Ist “konservative Revolution” eine Option?
Seit Jahren flüstert man auf der politischen Rechten „konservative Revolution“. Jene rechtsintellektuelle Strömung entstand vor etwa hundert Jahren und war vor allem eines: eine Idee von Intellektuellen.
Zwar versprühten ihre Schöpfer jahrelang funkelnde Geistesblitze. Schließlich gehörten zu ihnen zeitweilig überragende Köpfe wie Ernst Jünger und Ernst Niekisch. Für eine Massenbewegung taugten deren Ideen aber nicht. Auf der Straße marschierte bald die Masse, und die ist bekanntlich zu geistigen Höhenflügen nicht imstande. Das verdankt sie nicht zuletzt den schweren Stiefeln an den Füßen, die schließlich in Deutschlands Straßen marschierten, während namhafte Rechtsintellektuelle sich vorsichtshalber aus der Schußlinie begaben.
Dennoch haben die Protagonisten der konservativen Revolution (KR) die Gedankenwelt bleibend befruchtet. Für ein praktisch brauchbares politisches Konzept taugt die KR heute so wenig wie damals. Zu fern steht sie der Auffassungsgabe und den tatsächlichen Bedürfnissen der Masse. Aber wurde diese Masse nicht immer von geistigen Eliten bewegt? Können wir heute etwas von ihren Geistesfrüchten nutzen?
Philosophie gegen „konservative Revolution“
Die „konservative Revolution“ gründet auf philosophisch problematischen Glaubenssätzen. Zu ihnen gehört der Glaube, es gebe etwas gesellschaftlich ewig Wahres, etwas Absolutes. Ein heutiger Anhänger der KR formuliert bezeichnend:
Auf diese Weise sehen wir, daß Revolution und Erhaltung zwei Momente derselben Bewegung sind: die der Wahrheit, die den Schleier des Tempels zerreißt und später die Kathedralen baut. Aus dieser Perspektive könnte nichts falscher erscheinen, als den Konservatismus mit dem wohlerzogenen Rationalismus des Liberalismus oder mit der politischen Skepsis des Eckhändlers gegenüber der britischen Tradition zu verbinden. Und hier erklären wir, was für uns die unbestreitbarste Wahrheit dessen zu sein scheint, was die Einheit von Konservatismus und Revolution darstellt: die Verteidigung des Absoluten. Es ist nicht hinnehmbar, daß der Konservatismus denen überlassen wird, die ihn als Ausdruck einer epistemischen und existentiellen Zurückhaltung gegenüber dem Neuen betrachten; denn Konservatismus ist nicht und wird niemals die faule Verteidigung der Tradition und des Alten sein, die bewahrt werden muß, weil sie das Siegel ist, das die Nützlichkeit der Gewohnheit verliehen hat. Konservativismus ist die Verteidigung des Neuen, des Aktuellen und der Gegenwart, denn Konservativer zu sein bedeutet, die Ewigkeit ohne Scham und ohne jede Bescheidenheit zu verteidigen. Und da die Ewigkeit der zeitliche Ausdruck des Absoluten ist, ist der Konservatismus die Verherrlichung der Gegenwart, denn das Ewige ist weder das Alte noch das Alte, sondern das Neue und Lebendige als die Arterie, die das Blut in die materielle Welt pulsiert und pumpt.
Diego Echevenguá Quadro, Einführung in die Idee einer konservativen Revolution, in: O Sentinela 25.10.2021
Das ist offenkundig unvereinbar mit aufklärerischen Einsichten. Alles Wertvolle ist nicht absolut wertvoll oder wertvoll an sich. Es gewinnt Wert, wenn und solange eine Person es wertschätzt. Wertschätzen ist eine emotionale Zuwendung, eine geistige Tätigkeit.
Wer seinen Lieblingswert für absolut erklärt und daran soziale Machtansprüche knüpft, schmälert die Freiheit seiner Mitmenschen, die ihrem Leben vielleicht einen ganz anderen Sinn gegeben haben und etwas ganz anderes für wertvoll halten.
Unsere Staatsideologie verwirft darum jeden politischen oder religiösen Absolutheitsanspruch als extremistisch. Was unter Bürgern als Wahrheit gelten dürfe, müsse immer zur Dispositon stehen und frei ausgehandelt werden dürfen. Dann geht sie in die Falle der Logik und setzt ihre Forderung im selben Atemzug ihrerseits absolut. Sie erhebt damit einen eigenen Absolutheitsanspruch und „bekennt“[1] sich zu ihren eigenen „ewigen Wahrheiten“. Diese gälten „vorstaatlich“, also allüberall und ewig.
Verzicht auf Absolutheitsansprüche ist problematisch
Philosophisch sind Wertentscheidungen immer menschliche Entschlüsse und gelten für denjenigen, der sie faßt. Sie sind also relativ und niemals absolut. Kein anderer Mensch muß sich an sie halten.
Wer sämtliche Wertentscheidungen für relativ hält, zahlt dafür allerdings einen hohen Preis. Ist er konsequent, stellt er selbst sein eigenes Leben und die tiefsten Beweggründe seines Handelns zur beliebigen Disposition. Er verzichtet auf aktive Teilnahme am Leben und auf die kalkulierte Anwendung von Ideen als Waffen in der polemischen Auseinandersetzung. Die Bundesregierung käme nicht weit mit weltweitem Anmahnen „der Menschenrechte“, wenn sie zugleich zugeben würde: „Einen absoluten Wahrheitsanspruch können wir leider nicht begründen.“
Doch auch wer alle Absolutheiten verwirft, gelangt in eine logische Zwickmühle: Wenn sowieso alles relativ ist, ist die Relativität zwar nicht als falsch widerlegt,[2] aber doch selbst relativ. Dürfen wir dann nicht wenigstens einmal am Geist der Relativität sündigen, indem wir etwas absolut setzen?
Die Selbstaufhebung der Relativität
Nur der ist berechtigt, die philosophisch überlegene Haltung des wertneutralen Beobachters einzunehmen, der nicht mehr glaubt, “es gebe doch etwas zu verteidigen, etwas, das mit dem (wenigstens faktisch angenommenen) Sinn des Lebens zusammenhänge.”[3]
Im realen Leben ist es höchst erfreulich, wenn der Gegner oder Feind entmutigt nach Hause geht, weil alles sowieso keinen Sinn hat. Dann führt die eine Seite Krieg, und von der anderen Seite “geht „einer hin.“ Den Feind von der „Sinnlosigkeit des Widerstandes“ zu überzeugen gehört zu den vornehmsten Aufgaben jeder Propaganda. Heerscharen von Desinformanten unterminieren ständig im Internet unseren Staat, indem sie ihn uns mies machen wollen. „Da gibt es nichts Wertvolles zu verteidigen!“, sollen wir denken. Wir sollen die theoretisch überlegene Haltung des neutralen Beobachters einnehmen, weil wir den Plänen und Absichten unserer Gegner dann keinen Widerstand mehr entgegensetzen können.
Im Haifischbecken des realen Völkerlebens gibt es aber keine Neutralität. Juan Donoso Cortés hatte gemahnt:
“Sage mir nicht, du wollest nicht kämpfen, denn im gleichen Augenblick, wo Du dies sagst, kämpfst Du bereits; noch, daß Du nicht wüßtest, auf welche Seite Du Dich schlagen sollst, denn im gleichen Augenblick, wo Du dies sagst, hast Du Dich bereits einer Seite zugewandt; noch erkläre mir, daß Du neutral bleiben wollest, denn wenn Du denkst, es zu sein, bist Du es bereits nicht mehr.”[4]
Juan Donoso Cortés
In dieser Vorstellung wurzelt das bekannte Diktum Schmitts: “Wer in der Frage: Neutralität oder Nicht-Neutralität neutral bleiben will, hat sich eben für die Neutralität entschieden. Wertbehauptung und Neutralität schließen einander aus. Gegenüber einer ernst gemeinten Wertbehauptung und -bejahung bedeutet die ernst gemeinte Wertneutralität eine Wertverneinung.” Daraus folgt zum Beispiel konkret:
“Erklärt ein Teil des Volkes, keinen Feind mehr zu kennen, so stellt er sich nach Lage der Sache auf die Seite der Feinde und hilft ihnen, aber die Unterscheidung von Freund und Feind ist damit nicht aufgehoben.”[5]
Carl Schmitt
Konservative Revolution als Kaninchen aus dem Zylinder
Striktes Relativitätsdenken und der Verzicht auf Absolutheitsansprüche sind – philosophisch – theoretisch korrekt. Sie können aber zur Selbstaufgabe und in den eigenen Untergang führen. Wir dürfen unseren Gegnern gern wünschen, den Glauben an sich selbst zu verlieren. Wir sollten sie sogar darin bestärken: Alles hat keinen objektiven und absoluten Sinn, also geht nach hause und laßt uns in Ruhe!
Schwierig wird es, wenn wir von philosophischen Banausen und Dumpfbacken heimgesucht werden, die fanatisch an ihr eigenes Absolutes glauben, uns unterwerfen und den Mund zubinden, bevor wir das Wort „Aufklärung“ aussprechen können. Historische Erfahrung lehrt: Wer einem überlegenen Gegner widerstehen will, muß so werden, wie jener schon ist. Gegen gerüstete Ritter konnten sich lange nur gerüstete Ritter wehren, gegen fanatisch anstürmende Massen[6] halfen erst 1813 bis 1815 vom „Volksgeist“ beseelte Heere, die in ihrer Art ebenso fanatisch fochten.
Es ist die Aufgabe jeder geistigen Elite, in den eigenen Reihen eine passende Metaphysik zu verbreiten, um die wankenden Reihen zu schließen. Als der Hauptmann den Soldaten Schwejk mit schneidender Stimme fragte: „Warum soll der Soldat sein Leben einsetzen?“, antwortete der: „Sie haben Recht, Herr Hauptmann, warum eigentlich?“
Nur wem es etwas Wichtigeres und Höheres gibt als das eigene Leben, wird dieses Leben aufs Spiel setzen. Aus der relativen Perspektive des Individuums gibt keine Absolutheiten, für die es leben und notfalls zu sterben bereit ist. Es hat aber jederzeit die Freiheit für den Entschluß: „Das ist mir so wertvoll, daß ich notfalls mein Letztes zu seiner Verteidigung gebe!“ Jeder kann sich dafür entscheiden, ob ein Wert für ihn absolut gilt.
Im politischen Leben besteht kein Unterschied, ob ich einen Wert absolut setze oder behaupte, er gälte auch ohne meine Entscheidung für alle Menschen absolut. Im realen Kampf muß jeder behaupten, seine Wertentscheidungen gälten objektiv und absolut. Andernfalls wird er keine gläubige Gefolgschaft finden.
Im festen Glauben an sein Absolutes ist ihm jeder zum Ekel, für den es gar nichts Wertvolles und Erhaltenswertes gibt. Er ist der Todfeind alles dessen, was sein Absolutes verneint. Er identifiziert sich und sein Leben mit seinem Absoluten. Aus diesem Holz sind konservative Revolutionäre geschnitzt. Einer komme hier abschließend als Beispiel zu Wort:
Offene Gesellschaften sind deterritorialisierte Gesellschaftsformen, ohne jegliche traditionelle Zugehörigkeit zu den Wurzeln des Bodens, der Kultur, der Familie, des Logos. Ohne irgendeine Form von stabiler Zugehörigkeit der Individuen. Individuen, die den vollständigsten Ausdruck der elementaren Substanz allen gesellschaftlichen Lebens sind; reine Prozessformen, die spektral im Äther schweben, frei von allen kulturellen, symbolischen, spirituellen und biologischen Bestimmungen. Diese Gesellschaften sind die richtige Verwirklichung jeder Negation des Absoluten; da sie keine Kausalität im Handeln der Probanden zugeben, die nicht von ihrem rationalen Interesse an der Maximierung ihres Komforts, ihres Wohlbefindens und ihres bereits vergrößerten Bauches geleitet wird. Eine solche Gesellschaft ist eine Verleugnung des griechischen politischen Tieres, des Bürgers, des Philosophen, des Heiligen, des Kriegers und der Liebenden, die nur das Absolute als ihr Objekt betrachten, das ihr Fleisch zerreißt und sie über sich hinaustreibt. Das schamlose Eigeninteresse des Liberalen hindert ihn daran, sein Leben für etwas anderes zu riskieren, als wie ein Idiot in der Schlange in einem Geschäft zu sterben, um die dummen Geräte des Augenblicks zu kaufen.
Gegen das Imperium der offenen Gesellschaften greifen Revolutionäre und Konservative zu den Waffen. Wegen ihrer Liebe zum Absoluten sitzen sie am Tisch und teilen ihr Lächeln, ihre Angst und ihre Tränen. Ein Liberaler weint nie. Es gibt keine Tränen in einer Welt austauschbarer und austauschbarer Objekte. Im Kapitalismus gibt es keine Verluste. Es gibt nur Gewinne. Der Liberale wird also nicht erkennen, was er verloren hat. Sie werden nie verstehen, dass Sie das Absolute gegen einen Computerbildschirm eingetauscht haben. Nur Revolutionäre und Konservative können weinen, weil sie für das Absolute weinen. Deine Tränen werden die neue Flut sein, die die Erde bedecken und diejenigen ertränken wird, die nicht den Geist von Fischen und Seefahrern haben. Denn es sind die Navigatoren, die neue Länder entdecken, neue Kontinente und neue Geographien. Und es werden Revolutionäre und Konservative sein, die an neuen Stränden, neuen Inseln und neuen Territorien ankern werden. Denn sie wohnen in den Breitengraden des Absoluten. Und es wird eine konservative Revolution sein – eine Bruderschaft, die man sich noch nicht vorstellen konnte – die den offenen Gesellschaften und ihrem Zug von Bankern, Kaufleuten, Managern, Spekulanten und Eigentümern ein Ende bereiten wird.
Diego Echevenguá Quadro, Einführung in die Idee einer konservativen Revolution, in: O Sentinela 25.10.2021,
[1] Art.1 Abs.2 Grundgesetz.
[2] Panajotis Kondylis, Nur Intellektuelle behaupten, daß Intellektuelle die Welt besser verstehen, Interview, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 1994, 683 ff., S.688.
[3] Panajotis Kondylis, Macht und Entscheidung, Stuttgart 1984, S.120.
[4] Juan Donoso Cortés, Essay über den Katholizismus, den Liberalismus und den Sozialismus, 1851, Hrg.Günter Maschke, Weinheim 1989., S.75; vgl. auch ebd. 2.Buch Kap.I, Vom freien Willen.
[5] Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, S.49; Der Begriff des Politischen, S.52.
[6] Levée en masse 1793.
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