Am 5. Mai hielt Merkel in Holland eine Rede zum Befreiungstag, und am 8. Mai wird sie gewiß auch bei uns wieder irgendetwas sagen. Niccolo Machiavelli schrieb, ein Fürst sollte zwar nicht fromm sein. Das schränke nur seine Freiheit und seine Macht ein. Er sollte aber im Volk als fromm gelten, weil seine Herrschaft dann williger hingenommen werde. Die Frömmigkeit unserer Tage drückt sich in den Niederlanden zum Jubel zum richtigen Zeitpunkt aus. Die Befreiung wird zum Mythos.

Bei uns herrscht dagegen offiziöse Bußfertigkeit vor. Sie bedient sich auch eines Mythos, aber eines Gegenteiligen.

Gründungsmythen …

Früher hatten alle Völker nationale Gründungsmythen. Die Römer führten sich auf Aeneas zurück, der aus Troja floh. Vergleichbare Legenden gab es überall. Urahnen genossen Verehrung als Helden. Gemeinsam von ihnen abzustammen, erfüllte alle mit Stolz.

Vergangenheitsstolz macht zukunftsfroh. Solche Legenden sind Mythen des Lebens und erwecken mutige Zuversicht. Mit mythischen Helden kann man sich gut identifizieren. Der Mythos begründet kollektive Identität.

Als um 1440 der Gürzenich zu Köln als des Rates Tanzhaus fertiggestellt wurde, prangte über seinem Eingang ein Bild des Römers Marcus Agrippa als Gründungsvater mit dem Spruch:

Der herliche Marcus Agrippa eyn Heydensch Man
Vur gotz geburt Agrippinam nu Coelne began.

(Der herrliche Marcus Agrippa ein heidnischer Mann, vor Gotts Geburt Agrippina – jetzt Köln – begann.)

Marcus Agrippa 64 bis 12 v.Chr. (Abbildung: Stich nach einer Gemme)

In ihrer Selbstdarstellung war die Stadt Köln jahrhundertelang die felix Agrippina, nobilis Romanorum colonia (glückliches Köln, Kolonie edler Römer). Dieser Gründungsmythos ist bis heute in der Stadt höchst lebendig. Die meisten Mythen dürften auf tatsächlichen Geschehnissen beruhen. Im Mythos steckt oft die symbolische Erinnerung an ein reales Ereignis.

… und Todeskult

Neben vielen von allen tief empfundenen Lebensmythen gebar Deutschland auch einen Todesmythos. Er erzählt von einem fluchbeladenen Volk, das bis in alle Ewigkeit Buße zu tun hat und „Verantwortung“ für alles mögliche tragen soll, nur nicht für sich selbst. Ihm liegt die historische Tatsache der Menschenvernichtungen im 3. Reich zugrunde. Daran knüpft er an und richtet moralische Gebote und Verbote selektiv an Menschen, die zwar zur Zeit jener Morde noch nicht auf der Welt waren, aber gleichwohl „schon länger hier leben.”

Ein Lebensmythos erzählt, wie eine Gemeinschaft auf legendäre Weise gestiftet wurde und was sie ihren Gründungsvätern verdankt. Eine konstruierte Vergangenheit ist das stabile Fundament ihres Selbstbewußtseins: „Die Alten haben das richtig gemacht! Weiter so!“ Die Altvorderen werden zum Sinnbild moralischer Integrität und vorbildlicher Tüchtigkeit verklärt.

Ein Todesmythos ist wie ein ins Negative gewendeter Gründungsmythos. Er erzählt genau die gegenteilige Geschichte: „Die Alten haben alles falsch gemacht, und wir sind dafür verantwortlich!“ Ein Lebensmythos verleiht unzerstörbare Zuversicht auf die Zukunft. Ein Todesmythos will ein Ende machen und möchte jede Zukunft zerstören, weil er sie für unheilbar wurzelkrank hält.

Auch für ihn bildet eine konstruierte Vergangenheit das stabile Fundament des Selbstgefühls, nur lehnt dieses sich selbst ab. Die Altvorderen werden zum Sinnbild moralischer Verworfenheit verklärt. Sein Konstrukt wird zusammengesetzt aus den historischen Fakten des wirklich Geschehenen, deren rückblickender Deutung aus der erhabenen Perspektive religiöser, moralischer und politischer Überlegenheit der Nachgeborenen und aus den konkreten Geboten und Verboten, die seine Konstrukteure heute an uns richten. Daraus leiten sie die Legitimität ihrer Herrschaftsmacht ab.

Der Todeskult ist nicht mit einem Totenkult zu verwechseln. Wer sich Büsten seiner verehrten Ahnen ins Zimmer stellt wie die alten Römer oder wer heute nach den Namen seiner Ahnen forscht, betrachtet sie als Stifter und Unterpfand blühenden und gedeihenden Fortlebens. Ein Todeskult hingegen kultiviert nur die Sinnlosigkeit der eigenen Fortexistenz. Sozialpsychologisch kultiviert ein Totenkult den Willen zum Leben im Geiste der verehrten Ahnen. Der Todeskult aber stellt die eigene Existenz in Frage. Er bildet einen Kult zum Tode. Von ihm Befallene sind dem Untergang geweiht.

Die Erbsünde und ihre Inquisitoren

Wer sich mit seinem eigenen Todesmythos selbst umnachtet, ist verloren. Weil er sich persönlich für verantwortlich hält für etwas, das nicht mehr zu ändern ist, bieten sich ihm wahlweise nur zwei Auswege an: Er betrachtet sich als belasteten Nachkommen eines historischen Verbrechervolkes und nimmt sich einen Strick, oder er sucht dem moralischen Tribunal zu entkommen, indem er als Inquisitor selbst dieses Tribunal wird und seinen Mitbürgern den Strick empfiehlt.

Die morgenländische Idee einer Erbsünde besagt, daß die Verfehlung von Vorfahren in den Augen ihres Gottes so schwer wiegt, daß sie sich quasi in der Blutlinie weitervererbt: Adam und Eva sündigten und wurden aus dem Paradies vertrieben mit allen ihren Nachkommen.

Auch wußte Gott wohl, daß der Mensch sündigen und, dem Tode verschrieben, Sterbliche fortpflanzen werde, und daß die Sterblichen in ihrer Sünden Erbärmlichkeit so weit noch kommen sollten, daß sicherer  und friedlicher das Tier, das nicht Vernunft hat, mit seinesgleichen lebt.

Augustinus von Hippo (354-430), De civitate Die, XII.

Wenn sich Sünde von Kind zu Kindeskind weitervererbt, muß die eigene Fortpflanzung als protosündiger Akt erscheinen. Erbsündenlehren sind Todesmythen.

Das Wesen der christlichen Erbsündenlehre besteht im „Tod der Seele“ (mors animae, De civitate Dei XIII 2). Ihr Todesmythos hinterließ seitdem eine Spur des Todes hinter allen, die von ihm befallen waren: mittelalterliche Geißler, Hexenverbrenner, Prediger wie Girolamo Savonarola (1452-1498) in Florenz und viele andere Fanatiker des Sündenwahnes. Jan van Leiden (1509-1536) wollte in Münster ein „neues Jerusalem“ gründen und schuf nur Tod und Elend.

Jan van Leiden enthauptet eigenhändig seine Ehefrau Elisabeth Wandscherer
Von Schulfra – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=71375911

Der erbarmungslose Todesmythos

Todeskulte wecken Schuldgefühle, zerstören die positive Identifikation der Betroffenen mit sich selbst und ihren Wurzeln, machen sie lenk- und manipulierbar. Sie untergraben in letzter Konsequenz die Entschlossenheit, zu leben und Leben an Kinder weiterzugeben. „Wozu auch, wenn wir doch durch Geburt alle Sünder und Verworfene sind?“ Die christlichen Kirchenväter wie Augustinus kannten wenigstens noch die göttliche Verzeihung und sein Gebot: Seid fruchtbar und mehret euch!

Der moderne Todeskult kennt eine solche Verzeihung nicht. Er wütet von Jahrzehnt auf Jahrzehnt erbarmungsloser gegenüber unserer eigenen Vergangenheit. Er sieht sich selbst als Strafurteil für alle Ewigkeit, das wohl in irgendeiner geheimnisvollen Weise mit unserem Blut verbunden sein muß, obwohl wir natürlich keine Rassisten mehr sein dürfen. Aber es ist ein rein innerdeutscher Kult: Waren unsere Vorfahren Täter, waren die anderen Völker Opfer:

Die begangenen Verbrechen verjähren nicht. Die Erinnerung daran wachzuhalten, ist immerwährende Verantwortung Deutschlands.

Angela Merkel am 5.5.2021 in den Niederlanden.

Als immerwährende Verantwortung aller Menschenkinder bezeichnet Merkel sie offenbar nicht. Rigides Schwarz-weiß-Denken kennt nur absolut Gutes und absolut Böses. Wenn wir das Böse verkörpern, müssen die anderen die Guten sein und bleiben. Sonst spricht die Frau selten von Deutschland im Kollektiv. Tatsächlich meint sie auch nicht das Land, sondern uns. Sie meint die deutschen Einwohner unseres Landes und unseren Staat.  Sie nimmt uns in eine Ewigkeitspflicht, auf deren Erfüllung auch keine Verzeihung oder Entlassung aus der Schuldhaft winkt:

Die moralische Aufarbeitung aber endet nie. Die breite, von zahlreichen Initiativen der Zivilgesellschaft getragene Gedenklandschaft in Deutschland leistet einen wichtigen Beitrag dazu.

Norbert Lammert im Bundestag am 27.1.2015

Im ubiquitären Todeskult unserer Zeit schließt man zukunftsweisende Kindergärten und öffnet retrospektive Gedenklandschaften des Todes. Im Memento mori! ihrer ewig tickenden Totenuhr ist der Zeiger auf einer Jahreszahl stehengeblieben. Eine Lebensuhr würde fortschreiten, den neuen Tag mit dem Hahnenschrei begrüßen, uns zur siebten Stunde wecken und uns zu frischem Tagwerk ermuntern.

Jesus soll gesagt haben: „Laßt die Toten ihre Toten begraben!“ Wer nur noch Tote beklagt und das Leben vergißt, ist selbst dem Tod schon näher als dem Leben. Niemand braucht öffentliche Pflichtkulte, um sich mit historischen Verbrechen auseinanderzusetzen. Je intensiver er in die Weltgeschichte einsteigt, desto mehr Verbrechen findet er. Alles Gedenken ist in Ordnung. Man kann auch keinen sogenannten Schlußstrich ziehen, was Merkel angeblich gestern abgelehnt haben soll:

Das sei die ewige Verantwortung Deutschlands, sagte sie in einer virtuellen Rede bei der Gedenkfeier in Den Haag. Es könne keinen Schlußstrich geben.

Bericht im Deutschlandfunk 5.5.2021

Der Bericht im Deutschlandfunk ist allerdings falsch. Merkel hat kein Wort von „Schlußstrich“ gesagt.

Der Brunnen der toten Seelen

Ja, unser geschichtliches Gedächtnis ist von zentraler Wichtigkeit. Ohne einen positiven Mythos von uns selbst werden wir keine Zukunft haben. Anknüpfungspunkte für ihn bietet unsere Geschichte reichlich: von des Römers Tacitus Buch über die alten Germanen bis hin zu Kaiser Friedrich Barbarossa. Dem Mythos zufolge wird er mit des Reiches Herrlichkeit wiederkehren, wenn die alten Raben des inneren Zwistes nicht mehr um den Berg Kyffhäuser fliegen.

Kaiser Friedrich Barbarossa auf dem Kyffhäuser Denkmal (Foto Reinhard Kirchner, Wikipedia, gemeinfrei)

Mythen sind keine geschehene Geschichte. Sie bilden aber selbst einen Gegenstand historischer Erforschung. Ihre Wirkungskraft ist eine Tatsache des Massenpsychologie. Mythen wirken, obwohl sie oft nicht buchstäblich vergangene Realität widerspiegeln. Ihre Tiefen bilden den Seelenbrunnen, in dem wir unsere stolzeste Hoffnung, unsere gemeinste Sehnsucht oder auch unseren tiefsten Schmerz wiedererkennen.

Wer in diesen Spiegel schaut und nur noch Tod und Elend erblickt, ist eine verlorene Seele – eine tote Seele würde Augustinus wohl formulieren.