Schäubles Geschichtsmetaphysik

Unser Staat wurde am 18. Januar 150 Jahre alt: Seit Wilhelms Kaiserkrönung 1871 leben wir in ungebrochener staatsrechtlicher Kontinuität. Am 21.3.1871 trat der erste Reichstag zusammen. Der derzeitige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble blickt zurück. Er schreibt,

daß die nationalsozialistische Diktatur Dreh- und Angelpunkt unseres nationalen Selbstverständnisses bleibt.

Wolfgang Schäuble, Wir haben die Freiheit, DIE ZEIT 18.3.2021.[1]

Worum sich in Wolfgang Schäubles Kopf alles dreht, besagt alles über seine Perspektive, aber nichts über tatsächliche Kausalitäten. Bestimmte die Reichsgründung 1871 das 1933 voraus? Die Drehpunktmetapher legt das nahe. Sie läßt auch daran denken, die Politik von 2021 als kausal determiniert zu betrachten: Was immer Politiker wie Schäuble denken und tun, sie handeln in Hinblick auf das Jahr 1933. Dieses und 1945 bilden den Nukleus ihres politischen Machtanspruches.

Dieser besagt, die Zukunft sei zwar offen, aber wegen 1933 müsse sie so gestaltet werden, wie Politiker wie Schäuble sich das so vorstellen. Wozu ihre Vorstellungen führen, sehen wir bei einem Blick aus dem Fenster. Er aber sieht die Gegenwart wie durch ein Periskop, dessen Linse uns immer erst 1933 zeigt und erst weit hinten unsere Gegenwart. Schäuble zufolge dürfen wir uns

nicht der erkenntnisleitenden Frage nach Kausalitäten entziehen, also danach, was aus der offenen Zukunft wurde. Denn wo in Deutungen der Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung aufgekündigt ist, gibt es keine Verantwortlichkeit mehr.

Wolfgang Schäuble, Wir haben die Freiheit, DIE ZEIT 18.3.2021.[2]

Geschichtswissenschaft endet, wo der Geschichte verborgene Wirkkräfte transzendenter Art zugeschrieben werden. Hier geginnt das Reich des Glaubens. In den Sphären der Geschichtsmetaphysik herrscht nicht die banale Multikausalität vieler ineinander verschlungener Ursachen und Wirkungen.

Im Lichte der Metaphysik durchwebt ein geheimnisvolles Wirken die Geschichte und stellt sie dem Betrachter als zielgerichtete Entwicklung dar: Vom Goldenen Zeitalter über das Silberne zum Eisernen, vom Paradies über den Sündenfall zum Jüngsten Gericht, von der glücklichen kommunistischen Urgesellschaft über den Sündenfall des Privateigentums an Produktionsmitteln gesetzmäßig zur Verarmung der Massen, ihrer Revolution und dem Weg über den Sozialismus in einen glücklichen Endzeitkommunismus.

Der deutschen Geschichte einen Dreh- und Angelpunkt anzudichten, in dessen Lichte erst die Vergangenheit verstanden werden könne und in Bezug auf den die Zukunft auszurichten sei, ist ein klassischer Anwendungsfall solcher Geschichtsmetaphysik. Sie liegt einer konkreten Herrschaftsideologie zugrunde und unterfüttert diese mit dem Nimbus einer irdischen Eschatologie, einer Geschichte des Heiligen und des Unheiligen. Leute wie Schäuble schwimmen auf ihren Wellen oben und predigen uns, wie das Gute wie das Böse in der Geschichte in Erscheinung getreten sind und daß nur bei ihnen selbst unsere Rettung winkt.

Alle Herrscher bedienten sich einer Herrschaftsideologie. Auch die Schäubles unserer Zeit benötigen ihre Gedenktage: Am 6. Januar feierten Oberhirten der christlichen Herden den Dreikönigstag, am, 18. Januar war Kaisers Geburtstag. Solche Tage bilden im Positiven wie im Negativen die Triumphsäulen errichteter Herrschaftsmacht. Sie werden aufs Höchste symbolisch aufgeladen wie derzeit der 8. Mai und andere Tage der Selbstrechtfertigung.

Der heutige 20. April

ist mein Gedenktag, weil Frankreich uns am 20. April 1792 den Krieg erklärt hatte. Deutschland wurde scheibchenweise erobert, bis es sich 1813-1815 wieder befreien konnte. An diesem 20. April begannen für Deutschland Kausalitätsketten, die bis in die Gegenwart fortwirken.

Ohne die Überwältigung und Demütigung Deutschlands durch die Franzosen ab 1792 mit seiner späteren Aufteilung und Ausplünderung unter Napoleon wäre der deutsche Nationalismus des gesamten 19. Jahrhunderts völlig unverständlich. Vorher waren die Deutschen nämlich Kosmopoliten und fühlten sich allenfalls ihrem Landesherrn verpflichtet.

Ohne die sich regelmäßig wiederholenden Kriegserklärungen Frankreichs gegen Deutschland wie 1792 und 1870 muß auch der Militarismus unverständlich bleiben, der bei uns nach 1871 zur Hochblüte kam und erst 1945 endete. Er war immer reaktionär: Reaktion nämlich auf reale Bedrohungen.

Das Jahr 1792 bildet zwar keinen metaphysischen Angelpunkt unserer Geschichte, aber einen vergessenen blinden Fleck unserer Geschichtswahrnehmung. Von ihm ausgehend haben sich Kausalketten gebildet, die bis heute fortwirken. Die Reichsgründung 1871 gehört dazu. Die Zerschlagung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation durch die Franzosen bildete für die Deutschen ein lange nachwirkendes Trauma.

Dieses alte Reich hatte an seinem Ende nur noch einen lockeren Verbund deutscher Staaten gebildet, der aber nicht nur seinen Gliedern, sondern auch den Bürgern viel Freiheiten ließ. In seiner Machtlosigkeit gediehen Partikularismus und Kirchturmspolitik. Anfangs mit Wohlwollen, bald aber mit Abscheu sah man nach Frankreich, wo unter den Fahnen vorgeblicher Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit abscheuliche Massaker stattfanden.

Kurz nachdem am 1.3.1792 der deutsche Kaiser Leopold II. gestorben war, ließen die Pariser Girondisten ihren Noch-König Ludwig XVI. am 20.4.1792 Österreich den Krieg erklären, in den die anderen deutschen Staaten ihrer Reichspflicht gemäß eintraten. Das territorial zersplitterte Reich war aus vielerlei Gründen nicht fähig, den Angriffen des zentral regierten Frankreich standzuhalten, und endete 1806. Die Deutschen zogen die Lehre aus der Geschichte und wünschten sich auch solch ein mächtiges, einheitliches Reich mit einer so mächtigen Armee wie die Franzosen. Der Traum lebte in ihnen fort, bis Bismarck ihn 1871 verwirklichte.

Neue Epoche der Weltgeschichte

Goethe nahm als Beobachter am deutschen Feldzug in Frankreich teil. Als Dichter erfaßte er intuitiv die Zeitenwende. Die erfolglose Kanonade von Valmy[3] markierte den Beginn des Rückzugs.

Wir hatten, eben als es Nacht werden wollte, zufällig einen Kreis geschlossen, in dessen Mitte nicht einmal wie gewöhnlich ein Feuer konnte angezündet werden, die meisten schwiegen, einige sprachen, und es fehlte doch eigentlich einem jeden Besinnung und Urteil. Endlich rief man mich auf, was ich dazu denke, denn ich hatte die Schar gewöhnlich mit kurzen Sprüchen erheitert und erquickt; diesmal sagte ich: »Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.«

Johann Wolfgang von Goethe, Campagne in Frankreich, 19.9.1792.
Französische Stellung an der Mühle von Valmy am 19.9.1792 (Gemälde von Horaz Verne)

Seitdem zog sich eine Spur der Verwüstung von Frankreich ausgehend bis – 1812 – Moskau. Die alten Gesetze des Anstandes verloren ihre Kraft, als die Franzosen vordrangen. Die nachmalige preußische Königin Luise schrieb in Darmstadt verängstigt ihrer Schwester:

Seit vorgestern Abend ersterbe ich vor Furcht, als die Nachricht kam, die Franzosen, so etwa 15 bis 20 Tausend, stünden vor Speyer. Gestern am Morgen hat sich diese Nachricht bestätigt, und gestern Nachmittag kam ein Kurier nach dem anderen mit den traurigsten Nachrichten: Speyer eingenommen und niedergebrannt, 1500 Mainzer und 1500 Österreicher gefallen oder gefangen genommen. Nach dem Kampf haben sie alle Soldaten mit den Offizieren über die Klinge springen lassen.

Luise von Mecklenburg-Strelitz am 2.10.1792, in: Königin Luise von Preußen, Briefe und Aufzeichnungen 1786-1810, München 1985, S.10.

Den zentral aus Paris gesteuerten Heeren ihres genialen Anführers hatten die deutschen Territorialfürsten nicht genug entgegenzusetzen. Nachdem die Macht von dem Gremium einer diktatorisch herrschenden Nationalversammlung auf den Einzeldiktator Napoleon übergangen war, verschärfte sich das Problem. Er spielte die deutschen Fürsten gegeneinander aus und machte sie als seine Vasallen zu „Zaunkönigen“, wie Luise als Königin in einem Brief vom 8.2.1806 spöttisch die von Napoleon frischgebackenen Könige von Bayern und Württemberg nannte.

Bis in die höchsten Ämter suchte fast jeder nur zuzusehen, wie er selbst am besten wegkam. Napoleon überrannte Niedersachsen, das damalige Kurfürstentum Hannover. Der Zustand der hannoverschen Armee war vielfach beklagenswert. Der junge August Friedrich Schaumann schildert seinen Abschied vom Dienst und illustriert ihn mit einem bezeichnenden Bild seines Generalmajors, der gewiß auch in unserem Staate zu höchsten Staatsämtern aufgestiegen wäre:

Ich lief nun nach Springe, um meinem dicken Generalmajor[4], den sein Adel, sein Bauch, der Gamaschendienst seines Regiments und seine Haushälterin nur allein, sonst weiter aber nichts in der Welt interessierte, Valet zu sagen.

August Friedrich Schaumann[5], „Kreutz und Quer Züge“, erschienen posthum Leipzig 1922, band 1, S.165

So war gegen einen modern organisierten Zentralstaat nichts zu gewinnen. Nach verlustreichen Schlachten 1794 und 1795 häuften sich in der hannoverschen Armee die Desertionen, vor allem von „Ausländern“ aus deutschen Nachbarterritorien. Auch alle Ängste der jungen Königin Luise wurden wahr. Napoleon eroberte Preußen, das sich hatte neutral halten wollen. Das Königspaar flüchtete nach Memel. Napoleon verlangte halb Preußen für sich und seine Familie sowie die Entlassung des preußischen Ministers Karl August von Hardenberg. Luise widerriet, dem Druck nachzugeben:

Hardenberg darf nicht geopfert werden, auf keinen Fall, wenn Du nicht den ersten Schritt zur Sklaverei tun und Dir die Verachtung der ganzen Welt zuziehen willst. […] Was ist ein Opfer an Land im Vergleich mit dem Opfer an Freiheit des Geistes, der Freiheit zu ehrenhafter Haltung, mit einem Wort, der Unabhängigkeit?

Königin Luise am 27.6.1807 an ihren Mann Friedrich Wilhelm  III.[6]
Als die Deutschen 1813 freiwillig ihr Gold für Eisen spendeten, wurde ein Band der Solidarität zwschen allen Ständen und Stämmen geknüpft, das die deutsche Geschichte bis heute nachhaltig geprägt hat.

Dauerhafte Mentalitätsänderung

Der von Frankreich 1792 bis 1815 geführte Dauerkrieg hat unser Land mental dauerhaft verändert. Wo man zuvor seinem Landesherrn alleruntertänigst die Stiefel geleckt hatte, richtete sich der Blick jetzt auf das Große und Ganze. Das ganze Volk hatte Schulter an Schulter gestanden und gemeinsam gefochten. Die Perspektive behäbiger Kirchturmspolitik wich einer oft bereits vordemokratischen, stark völkisch grundierten und wehrbereiten Stimmung.

In der Stunde tiefster Erniedrigung Deutschlands rief der Preußenkönig am 20. März 1813 sein Volk zu den Waffen. Daß ein Monarch an das Volk appellierte, war ein unerhörter Vorgang von geschichtlicher Tragweite. Er schuf einen Mythos: “Der König rief, und alle, alle kamen.” Dieser Mythos wirkte bis ins 20. Jahrhundert. Das Volk kam, es opferte und kämpfte für seine Freiheit, und das hat es später nicht vergessen. Die deutsche Nationalbewegung des Vormärz, die Abgeordneten in der Paulskirche 1848 und immer größere Teile des Bürgertums forderten Beteiligung des Volkes an der Macht.

Der Aufruf “An mein Volk” schuf einen Mythos.

Demokratischer Aufbruch, Nationalismus, Ruf nach einem einheitlichen Deutschland, fürstliche Reaktion, Pressezensur, Militarismus – alles waren Folgen und Folgesfolgen der Erfahrungen von 1792 bis 1815. Als die Franzosen uns 1870 schon wieder angriffen und als sie 1923 ins Ruhrgebiet einmarschierten, erinnerte man sich an die Geschichte noch sehr gut.

Die Folgerungen dieser erneuten Demütigung vor allem der Jahre 1918 bis 1924 schöpften sich aus der historischen Erinnerung. Gemeinsam waren wir stark, nur gemeinsam hatten die Franzosen so mächtig werden können. Ein einzelner Mann war es, der Diktator Napoleon, der sie zu solcher Machtentfaltung befähigt hatte. War das ein Rezept für Deutschland?

Nichts scheint erfolgreicher zu sein, als der Erfolg. Zentralisierung, Republik, Diktatur, Levée en masse und eine egalitäre Nationalideologie, symbolisiert in einer gemeinsamen Fahne, hatten das napoleonische Frankreich mächtig gemacht. Für das alte Deutschland in seiner behäbigen Mentalität von 1792 wären solche Attribute unsäglich gewesen. Jetzt wurden sie denkbar, sie wurden auch gedacht, und vieles wurde nachgeahmt. Zwischen 1918 und 1933 mutierte Deutschland vom Land der Dichter und Denker zu einer militärischen Kampfmaschine.

Wir beschritten den Weg Napoleons, und so endeten wir auch geographisch da, wo Napoleons Macht sich gebrochen hatte: vor Moskau.

Das Gegenbild

Einer verbreiteten Metapher zufolge bildet die Bundesrepublik unseres Grundgesetzes “das Gegenbild” zu 1933. Sie benötigt den Rekurs auf 1933 als Dreh- und Angelpunkt der deutschen Geschichte. Auf solchen Dreh- und Angelpunkten ruht alle Last. Die deutschen Fürsten des Vormärz hatten jahrzehntelang versucht, die demokratische Freiheitsbewegung in Deutschland einzudämmen. Auch sie fand einen Dreh- und Angelpunkt ihrer fürstlichen Legitimität. Von Gottes Gnaden war nur noch eine hohle Phrase. Belastbar war aber der ständige Rückbezug auf 1792: “Wir herrschen legitim, weil wir ein neues 1792 verhindern!”

Königsmorde? Blutnächte? Massaker? Nein, das wollten die ruhigen deutschen Bürger nicht.

Damit lag auf der Hand: Nur die legitimen Landesfürsten verhinderten ein “neues 1792”! Sie bildeten das Gegenbild zum revolutionären Frankreich: “Ihr wißt doch, wohin das geführt hat! Wehret den Anfängen!” Das Ausmaß fürstlicher Unterdrückung der Meinungs- und Pressefreiheit nach dem Befreiungskrieg wäre unerklärlich ohne die traumatisierenden Erinnerungen der Fürsten an die französische Königsfamilie auf dem Schafott und die bestialischen Massaker der Revolution.

Diese Geschichte ließen sich die Deutschen noch 100 Jahre lang willig erzählen. Und wären sie nicht irgendwann gestorben, dann glaubten sie wohl heute noch an sie.


[1] Mitarbeit: Hilmar Sack, Historiker und Leiter des Büros des Bundestagspräsidenten.

[2] So steht es in der ZEIT tatsächlich.

[3] Der französische General Kellermann hatte bei der Mühle von Valmy eine Stellung, die beschossen wurde. In dieser Mühle wurde am 9.1.1776 der Müllersohn Nicolas Blot geboren. Als Fuhrmann der Artillerie zog er in Koblenz ein und heiratete dort in der Liebfrauenkirche am 26.1.1796 die Deutsche Anna Catharina Spies. Das Ehepaar wurde zu Urururgroßeltern meiner ältesten Töchter.

[4] Bernhard Friedrich Rudolf von Scheither, *Hannoversch-Münden 1740. † vor dem 21.11.1812

[5] August Ludolf Friedrich Schaumann *Hannover 19.5.1778, †ebd. 14.10.1840, begann seine Laufbahn im hannoverschen 13. Inf.-Rgt. – Nach der Auflösung der hann. Armee 1803 Großbrit. Deputy-Assistant, Commissary General, General-Kriegs-Commissair in der Kings German Legion, Autor der Autobiographie „Kreutz und Quer Züge“, erschienen posthum Leipzig 1922.

[6] Königin Luise von Preußen, Briefe und Aufzeichnungen 1786-1810, München 1985, Memel den 27. Juni 1907, S.360.