer Spitze Jean Bodin, den Staat als etwas der Gesellschaft geradezu Entgegengesetztes.
Zur Gesellschaft gehört nämlich nicht nur das Bürgertum, sondern gehörten auch der Adel, die Bauern und mehrheitlich arme und wenig besitzende Leute. Der absolutistische Staat sollte aus allen diesen Teilen ein Ganzes formen, ohne an Einzelinteressen gebunden zu sein. Das schwebte bis ins 20. Jahrhundert “Etatisten” vor: ein machtvoller Staat, unabhängig von Einzelinteressen. Das Bürgertum als gesellschaftliche Kraft war immer erbitterter Feind des Etatismus, weil dieser seine politischen Freiheiten und die Freiheit zum Geldverdienen beschneiden konnte.
Im preußischen Verfassungskonflikt setzte sich der Staat 1862 ein letztes Mal gegen die Gesellschaft durch, dann war es aus mit ihm. Seitdem hat die Gesellschaft ihn sich schrittweise unterworfen. Ihre jeweilige Majorität räkelt sich seitdem periodisch auf dem Thron der früheren Majestät, dem alten Symbol des staatlichen Ganzen. Deren verfassungsrechtlicher Nachfolger, der Bundespräsident, darf noch die moralische Quintessenz des parteipolitischen Establishments verlautbaren. Darum ist auch ein Markus Söder als Exponent des bürgerlichen Teils der Gesellschaft und eines gewissen sozialen Verständnisses das Gegenteil eines Etatisten.
Der Staat als überparteilicher Akteur wurde von seinem alten Gegenspieler, der Gesellschaft, vollständig absorbiert und zur Sozialagentur umgewandelt. Die Gesellschaft ihrerseits kann sich ihrer Freiheit und Selbständigkeit nur in dem Maße erfreuen, als ein mittlerweile global agierendes Finanzkapital es ihr noch ermöglicht. Hauer und Hamann weisen zu Recht darauf hin:
Die Regierungen und Staatsapparate handeln in relativer Autonomie innerhalb der ihnen durch die kapitalistische Produktionsweise auferlegten Bedingungen und Zwänge, die ihnen weder vollständig einsichtig sind noch ihr Handeln mechanisch vorherbestimmen. Vielmehr sind sie zu experimentellen Eingriffen in die Produktions- und Lebensverhältnisse genötigt, wobei die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten ihre Handlungsspielräume begrenzen.
Johannes Hauer und Marco Hamann
Die großen Momente der Politik
Zu unseren innergesellschaftlichen Akteuren gehören die gobalen Finanzriesen wie Facebook, Google, Amazon und vielen anderen schon lange nicht mehr. Sie gaben seit Jahren mehr oder weniger versteckt den Takt an, zu dem die innerstaatliche Musik zu spielen hat. Wer den Zusammenhang zwischen unserer vergreisenden Bevölkerung, dem Mangel an Arbeitskräften und irgendwann an Nachfrage und dem millionenfachen Einschleusen von Menschenmassen nach Deutschland nicht erkennt, lebt in einer moralisierenden Traumwelt.
Es sind immer wieder dieselben Namen internationaler Finanzgrößen, denen wir auch an vorderster ideologischer Front wiederbegegnen: Sie siedeln sich auch in Deutschland an, gründen “gemeinnützige” Stiftungen oder sorgen auch auf sozialen Plattformen für die globale Verbreitung einer Weltanschauung, jetzt auch mit offener Zensur. Diese begründet, flankiert und sichert die Voraussetzungen ihrer grenzüberschreitenden ökonomischen Macht.
Es sind seltene, große Momente des Politischen, in denen der moralische Vorhang kurz aufreißt und der politische Feind in aller Deutlichkeit sichtbar wird. Gewöhnlich maskiert er sich durch moralische Nebelschwaden. Zu diesen großen Momenten zählte der Tag, an denen die amerikanischen Internetgiganten den scheidenden Präsidenten Trump von ihren Plattformen sperrten.
Dieser hatte ihnen schon lange die Flügel stutzen wollen. Solange Trump Präsident ist, ist er zwar auch persönlich Teil des gesellschaftlichen Geschehens und Teilhaber des kapitalistischen Monopolys. Zugleich verband sich mit seinem persönlichen Machtinteresse aber die Macht seines Staates als Gegenspieler gesellschaftlicher Interessen. Seine Sperrung ist die Rache solcher Interessenten an einem Präsidenten, der versucht hat, der Meinungsfreiheit für jedermann gegen die moralisierenden Beschränkungen des Silicon Valley durchzusetzen.
Mit diesem Versuch ist Trump gescheitert. Die Frage: “Wer herrscht im Lande?” ist sinnlos ohne die Frage: “Wer beherrscht den, der im Lande herrscht?” Wer herrscht über die Köpfe und Meinungen der Menschen? In wessen Interesse werden wir dazu gebracht, was wir zu glauben haben, wen wir lieben müssen und was wir nicht hassen dürfen?
In Deutschland hat die Gesellschaft den Staat gefressen, verdaut und wieder ausgeschieden. Zugleich nährt sich und zehrt der internationale Finanzkapitalismus von der Gesellschaft. Er weiß seine Schafe zu scheren, ohne sie zu schlachten, und ihnen zugleich den Stolz zu vermitteln, nützliche und zugleich moralische Schafe zu sein.
Uwe Lay
Zum “starken Staat”
Linke Kapitalismuskritiker und die “Zeugen Jehovas” haben eines gemeinsam:
Ununterbrochen, fast 150 Jahre lang verkündigen sie, daß es 5 vor 12 sei und
der Welt- oder Kapitalismusuntergang kurz bevorstünde. Erfolglos! Warum
lebt der so lang nun schon totgesagte Kapitalismus immer noch? Der Begriff
des “starken Staates”, des “ideelen Gesamtkapitalisten” könnte das verstehen
helfen. Die Zeit des Nachtwächterstaates ist vorbei, daß die Wirtschaft autonom
lebte und der Staat nur ab und zu intervenierte. Grobschlächtig formuliert:
Der heutige Kapitaismus gleicht einem Lungenkranken, dem sein Absterben
schon längst prognostiziert wurde, der nun aber an ein künstliches Atmungs-
gerät (den starken Staat) angesschlossen die Gesundheitskrise überlebt und
nun vitaler ist als je vordem. Nur durch einen permanent agierenden Staat,
nicht mehr nur intervenierenden, kann der Kapitalismus jetzt so agil sein.
Er überlebt sich so künstlich durch den Staat als “ideelen Gesamtkapitalisten”.
Nur wer dessen Stärke übersieht, sieht überall Weltuntergänge.