Seit Ende des 17. Jahrhunderts sind Juden in Bodenfelde an der Weser nachweisbar.[1] Ihre Anzahl hat sich durch Zuzug wesentlich erhöht, seit auf die Eroberungszüge Napoleons die Gründung des „Königreichs Westphalen“ unter dessen Bruder Jerome folgte und frühere Zuzugsbeschränkungen wegfielen. Weggefallen waren damit auch alte Verbote für Juden, bestimmte Berufe auszuüben. Gleichwohl waren und blieben alle Bodenfelder Juden, soweit das anhand der Quellen festgestellt werden kann, Händler oder Kaufleute.
Von einer Taufe eines Juden berichtet das Kirchenbuch Bodenfelde nur einmal: „Am 2.8.1818 ist der Israelit Bar Isaak mit dem Zunamen Mannsberg nach ergangenem Unterricht bei dem Herrn Pastor und in Gegenwart einer zahlreichen Versammlung öffentlich getauft worden, alt 23 Jahr – Zeugen bei dieser Handlung waren Herr Bippart Inhaber der Spiegelhütte Amelith, Herr Assessor Salfeld zu Nienover, Herr Dr. Lutz zu Uslar Herr Pastor Görk zu Lippoldsberg und Herr Kaufmann Fischer daselbst, Herr Factor Wessel ebendaselbst, Herr Gestütmeister Rente in Neuhaus. Es wurde unter den Zeugen der Name Johannes Ludwig Georg Carl Philipp Conrad mit dem sonstigen Zunamen Mannsberg beigelegt.“[2]
Die größer werdende jüdische Gemeinde benötigte Rabbiner. Diese entstammten ebensowenig Bodenfelder Familien wie die evangelischen Pfarrer. Wie diese hatten sie eine Ausbildung zu absolvieren und wurden in den Ort berufen, ohne hier lebenslang zu bleiben. Sie prägten das geistige Klima, in dem jüdische Kinder die jüdische Schule besuchten und aufwuchsen.
Am Ende des 18. Jahrhunderts hatte sich der Jude Benjamin Meier aus Braunschweig in Bodenfelde angesiedelt. Familiennamen hatten die Juden bis dahin nicht. Sie führten hintger ihrem Vornamen den Vornamen des Vaters. Dieses patronymische Namenssystem gab es bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch in Ostfriesland. Als Napoleons Dekret vom 18.8.1811 die Annahme fester Familiennamen erzwang, wurden sie auch in Ostfriesland und bei den Juden angenommen. Benjamin Meier nahm den Namen Freudenthal an, ein anderer Bodenfelder Jude den Namen Kahlberg. Freudenthal ist der Name der Schloßruine im nahen Uslar und der Kahlberg eine Bodenfelder Örtlichkeit.
In einer Bodenfelder Aufstellung der ansässigen Juden finden wir 1814 Benjamin Meier, jetzt Freudenthal, mit Frau und 5 Kindern, nährt sich vom Handel und Schlachterei.[3]
Benjamins Sohn Abraham, später Abraham Freudenthal, wurde am 29.5.1795 geboren und ist noch 1861 als Handelsmann im Ort erwähnt.[4] Mit seiner dritten Ehefrau Frommet Eckstein zeugte er als sechstes von zehn Kindern den am 20.6.1839 in Bodenfelde geborenen Jacob Freudenthal.[5]
Jacob verlebte seine Kindheit in Bodenfelde und besuchte hier die jüdische Schule. Diese befand sich 1834 „in dem alten, jetzt verfallenen Amtshause.“[6] 1846 war Lehrer Calman Katzenstein, 1850-1852 Louis Adam[7], 1852-1868 H. Block aus Hildesheim, der auch schächtete. 1859 bemängelte der Landrabbiner Landsberg die unregelmäßige Verteilung der einzelnen Unterrichtsfächer, weil Block überwiegend sonntags Religion gab, an den übrigen Tagen zusammen aber nur insgesamt neun Stunden Religion.“[8]
Jacob Freudenthal besuchte die Bodenfelder Schule ab seinem fünften Lebensjahr regelmäßig.[9] 1855 verließ er sie und trat „in das Gymnasium des Jüdisch-theologischen Seminars in Breslau ein. Sein Berufswunsch war ursprünglich auf das Rabbineramt gerichtet gewesen, doch lenkte Jacob Bernays (1824-1881), der in Breslau zu den Lehrern zählte, sein Interesse auf die Klassische Philologie. Im Jahre 1858 legte Freudenthal die Maturitätsprüfung am Gymnasium in Hannover ab, um anschließend das Studium der (evangelischen) Theologie, Philosophie und Philologie an den Universitäten Breslau und Göttingen aufzunehmen.“[10]
Als Professor der Philosophie veröffentlichte er viele Bücher, und sein akademischer Lebensweg ist lang, liest sich spannend aber nur für Fachleute, ist gut dokumentiert und publiziert und muß hier nicht wiederholt werden. Freudenthal starb schließlich in Schreiberhau in Schlesien am 1.6.1907. Uns interessiert, was wir aus seinem Leben und seinen Schriften über ihn selbst erfahren, über seine Jugend in Bodenfelde, sein Elternhaus und die Juden in Bodenfelde, als deren berühmtester Vertreter er hervorgegangen ist.
Jacob Freudenthal selbst ermöglicht uns tiefe Einblicke in seine Jugend, seine eigene Einstellung und die Triebfedern seines Denkens in seinem 1904 erschienenen Buch[11] über den Philosophen Baruch Spinoza[12]. Seinem Buch voran stellt er ein Zitat Spinozas
Umso leichter werden wir Jemandes Worte erklären können, je besser wir sein Wesen und seinen Geist kennen.
(Spinoza, theolog.-politischer Traktat VII, 24)
Wir dürfen den Satz umdrehen: Wir wollen Freudenthals Wesen und seinen Geist in seinen hinterlassenen Worten und Werken kennenlernen. „Sage mir, wer dein Held ist, und ich sage dir, wer du bist!“, Wenn wir nach dieser Methode lesen, wie Freudenthal das Leben Spinozas schildert, erfahren wir alles über Freudenthal, was wir wissen wollen. Er hat Spinoza offen verehrt und grenzenlos bewundert:
Er wird immer Bewunderung und Verehrung bei denen finden, die sich ohne Vorurteil dem Zauber seines Wesens hingeben.[13]
Seine wissenschaftliche Ausbildung ist es gewesen, die ihm den Glauben der Kindheit erschütterte und den frommen Anhänger der Bibel und des Talmuds zum freiesten Denker des 17. Jahrhunderts machte.[14]
Jakob Freudenthal über Spinoza
Wer das „freien Denken“ mit solchen Worten dem „frommen Anhängen“ entgegensetzt, bezieht damit für sich selbst eine klare Position. Auch Freudenthal brachte aus seiner Bodenfelder Kindheit frommen Glauben mit und praktizierte diesen als gläubiger Jude. Bis in die Jahre als Breslauer Dozent hielt Jacob Freudenthal die rituellen Vorgaben gewissenhaft ein. Ursprünglich hatte er Rabbiner werden wollen. Seine „Einstellung zur jüdischen Religion war zunächst von einer engen, auch familiengeschichtlich geprägten Bindung bestimmt. Mit der Übernahme der Universitätsprofessur scheint ein Wandel eingetreten zu sein. Die Mehrzahl der Kinder ließ sich mit Einwilligung des Vaters taufen.“[15]
1863 hatte Freudenthal in Göttingen promoviert mit einer Arbeit „Über den Begriff des Wortes „phantasia“ bei Aristoteles“. 1874 habilitierte er sich an der Universität Breslau mit einer Untersuchung zur hellenistischen Geschichtsschreibung. Dieses wissenschaftliche Arbeiten brachte ihn, ebenso wie sein bewundertes Vorbild Spinoza, in einen unüberbrückbaren Widerspruch zu den Geboten und Lehren des mosaischen Glaubens. Wenn sich die meisten seiner Kinder „mit seiner Einwilligung“ taufen ließen, belegt das die geistige Athmosphäre des Freudenthal’schen Elternhauses, in dem offenkundig keine Orthodoxie vorherrschte.
Das wäre auch bei der innigen Aneignung Spinozas kaum möglich gewesen, denn dessen Lehren waren mit orthodoxem Judentum ebenso unvereinbar wie mit irgendeiner monotheistischen Orthodoxie, trafen sie doch ins Zentrum des religiösen Gottesglaubens[16] ebenso wie ins Mark staatlicher Legitimierung von Herrschaftsansprüchen.[17] Das brachte Spinoza zu Lebzeiten Verfemung und Ablehnung, aber zugleich einen bleibenden Platz in der Philosophiegeschichte ein.
Vollkommen war Freudenthal sich als intimer Spinoza-Kenner im klaren, daß der Text der Bibel durch Überlieferung vielfach verändert und „verderbt“ worden ist.
Von solcher Annahme aber war nur ein Schritt bis zur Leugnung der Lehre, die als Grundlage des orthodoxen Judentums gilt, nämlich daß der Pentateuch auf göttliches Geheiß von Moses geschrieben sei.[18]
Die Phasen dieser Entwicklung sind zugleich die seiner Ablösung vom Judentum. Seine biblischen Studien haben ihn zuerst in den Konflikt zwischen Glauben und Wissen gestürzt, der wenigen Denkern erspart geblieben ist, seitdem es eine Philosophie und eine Wissenschaft gibt.
Freudenthal hatte damit auch für sich persönlich den entscheidenden Rubikon überschritten: Wenn „die Schrift“ nicht mehr die heilige ist, wenn die Wahrheit dessen infrage steht, was sie offenbart, weil sie nur unvollkommenes Menschenwerk ist, dann ist einer Offenbarungsreligion die Grundlage entzogen. Darum reagieren noch heute orthodoxe Moslems so gereizt, wenn bezweifelt wird, der Koran sei von einem Mohammed persönlich auf Geheiß Allahs verfaßt.
Freudenthal schildert uns den Weg Spinozas vom gläubigen Juden zum wissenschaftlichen Denker mit offensichtlichen autobiographischen Anspielungen auf sich selbst:
Je tiefer er in den Geist der jüdischen Literatur eindrang, desto ernstere Zweifel wurden in ihm wach, und desto mehr gewöhnte er sich, Glaubensansichten, die seiner Umgebung als unumstößlich galten, für unhaltbare Vorurteile anzusehen und abzuwerfen. An die früher erwähnten Fragen und Einwürfe, zu denen die Lehrer selbst ihre Schüler anregten, schlossen sich Bedenken schwer wiegender Art, die ihn der Theologie entfremdeten und schließlich einen offenen Bruch mit der Religion seines Volkes herbeiführten.[19]
Freudenthal. a.a.O. S.51
Hat man das kritische Denken aber erst einmal gelernt, wird es zur Angewohnheit, die man nicht mehr ablegen kann. Jacob Freudenthal folgte der rational geprägten Denkweise Spinozas, mit der es kein Zurück zu irgendeiner Buchreligion gibt. Viele in Deutschland lebende Juden vollzogen diesen Schritt für sich nach und wurden Wortführer der Aufklärung, geistig verbunden mit Deutschen, die unter demselben Vorzeichen ihrer christlichen Religion Lebewohl sagten.
Es lag in der Konsequenz der Wende Jacob Freudenthals zur Aufklärung, daß sein Sohn Berthold diesen Weg weiterging. 1869 hatte Jacob Freudenthal mit Therese Sachs geheiratet.[20] Der Sohn Berthold wurde am 23.8.1872 in Breslau geboren und starb am 15.7.1929 in Frankfurt am Main als liberaler Professor für Strafrecht. Er trat für spezielle Jugendgerichte und Jugendgefängnisse ein und begründete einen Weg, der in unsere heutige Jugendgerichtsbarkeit und zum Leitgedanken der Erziehung im Jugendstrafrechte führen sollte.
Anhang (aus dem Ortssippenbuch Bodenfelde, Familie Nr. 1136):
Erstveröffentlichung in: Sollinger Heimatblätter 4 / 2014 und 1 / 2015.
[1] Kopfsteuerbeschreibung des Herzogtums Calenberg 1689: Jude Samuel Hecht, sitzt in Haft, Ehefrau Lipröken, Kinder: 1. Schönchen 10 Jahr, 2. Röchelgen 8J., 3. Freugen 4½J., 4. Amsel 3J., 5. Saustmann 1J.
[2] Das Kirchenbuch nennt ihn demnächstigen Hokenhändler in Lauenförde, wohin er nach Heirat mit Philippine Caroline Seitz (25.4.1819) verzog.
[3] Detlev Herbst, Jüdisches Leben im Solling, Der Synagogenverband Bodenfelde-Uslar-Lippoldsberg und die Synagogengemeinschaft Lauenförde, Uslar 1997, S.39 nach einer hann. Bestandsaufnahme der im Lande lebenden Juden..
[4] Herbst a.a.O., S.57 nach Urliste der Einwohner vom 3.12.1861 (Archiv Bodenfelde).
[5] Über J. Freudenthal wurde der vorliegende Aufsatz am 7.2.2011 im Internet erstmals publiziert. In den Sollinger Heimatblättern 2 / 2011 erschien später ein offenbar 1964 verfaßter Aufsatz von Fritz Scholz über J. Freudenthal: Ein vergessenes Grab in Bodenfelde. Scholz hatte damals noch Kontakt mit Margarete Sallis-Freudenthal in Nathanya, Israel, aufnehmen können, die ihm „einmaliges Material über ihren Schwiegervater“ zur Verfügung stellte. Worum es sich dabei handelte und wo es sich befindet, ist mir nicht bekannt.
[6] H.D. Sonne, Königreich Hannover, 5.Buch München 1834, S.61-62.
[7] Louis Adam *Borek in Polen 1815.
[8] Herbst a.a.O., S.86 f.
[9] Herbst a.a.O., S.89.
[10] Matthias Wolfes, Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon.
[11] Jacob Freudenthal, Spinoza, Sein Leben und seine Lehre, 1.Bd. Stuttgart 1904.
[12] Baruch Spinoza (1632-1677) entstammte einer jüdischen Familie aus Spanien und lebte in Holland. Seine philosophischen Schriften sind fester Bestandteil der Epoche der Aufklärung und einer ihrer tragenden Bausteine.
[13] Jacob Freudenthal, Spinoza, Sein Leben und seine Lehre, 1.Bd. Stuttgart 1904, S.317.
[14] Jacob Freudenthal, Spinoza, Sein Leben und seine Lehre, 1.Bd. Stuttgart 1904, S.51.
[15] Matthias Wolfes, a.a.O.
[16] Für Spinoza ist Gott keine Person, sondern die Gesamtheit des in sich kohärenten Universums (die Spinoza als „die Substanz“ bezeichnet). Bezeichnend: „Dieses ewige und unendliche Wesen, das wir Gott oder die Natur heißen, handelt mit derselben Notwendigkeit, mit der es existiert…“ [Baruch Spinoza, Ethik, 1677, Hrg. Otto Baensch, Neusatz nach der Ausgabe von 1910, o.J., Verlag F. Meiner in Leipzig, IV (Vorrede), S.187]. „Diese Auffassung […] läuft auf die These hinaus, Gesetzmäßigkeiten und Gott bzw. Natur würden zusammenfallen“ (Panajotis Kondylis, Die neuzeitliche Metaphysikkritik, Stuttgart 1990, S.224 m.w.N.). Damit ist „Gott“ im Sinne der monotheistischen Religionen funktionslos geworden und für das praktische Leben irrelevant.
[17] Für Spinoza hat der Staat nur die Macht, den Menschen zu befehlen, was sie tun müssen oder nicht dürfen, aber „er hat kein Recht, zu bestimmen, was recht oder unrecht ist, was fromm und gottlos ist“ (Spinoza, Theologisch-Politische Abhandlung, Politische Abh. Kap. 3, § 5). Durch diese Reduktion der Staatsgewalt auf die faktische Herrschaftsmacht entzieht er jedem weitergehenden normativen (ideologischem oder religiösem) Herrschaftsanspruch die Grundlage. Vgl. auch Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, Uslar 1998, S.91.
[18] Freudenthal, a.a.O., S.52.
[19] Freudenthal, a.a.O., S.51.
[20] Therese Sachs (1847-1910), Tochter von Michael Sachs (1847-1867), Rabbiner in Berlin.
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