„Der sanfte Totalitarismus hat gesiegt“

Ein Nachruf auf die liberale Demokratie

„Der sanfte Totalitarismus hat gesiegt“. – Zu diesem für den „freien Westen“ vernichtenden Ergebnis gelangen die Autoren Kolja Zydatiss und Mark Feldon in ihrem neuen Buch „Interregnum – Was kommt nach der liberalen Demokratie?“ (Langen-Müller 2024, ISBN 978-3-7844-3706-4). In ihrer vernichtenden Verurteilung des Hyperliberalismus stimmen sie mit der Kritik aus rechter Sicht (Klaus Kunze, Staatsfeind Liberalismus, 2022) überein, überholen diese aber noch in ihren düsteren Zukunftsprognosen: Sie geben der realen „Pathologie des Linksliberalismus“ (S.307) keine Zukunfts-Chance mehr und fragen laut nach dem Danach.

Das Bemerkenswerteste an ihrem Buch ist, daß die Autoren keinesfalls Rechte sind. Zydatiss ist gesellschaftspolitischer Sprecher des liberalen Debatteninstituts „Freiblick-Institut“. An ihrer Sympathie für die Gedankenwelt eines „idealen“ Liberalismus lassen sie keinen Zweifel aufkommen. Ihr Entsetzen entspringt enttäuschter Liebe: Liberalismus – was ist nur aus dir geworden?

Die Autoren entwerfen zunächst süffisant ein idealisiertes Selbstbild des Liberalismus, um es dann anhand der „real existierenden liberalen Demokratie“ (S.15)  gnadenlos zu zerpflücken. Unter der Überschrift „Verfallsgeschichte“ berufen sie sich auf Norbert Bolz und Arnold Gehlen. Laut Literaturverzeichnis kennen sie auch Panajotis Kondylis Abhandlung über den „Konservatismus“. Damit verfügen sie über ein ausreichendes Instrumentarium, um die tieferen Gründe zu erkennen, die „Parawissenschaften wie antirassistische Mathematik“, „queere Philosophie“, antikapitalistische Klimawissenschaften“ oder „kritische Rechtswissenschaften“ den Weg bis in unsere Ministerien geebnet haben (S.18 f.)

Pathologie des unheilbaren Liberalismus

Sie zeichnen einen Weg des Liberalismus „von der Utopie zum Verfall“ und lassen kein Symptom ungenannt. Ihre Diagnose ist vernichtend: unheilbar! Die Erben umstehen schon das Sterbebett: sozial-Autoritäre, Neofaschismen und in den Startlöchern die neue Elite nicht mehr demokratisch legitimierter „Fachleute“ und Bürokraten.

Die Autoren schildern zwar umfangreich die Geschichte des Liberalismus. Entschieden zu kurz kommt aber ihre Analyse, warum sich aus den Gedanken der persönlichen Freiheit und bürgerlichen Gleichberechtigung ein Regime zunehmender Entmündigung entwickeln konnte.

Die Zweifel wachsen, daß sich mit den herkömmlichen politischen Instrumenten – Protesten oder Wahlen -noch spürbare Veränderungen bewirken lassen. Vor allem bei den Themen Klima, Islam und Migration scheint nur noch ein Kurs übrig zu bleiben, der von der breiten Mehrheit der Bevölkrung abgelehnt wird. Migrationskritische Bücher verkaufen sich millionenfach, populistische Parteien und Politiker gewissen Wahlen und bilden Regierungen, Hunderttausende gehen auf die Straße – und alles bleibt beim Alten. Wobei manches sich doch ändert. Etwa die Spanne dessen, was man noch sagen darf, ohne gefeuert, verbannt, verurteilt oder gar eingesperrt zu werden.

Zydatiss / Feldon, Interregnum, S.300 f.

Die EU-Bürokratie arbeitet an immer weiteren Regelungsmonstern wie dem Digital Services Act – aus unserer verfassungsrechtlichen Sicht schlechthin unannehmbar und “im Kern totalitär”.

Das „Selbstbestimmungsgesetz“, das „Netzwerksdurchsetzungsgesetz“ und andere Regelungen treten an die Stelle der einst unverbrüchlich garantierten liberalen Meinungsfreiheit. Die Autoren erwähnen die einzelnen Phänomene durchaus, ohne aber bis zu ihren strukturellen Gründen vorzustoßen. Sie erkennen richtig, daß das mehrdeutige Wort Liberalismus nicht nur als Synonym für die sogenannte pluralistische Gesellschaftsform und ihr Regierungssystem steht, die „parlamentarische Demokratie“. Zunächst bezeichnet Liberalismus aber

trotz seiner langen, unangefochtenen Hegemonie eine Ideologie wie der Kommunismus oder der Faschismus [und ist] nicht notwendigerweise der natürliche Endpunkt der menschlichen sozialen und politischen Evolution.

Zydatiss / Feldon, S.334 f.

Seine „Steigerungsform“ sei der Hyperliberalismus. Er führt zu

einem utopischen Liberalismus ohne Grenzen, der seine eigenen Voraussetzungen auflöst und so dem endgültigen Niedergang der westlichen Zivilisation, einem neuen Totalitarismus oder etwas ganz anderem den Weg bereitet. Es steht viel auf dem Spiel.“

Zydatiss / Feldon, S.334 f.

Hier hätte dem Buch eine tiefere Reflexion gutgetan, warum sich aus dem harmlosen Wertbegriff „liberal“ ein extremistischer Hyperliberalismus entwickeln konnte, so wie sich aus dem wohlklingenden „sozial“ ein menschenverachtender Sozialismus gebildet hatte. Jeder verabsolutierte Wertbegriff führt nämlich zu einer Zwangsherrschaft, wenn man ihn zum alleinigen Maßstab einer utopischen Idee erhebt. Jedem Wertbegriff und jedem Wertprinzip ist der Alleingeltungsanspruch in die Wiege gelegt. Geht man mit Prinzipien nicht pragmatisch um und wägt sie nicht mit anderen ab, ist ein Totalitarismus unausweichlich.

Der Weg vom Staat des Grundgesetzes in einen neuen Totalitarismus der Gesinnung war bereits Gegenstand vieler Analysen (hier:
Totalitarismus kommt auf leisen Sohlen, Vom Staat des Volkes zum Gesinnungsstaat,
ISBN 978-3-98987-001-7,
Herausgeber Die Deutschen Konservativen, Hamburg.)

Entgegen der alten liberalen Legende, Liberalismus sei geradezu Ideologielosigkeit, ist die liberale Ideologie von verschiedenen Autoren gründlich untersucht und analysiert worden. Daß schon die Parole „Keine Freiheit den Feinden der (liberalen) Freiheit!“ das Lagertor zur Unfreiheit öffnet, weist die Widersprüchlichkeit liberaler Dogmatik bereits in sich selbst auf.

Dem Liberalismus eingeborene Repression

Die Repression nach innen ist dem liberalen Staat angeboren. Findet er draußen keinen Feind mehr, sucht er ihn im Innern, und wenn das nicht hilft, handelt er aggressiv nach außen. Zydatiss und Feldon beschreiben auf vielen Seiten die Phänomenologie der zunehmenden Unterdrückung abweichender Ansichten.

Sollte der Hyperliberalismus weiter hegemonial bleiben, wird ihm das nur gelingen, wenn er die repressiven Tendenzen verstärkt.

Zydatiss / Feldon, S.330.

Aus welchen strukturellen Gründen die „liberale Demokratie“ immer repressiver wird, stellen die Autoren nicht zusammenhängend dar. Der Leser mag es sich aus verstreuten Ansätzen selbst zusammenreimen: Liberale Einwanderungsgesellschaften in den früheren industriellen Wohlstandsländern üben einen starken Sog auf angeblich Zukurzgekommene aller Herren Länder aus. Ihr ins Chaotische tendierender innerer Pluralismus macht sie aber instabil: „Vielfältige Gesellschaften sind, anders als das zentrale Mantra will, nicht „stark“. Sie sind vielmehr tribalistisch und instabil (Zydatiss / Feldon, S.117).

Darum muß die Repression gesetzmäßig steigen, je mehr heterogene Elemente ein Staat aufnimmt, die ihn prinzipiell ablehnen.

Mit der zunehmenden Dekonstruktion der klassischen und christlichen Quellen schafft der Liberalismus den Hobbes’schen Urzustand, das Ensemble bedingungsloser Individuen, dem er eigentlich entkommen wollte. Und in einer letzten bitteren Ironie muß der Mensch im Liberalismus erkennen, daß immer mehr Gesetze, Behörden und Repression nötig sind, um ein System zu steuern, das ursprünglich antrat, die Macht des Staates zu begrenzen, ihn durch Gewaltenteilung und Verfassung zu binden.

Zydatiss / Feldon, S.71.

Ausblick

Die Hälfte ihres Buches widmen die Autoren den „Antipoden des Hyperliberalismus“, vorwiegend autoritären Regierungsformen mit zweifelhafter demokratischer Legitimation. So werden heute Staaten wir Singapur semidiktatorisch geführt. Eine alle Lebensbereiche regelnde Obrigkeit weiß, was am besten für die Singapurer ist. Diese lassen sich das gefallen, weil es ihnen dabei gut geht.

Für die Autoren besteht kein Zweifel, daß der Liberalismus immer schneller die mentalen Voraussetzungen zerstört, von denen er lebt: mündige, selbstverantwortliche Bürger. Im „Monstrum sui generis“ (so hatte einst Pufendorf das Hl. Röm. Reich genannt) der Europäischen Union ist bereits der Löwenanteil an Regelungen und Entscheidungen nicht mehr demokratisch rückgebunden. Es führt keine demokratische Legitimationskette hinauf in die EU-Bürokratie. Bei ihrem weiten Blick in die Zukunft und ihrer umfangreichen Darstellung der potenziellen Erben des Liberalismus hätten die Autoren allerdings bei Ernst Jünger fündig werden können:

Wir leben in einem Zustand, in dem die alten Bindungen seit langem verloren gegangen sind, kurz ausgesprochen in einem Zustand der Anarchie. Es herrscht kein Zweifel darüber, dass dieser Zustand nach Änderung verlangt. Verschieden sind die Auffassungen dagegen hinsichtlich der Mittel, durch welche eine neue Stabilität geschaffen werden soll. Wenn wir die Mauretanier aus dem Spiel lassen, die eine Praxis entwickeln, nach der man in der Anarchie und durch sie florieren soll, so bleiben zwei große Schulen, von denen die eine das Leben nach unten, die andere es nach oben ausrichten will.

Ernst Jünger, Heliopolis, 1950, S.175.

Jünger bettete seine Prognose in eine Romanhandlung mit fiktiven Orten und Namen ein. In seiner Weitsicht nannte er schon in dem 1949 abgeschlossenen Manuskript den totalen, undemokratischen „Insektenstaat“ als eine von zwei Zukunftsmöglichkeiten:

Die erste, sich in Heliopolis sich um den Landvogt und sein Zentralamt sammelnd, stützt sich auf die Trümmer und Hypothesen der alten Volksparteien und plant die Herrschaft einer absoluten Bürokratie. Die Leere ist einfach: sie sieht den Menschen als zoologisches Wesen und faßt die Technik als das Mittel, das diesem Wesen Form und Macht verleiht, es auch am Zügel hält. Sie ist ein in das Rationale gesteigerter Instinkt. Infolgedessen zielt ihr Bestreben auf die Bildung von intelligenten Insektenstaaten ab. Die Leere ist sowohl im Elementaren wie auch im Rationalen gut gegründet, und darin liegt ihre Macht.

Ernst Jünger, Heliopolis, 1950, S.175.

Die andere Möglichkeit und einen möglichen Ausweg beschrieb Jünger so:

Die zweite Schule ist die unsere; sie gründet sich auf die Trümmer der alten Aristokratie und der Senatspartei und wird vertreten durch den Prokonsul und den Palast. Der Landvogt will außerhalb der Geschichte ein Kollektiv zum Staat erheben; wir streben eine historische Ordnung an. Wir wollen die Freiheit des Menschen, seines Wesens, seines Geistes und seines Eigentums, und Staat nur insofern, als diese Güter zu schützen sind. Daraus ergibt sich der Unterschied unserer Mittel und Methoden zu denen des Landvogts. Er ist auf Nivellierung angewiesen, auf Atomisierung und Gleichmachung des menschlichen Bestandes, in dem abstrakte Ordnung herrschen soll. Bei uns hingegen soll der Mensch der Herrscher sein. Der Landvogt strebt die Perfektion der Technik, wir streben die Perfektion des Menschen an.

Ernst Jünger, Heliopolis, 1950, S.176.

Freilich zeigte sich Jünger mit diesen Worten selbst ein wenig – liberal: urliberal.

Zurück

Bis hierher müßt ihr glauben

Nächster Beitrag

Der rabiate Totalitarismus

  1. Uwe Lay

    Mit dem heuigen Verbot des Compact-Magazines und seiner Internetseite zeigt sich, wie recht dieser Artikel hat, nur daß das Ende der “lieralen Demokratie” viel rabiater und wenig subtiel durchgeführt wird. Der Verfassugsschutz markiert nicht genehme Medien als rechtsxtremistisch und die Regierung verbietet sie dann ganz einfach. Sollte der Leiter des Verfassugsschutzes nicht der Regierung genehm arbeiten, kann sie ihn entlassen, arbeitet er gut,liefert er die Legitimationen zum Verbot von allem Nichtregierungsgenehmen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Präsentiert von WordPress & Theme erstellt von Anders Norén