Ideologisches Hütchenspiel

Vor dem Hintergrund der sogenannten Pandemie haben Links und Rechts argumentativ die Plätze getauscht. Sie bieten dem geistigen Feinschmecker das vergnügliche Schauspiel zweier Kontrahenten, deren polemische Bedürfnisse ihre ideologische Stringenz überrunden.

Welchen üblichen Verdächtigen würden wir zutrauen, massenhaft auf die Straße zu gehen und Polizeiketten zu durchbrechen mit Forderungen wie

Frieden, Freiheit, keine Diktatur! Nieder mit der kapitalistischen Pharmaindustrie! Mein Körper gehört mir! Hände weg von meinen Gesundheitsdaten! Gegen Berufsverbote für Impfverweigerer! Schluß mit der staatlichen Repression! Die Krise heißt Kapitalismus!

Die Antwort kennen wir alle. So hören sich Linke an. Und wen würden wir verdächtigen, die Gegenposition einzunehmen? Wir finden Sie nicht in Parolenform auf der Straße. Subkutan wird sie unseren Köpfen täglich medial eingeträufelt. Sie lautet paradigmatisch etwa:

Die Volksgesundheit fordert den Schutz des Volkskörpers. Seine Gesundheit und die Rettung jedes einzelnen Volksgenossen ist das höchste Staatsziel. Um ihn von viralen Unreinheiten zu befreien, wird angeordnet, daß jeder Volksgenosse sich impfen lassen muß. Die gesunde Homogenität des Volkskörpers ist gegebenenfalls zwangsweise herzustellen. Gemeinnutz geht dabei vor Eigennutz. Etwaige Rechte auf körperliche Selbstbestimmung werden außer Anwendung gesetzt. Zur Durchführung der erforderlichen Maßnahmen werden alle Volksgenossen namentlich erfaßt und auf ihre Impfung überprüft.

Wir mußten lediglich die benutzten Sprechhülsen geringfügig anpassen, um den Kern der Sache zu erkennen. So spricht man links auf semantischer Ebene von der Gesellschaft nicht als Volk. Und rechts hat man noch nicht den polemischen Wert von Worten wie Repression und Berufsverbot erkannt. In der Sache selbst ist aber völlig klar:

Der Kampf für persönliche Freiheit, Datengeheimnis, Emanzipation vom Staat und Selbstbestimmung wurde von der Linken jahrzehntelang als ihre Domäne betrachtet. „Mein Bauch gehört mir!“ war eine Schlüssel-Parole der antiautoritären Linken. Der Kampf gegen den angeblich autoritär-repressiven Staat mit Berufsverboten und Polizeimacht, die angeblich nur die Interessen der monopolkapitalistischen Ausbeuterklasse schützt, bildete einen Kern aller antiautoritären Polemik.

Rechte gehen in Düsseldorf spazieren: antikapitalisch und gegen den autoritären Staat
(Bildquelle: Twitter 8.1.2022)

Wer politisch dagegen völkisch-nationalistisch argumentiert oder organizistische Staatstheorien vertritt, müßte aus ihnen unmittelbar ableiten, „gesund“ zu halten, was er unter einem Volkskörper versteht. Den Vertretern solcher Auffassungen ist ist die Forderung nach einem autoritär durchgreifenden Staat nicht fremd. Wenn das Gemeinwohl es erfordert, läßt es persönliche Rücksichtnahmen nicht gelten.

Tatsächlich wird in diesen Tagen aber exakt umgekehrt argumentiert. „Mein Bauch gehört mir“ war vorgestern. Heute gilt für Linke „Mein Oberarm steht dem Staat zur Verfügung.“ Autonome Antifaschisten mobilisieren gegen Impfpflichtgegner, die auf autonome Selbstbestimmung ihres Körpers beharren. Obwohl sie von Hause aus Anarchisten sind, verbünden sie sich mit der behelmten Staatsmacht gegen Spaziergänger und können es gar nicht autoritär genug bekommen.

So werden wir Zeugen eines lehrreichen Bühnenstücks, einer Komödie mit vertauschten Rollen. Wir dürfen uns ausschütten vor Lachen, antiautoritäre Linke im Kostüm des von ihnen verachteten „staatlichen Repressionsapparates“ auftreten zu sehen. Gleichzeitig haben Bürgerliche und Rechte eine neue Liebe zu antiautoritärer Widerborstigkeit entdeckt.

Die Linke hat will von Autonomie nichts mehr wissen
(Bildquelle: Twitter)

Sobald wir aus dem Lachen wieder herausgekommen sind, lichtet sich der Bühnennebel. Wir erkennen im Handeln der Akteure sozialpsychologische Gesetzmäßigkeiten, die ihnen selbst gar nicht bewußt sind. Alle politischen, sozialen und gesellschaftlichen Konflikte unterliegen ihnen.

Individuen und Gruppen eignen sich zunächst diejenigen ideologischen Positionen an, die ihrer Interessenlage entsprechen. So wird ein in Deutschland lebender Mischling zwischen einem Nigerianer und einer Deutschen im traditionellen Deutschland kaum einer rassistischen Weltsicht zuneigen, weil diese ihm keinen sozialen Vorteil brächte. Arme Kirchenmäuse werden sich gern eine egalitaristische Anschauung aneignen, fette Kater aber beim Gastmahl mit den Mäusen für freie Menüwahl eintreten.

In der Geistesgeschichte haben aber des öfteren Personengruppen Positionen eingenommen, die mit ihrer Grundhaltung schwer vereinbar waren. Warum mündete der Bach der katholischen Soziallehre nicht unmittelbar in den sozialistischen Teich? Ganz einfach: Das Bedürfnissen, sich vom Sozialismus abzugrenzen, war stärker als das Bedürfnis, mit biblischen Forderung ernst zu machen. Daß, Jesus zufolge, eher ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als daß ein reicher in den Himmel kommt, schmeichelt auch sozialistischen Gehörknöchelchen. Weil auf dem Felde ökonomischer Menschengleichheit schon der Sozialismus thronte, mochten Katholiken sich nicht daneben setzen. Sie bevorzugten statt dessen eine Art gemäßigter Barmherzigkeitslehre. Das polemische Bedürfnis, sich vom atheistischen Erzfeind abzuheben, war stärker als die Stringenz der eigenen Lehre.

Derselben Gesetzmäßigkeit unterliegen in der Zeit der amtlichen Verbote und Impfgebote die Akteure, soweit sie sich als links oder rechts verstehen. Auslöser und Motor der Impfgegner ist ein tiefgreifendes Mißtrauen breiter Schichten gegen die derzeitigen staatlichen Akteure und ihre Beifallklatscher in den öffentlich-rechtlichen Medien. Der Vertrauensverlust ist seit 2015 tiefgreifend. Zwischen der von Regierung und Medien vorgespiegelten heilen Welt neudeutschen Gutmenschentums und der realen Erlebniswelt vieler Menschen klaffen Abgründe. Was jahrzehntelang von regierenden Parteien bekräftigt wurde, galt über Nacht nicht mehr. Die rechtlose Masseneinwanderung 2015 und die Kölner Silvesternacht haben breite Kreise des rechtstreuen Bürgertums tief verunsichert. Seitdem jagt ein Staatsversagen das nächste: Wirre und konzeptlose Maßnahmen gegen Covid, 45 Milliarden € (Versicherungs-)schaden an der Ahr und hunderte Toter, der deutsche Michel fiel von einer Ohmacht in die andere.

So verweigerten sich Millionen erst staatlich geforderten Maßnahmen wie der Maskenpflicht, später den Impfungen. Diese Verweigerung trug keinen politisch rechten Charakter, sondern zog sich quer durch verschiedene Lager. Bezeichnenderweise war sie besonders in den Regionen verbreitet, in denen dasselbe Grundmißtrauen gegen die Staatsparteien und ihre Medien zu hohen Anteilen an AfD-Wählern geführt hatten.

In dieser Phase schrieben die Staatsmedien undifferenziert allen Mißtrauischen und Impfzögerern „rechte“ Absichten zu. Um gesellschaftliche Akzeptanz und Gehorsam für Verbote und für Impfgebote zu erwarten, schien sich anzubieten, die Verweigerer pauschal als „Rechtsextremisten“ zu denunzieren. Bisher hatte es meistens genügt, eine widerständige Bewegung im Keim zu ersticken, wenn man mit dem Finger auf sie zeigte, sorgenvoll die Stirn runzelte und mit vagen Andeutungen auf Adolf anspielte.

Diesmal ging der Schuß gründlich nach hinten los. Rechtsradikale horchten auf und witterten Morgenluft. Sie erkannten in den Demonstranten für ihre individuelle Freiheit, was Linke „revolutionäres Potential“ nennen würden. Da braute sich etwas zusammen. Entgegen ihren originär rechten Vorstellungen suchten sie sich an die Spitze der neuen Massenbewegung zu setzen: gegen den Staat, gegen „das System“, gegen Volksgesundheit und nationale Impfsolidarität und für individualistisches Einzelmenschendenken. Volksgemeinschaft in der Impfschlange? Das war gestern. Die Bewegung interessierte sich weniger für die Richtung, als für die – Bewegung! Irgendwo wird sie schon hinführen, wenn die Karten neu gemischt werden – womöglich revolutionär?

Wie ich aus Kreisen gut unterrichter Spaziergänger sicher weiß, machen Rechtsradikale zur Zeit allenfalls 3% der spazierenden Demonstranten aus. Durch Fahnen überrepräsentiert sichtbar, machten solche Rechten seit 2020 immer nur eine kleine Minderheit der Masken- und Impfgegner aus. Indem sie sich zum Gruppenfoto auf die Stufen des Reichstags stellten, hatten sie den Staat und die Linke aber bis zum Äußersten gereizt. Bei diesen setzte das stringente Denken aus. Auf eine kohärente Ideologie kam es jetzt anscheinend nicht mehr an. Sie suchten die ihnen verhaßten Rechtsradikalen zu treffen, indem sie Schulter an Schulter mit ihren Genossen in der Regierung und den Medien die Impfgegner und Spaziergänger pauschal zu Rechtsextremisten erklärten und das Gegenteil von dem verkündeten, was die vermeintlichen Rechten fordern:

So schreien früher antiautoritäre Linke plötzlich nach einem starken Staat. O que mutatio rerum!

Für eine traditionelle sozialistische Konzeption ist eine Gesellschaft umso demokratischer, je weniger Macht für soziale Verhältnisse konstitutiv ist“

Ernesto Laclau / Chanal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie, 3.Aufl 2006, S.24.

Völlig verwirrt, fordern die bedauernswerten Linken heute den starken Staat, vor dem sie sich sonst immer gefürchtet haben. Sind sie gar – horribile dictu – präfaschistoid geworden?

Plötzlich fordern autonome Anarchisten staatliche Repression, erwärmen sich Mein-Bauch-gehört-mir-Feministen für die Parole „Mein Oberarm gehört dem Staat“. Die Linke erwärmt ihr Herz für kapitalistische Pharma-Großkonzerne, während bürgerliche Rechte den abscheulichen „Polizeiterror“ kritisieren.

Das ideologische Bäumchen-wechsel-dich ist perfekt. Wir dürfen den beteiligten Schauspielern applaudieren und uns auf den nächsten Akt freuen.

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„Querfront von linken Theoretikern und Rechtsradikalen“ ?

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Wie ein Marxist die Corona-Verschwörung „entlarvt“

  1. Uwe Lay

    Sehr gut analysiert!
    Eine kleine Ergänzung: Einst waren Linker ehrlicher, indem sie die „Diktatur des Proletariates“ erstrebten. Diese „Diktatur“ war faktisch ein totlitäter Staat. Nur
    solage die Linke in der Opposition ist, ist sie staatsfeindlich, freiheitsliebend, antiautoritär etc., an der Macht, halten sie es eher mit Machiavelli.
    Tatsächlich ist die Kritik der Maßnahmen der Regierung zur Eindämmumg des Coronavirus eine in der liberalen Ideologie fundierte und somit keine rechte.Aber die Medien verteufelten diese Kritikbewgung als „Rechte“, nicht weil sie wirklich „rechts“ war, sondern weil man sie so effektiv meinte bekämpfen zu können. Nun passierte aber etwas der Postmoderne Spezifisches. Die Medienwirklichkeit, die in der Moderne noch die Wirklichkeit, wenn auch manchmal verzehrt widerspiegelte, wurde selbst zur Wirklichkeit. Liberale Parolen Rufende meinen nun, wirklich rechts zu sein.
    Sie übernehmen so die ihnen von den Medien zugewiesene Rolle.

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