Euphemismus als Mittel der Staatspropaganda

„Befreien Sie die ganze Welt!“, so lautet eine Aufgabe für einen Mitspieler in einem Gesellschafts-Brettspiel. Den augenzwinkernden Euphemismus „Befreiung“ statt der an sich gemeinten „Eroberung“ versteht jeder.

Euphemismen sind wohlklingende Phrasen zur Verschleierung der Wahrheit. Manchmal will oder sollte man mit salbungsvollen Worten verschleiern, was eigentlich geschieht. Nach ihrer moralischen Salbung erstrahlte so manche historische Untat als Heldentat.

Wer sich einem Patienten mit einer Todesspritze nähert, „erlöst“ ihn angeblich nur von seinem Leiden, wer Menschen zu Erschießungen zusammentreibt, „säubert“ ein Land, wer einmarschiert, „befreit“ es – alles völlig klar. Menschliche Tabubrüche darf man nicht offen beim Namen nennen, sie müssen hinter einem rechtfertigenden Begriffsnebel verschwinden. Er soll auch das eigene schlechte Gewissen verstummen lassen und mit gutem ermöglichen, was man sonst vielleicht lassen würde.

Kriege gelten als moralisch besonders fragwürdig und sind unbeliebt sowohl im Land der Angreifer als auch bei den Angegriffenen. Um den Eltern und Ehefrauen der ins Feld ziehenden Soldaten einen Feldzug schmackhaft zu machen, kann Staatspropaganda alle Register ziehen. Als Papst Urban am 27. November 1095 mit den Worten „Gott will es!“ zur Eroberung Jerusalems aufrief, sollten „die heiligen Stätten der Christenheit befreit“ werden. Heilige Kriege galten immer als gerechtfertigt, weshalb gewöhnlich jeder Krieg ausgerufen wurde, um irgendwelche heiligen Sachen oder Rechte zu verteidigen.

Als später tatsächlich Kreuzritter Jerusalem eroberten, befreiten sie die Bewohner tatsächlich von ihrem Unglauben, und zwar, indem sie alle über die Klinge springen ließen. Nicht jeder Kreuzzug für Recht und Gerechtigkeit gelang, auch wenn die Propagandamühlen immer liefen. Als die französischen Revolutionäre Tausende von Adligen und Geistlichen umbrachten und ihre Königsfamilie einsperrten, erließ der Herzog von Braunschweig am 25.Juli 1792 ein Manifest an die Pariser Bevölkerung. Sie sollten ihrem König nichts zuleide tun und sich ihm wieder fügen, sonst werde man mit kriegerischen Mitteln Recht und Gerechtigkeit in Paris wiederherstellen.

Der nachfolgende Koalitionskrieg ging für die Verbündeten allerdings fatal aus, und bald standen französische Truppen am Rhein. Sie plünderten Köln bis aufs Hemd aus, machten aus dem Dom einen Pferdestall und feierten auf dem Neumarkt unter einem Freiheitsbaum die „Befreiung“ der Kölner. Als freie Reichsstadt hatte sich die Stadtrepublik Köln allerdings seit dem Mittelalter selbst regiert, so daß die Befreiung der Kölner nur eine „Befreiung von sich“ selbst war, also eine schlichte Eroberung.

„Freiheitsbaum“ in Köln unter französischen Bajonetten 1794

Bald darauf bekamen die Nachfolger der heute noch als Rote Funken bekannten vormaligen Stadtsoldaten französische Uniformen und durften ganz „befreit“ nach Rußland marschieren. Jenes Land, fand Napoleon, war noch nicht befreit. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit waren unter dem Zaren ebensowenig verbreitet wie Gehorsam gegenüber Napoleon. Leider zündeten die Russen lieber 1812 Moskau an, als sich befreien zu lassen. Das Ende der Geschichte ist bekannt.

Nach dem fehlgeschlagenen Koalitionskrieg gegen die Revolutionäre bot sich für uns Deutsche 1812 endlich die Chance, auch einmal jemanden zu befreien. Im Befreiungskrieg gegen Frankreich befreiten sie sich erst selbst von der napoleonischen Tyrannei. Dann ging es unter Marschall Vorwärts, wie Blücher liebevoll genannt wurde, siegreich nach Frankreich hinein, wo man die Franzosen von Napoleon befreite. Die wollten freilich nicht recht und verteidigten sich bis auf Blut, doch endlich wurden sie von sich selbst befreit, nachdem preußische Truppen am 31. März 1814 in Paris einmarschiert waren und die geklaute Quadriga des Brandenburger Tors zurückerobert hatten.

Warum nur haben sich alle Befreiten immer mit Händen und Füßen gegen ihre Befreiung gewehrt? Warum wollten man in Paris partout napoleonisch bleiben und nicht befreit werden? Warum waren die jüdischen und moslemischen Bewohner Jerusalems 1099 so verstockt und wollten sich nicht befreien lassen? Warum hielten die Deutschen 1945 so zusammen und wehrten sich mehrheitlich bis zur letzten Stunde gegen ihre Befreiung, vor allem im Osten?

Warum hängen so viele Menschen an ihrem Leben und mißachten den höchsten Wert der sittlichen Weltordnung? Die Juden und Moslems 1099 in Jerusalem, die Moskauer 1812, die Pariser 1814, die Deutschen 1945: Warum wollten sie alle ums Verrecken nicht einsehen, daß sie um höchstedler Ziele willen befreit werden mußten, koste es, was es wolle, und sei es ihr Leben? Zählte denn in den Augen Verblendeter die Befreiung der heiligsten Stätten der Christenheit 1099 gar nichts, noch weniger Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für die Moskauer und die Befreiung von der Tyrannei Napoleons für die Franzosen 1814 und der Hitlers für die Deutschen 1945?

Wenn sie überhaupt darüber nachdachten, könnten die niedergemetzelten Juden 1099, die hungernden Moskauer 1812, die belagerten Pariser 1814 und die massenhaft ermordeten Deutschen 1945 das Wort Befreiung für höhnische Kriegspropaganda gehalten haben, für einen reinen Euphemismus. Sie hätten das sofort als Feindpropaganda erkannt. Erst in den Schulbüchern von Besiegten findet sich dann die Kriegspropaganda der jeweiligen Sieger wieder. Kindern kann man viel erzählen, sie waren ja nicht dabei. Es dauerte 40 Jahre, bis sich ein Staatspropagandist in Deutschland in die Bütt stellte und uns erzählte, wir seien 1945 befreit worden, ohne dabei zu lachen.

Durch militärisch sinnlose Flächenbombardements ziviler Stadtzentren bis kurz vor der Kapitulation verübten die Alliierten schwere Kriegsverbrechen.

Staatspropaganda ist immer auch ein Mittel der eigenen Herrschaftslegitimierung. So diente der Topos vom 8. Mai als Tag der Befreiung in der DDR zur Legitimierung der SED-Diktatur.

Der 8. Mai ist der Tag, an dem die Wehrmacht kapituliert hat, und die Bezeichnung „Tag der Kapitulation“ war bis zur rede von Bundespräsident Weizsäcker am 8.Mai 1985 in Westdeutschland allgemein üblich; bis dahin wurde nur in der DDR vom „Tag der Befreiung“ geredet.

Dietrich Murswiek, Verfassungsschutz und Demokratie, 2020, S.166

Tatsächlich durften sich die überlebenden Kommunisten in Deutschland am 8. Mai 1945 befreit fühlen. Sie wurden insbesondere frei in ihrer Absicht, eine Diktatur des Proletariats nach sowjetischem Vorbild zu errichten. Diesen Planung verwirklichten sie mit Gründung der DDR. In Westdeutschland wurden sie hingegen durch das KPD-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17.8.1956 verboten.

Deutschland sei 1945 befreit worden, ist aber eine Verhöhnung seiner Millionen Opfer von grausiger Komik. Auf so etwas mußte erst mal jemand kommen. Besonders Politiker haben von der Pike auf gelernt, Menschen zu täuschen und sich so in der Machthierarchie hochzuarbeiten.

Eine der wichtigsten Funktionen der Staatsmänner besteht demnach in der Umtaufung der Dinge, welche die Massen mit ihren alten Ausdrücken nicht ertragen können, mit populären oder wenigstens neutralen namen. So groß ist die Macht der Worte, daß man die verhaßtsten Dinge nur mit gut gewählten Namen zu versehen braucht, um sie den Menschen annehmbar zu machen.

Gustave Le Bon, Psychologie der Massen, 1895 (2016 S.101).

Zum Zeitpunkt der alliierten Kriegsverbrechen durch die Flächenbombardierungen ziviler deutscher Innenstädte und beim Überschreiten der Reichsgrenzen fühlte sich kein alliierter Soldat als Befreier. Das war ihnen ausdrücklich verboten. Als 1945, vor und noch lange nach der Kapitulation am 8. Mai, zwei Millionen deutsche Zivilisten in Ostdeutschland ermordet wurden, als in Berlin Millionen von Frauen bestialisch massenvergewaltigt wurden, als in Treuenbrietzen am 8. Mai rund tausend Alte, Frauen und Kinder ermordet wurden, als in Freudenstadt marokkanische Soldaten in französischen Uniformen Massenvergewaltigungen verübten, wollte niemand aller dieser Täter und Kriegsverbrecher irgend jemanden in Deutschland befreien. Es ging darum, Deutschland und die Deutschen als Feind zu vernichten, um nichts sonst.

Der körperlichen Ermordung und Vernichtung konnte dann in einem lang andauernden Prozeß die psychische und moralische Vernichtung folgen. Diese besteht darin, Vaterlandsliebe und den Lebenswillen der Deutschen als eigenständiges Volk zu brechen, sie zu bewegen, ihren Besiegern für die „Befreiung“ dankbar zu sein und ihnen einzureden, sie seien bis in alle Ewigkeit verantwortlich. Clausewitz schrieb, der Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Manchmal in der Weltgeschichte ist aber auch ein Frieden die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.