Nicht das Leben ist der höchste Wert unserer Verfassung

In der Schlacht bei Kolin am 18. Juni 1757 soll Friedrich der Große seinen wankenden Grenadieren zugerufen haben: „Hunde, wollt ihr ewig leben?“ Das menschliche Leben, auch sein eigenes, galt dem Preußenkönig nicht als höchster Wert. Ihm waren der Eid und die Pflichterfüllung wichtiger.

Politisch überdauerte diese Haltung die Zeiten und drückte sich im heroischen Realismus in der Formulierung aus: Es kommt nicht darauf an, daß wir sterben, sondern, wie wir leben!

Es mag viele überraschen, daß das menschliche Leben im Gefüge unseres Grundgesetzes nicht der höchste Wert ist. Dieser ist vielmehr die menschliche Würde. Andernfalls wäre es unerklärlich, daß unser Staat eine Armee unterhält, die Soldaten in den militärischen Einsatz und damit manchmal in den Tod schickt.

Das 1. preußische Bataillon der Leibgarde in der Schlacht von Kolin. Historiengemälde von Richard Knötel (1854–1914)

Der scheidende Präsident des Bundesverfassungsgerichts hat das in einem heute veröffentlichten Interview mit den Worten bekräftigt:

„Was Herr Schäuble gesagt hat, ist aus juristischer Sicht richtig. Der Höchstwert der Verfassung ist die Menschenwürde, die ist unantastbar, alle anderen Grundrechte sind einschränkbar, auch das Recht auf Leben.“

Andreas Voßkuhle, Die WELT online 13.5.2020

Darum kann der Staat als Solidargemeinschaft von seinen Bürgern im Ernstfall und im Extremfall sogar verlangen, ihr Leben für andere zu riskieren. Verfassungsrechtlich ist der Staat nicht verpflichtet, jeden Menschen vor dem Tod oder dem Sterberisiko zu beschützen. Er darf zum Beispiel von besonders durch Corona-Ansteckung gefährdeten Menschen erwarten, daß sie zu ihrem eigenen Schutz beitragen. Er darf Betreuern Hilfloser abverlangen, diese nach Möglichkeit zu schützen. Er ist aber nicht verpflichtet, zum Schutz des Lebens jedes Einzelnen die ganze übrige Gesellschaft und deren halbe Wirtschaft lahmzulegen.

Nachdem Flugzeuge mit Attentätern am 11.9.2001 in das Welthandelszentrum in New York gerast waren, war in Deutschland eine heftige Diskussion entbrannt, ob unser Staat in solch einem Fall ein Flugzeug abschießen dürfte. Im Flugzeug säßen dann Unschuldige, das war das Problem. Der Bundestag erließ ein Gesetz, welches den Abschuß erlaubte. Das Gesetz wurde vom Bundesverfassungsgericht damals wieder einkassiert.

Die Diskussion darum ging aber weiter. Würde es in die Menschenwürde der unschuldigen Passagiere eingreifen, wenn sie mitsamt der vielleicht auf ein voll besetztes Fußballstadion zurasenden Maschine abgeschossen würden? Der Kölner Verfassungsrechtler Otto Depenheuer verneint diese Frage: Der Staat dürfe notfalls in das menschliche Leben eingreifen und seine Aufopferung verlangen, ohne daß dies die Menschenwürde der unschuldigen Passagiere berühre. Man kann auch in Würde sterben (müssen).

Er hatte argumentiert, in der verfassungsrechtlichen Diskussion würden

„weitgehend dissimuliert oder tabuisiert die Zulässigkeit des Streitkräfteeinsatzes, die Formulierung zu verteidigender Interessen und Ziele, die Definition des Feindes sowie die Rechtfertigung möglicher Opfer an Menschenleben. Statt dessen wird der Ausnahmezustand verdrängt, der Feind zum Grundrechtsträger, und die Opfer möglicher terroristischer Anschläge werden buchstäblich allein und ihrem Schicksal überlassen.“[1]

Otto DEPENHEUER, Selbstbehauptung des Rechts-staats, 2.Aufl.2007

In dem tragischen Dilemma, zugleich mit dem auf eine Menschenansammlung zurasenden Flugzeug unschuldige Geiseln abzuschießen, um die größere unschuldige Menschenmenge zu retten, müsse der Staat durchaus zwischen Menschen differenzieren und abwägen, die alle gleichermaßen Menschenwürde besitzen. „Gegenüber dieser äußersten Inpflichtnahme“ der unschuldigen Geiseln

„kann deren Menschenwürde nicht ins Feld geführt werden, nicht, weil sie über keine verfügten, sondern weil diese nicht verletzt wird.“[2]

Während das verfassungsrechtliche Schrifttum im 20. Jahrhundert die staatliche Garantie der Menschenwürde strikt als „nicht abwägungsfähig“ statuierte, differenziert es seitdem. Der Bonner Staatsrechtler Matthias Herdegen unterschied als Kommentator des Grundgesetzkommentars von Maunz-Dürig seit 2005 zwischen einem nicht abwägungsfähigen Würdekern und einer Begriffsperipherie.

„Es gibt durchaus einen ‚Würdekern‘, dessen Verletzung rein gegenständlich-modal durch die Art der Behandlung in Abstraktion von weiteren Umständen begründet ist (etwa Genozid oder Massenvertreibung). […] In anderen Fällen begründet dagegen nicht der Modus, sondern die Finalität der Maßnahme die Würdeverletzung.“[3]

Matthias HERDEGEN, in: Maunz-Dürig-Herzog, Kom-mentar zum Grundgesetz, Lieferung 44, 2005, Kommentar zu Art. 1 I GG.

So gesehen könnte der Abschuß unschuldiger Passagiere mit dem entführten Flugzeug nicht in den Menschenwürdekern eingreifen, sondern ihn gleichsam nur peripher streifen, wenn er in der Absicht durchgeführt wird, noch viel mehr andere Unschuldige am Boden zu retten. Das Bundesverfassungsgericht spricht mittlerweile von möglicherweise „nicht kernbereichsrelevanten Verhaltensweisen“ bei staatlichen Eingriffen.[4] Daran anknüpfend mag man für nicht ihren Würdekern berührend betrachten, notfalls auch unschuldige Passagiere abzuschießen.

Aus Sicht eines radikalliberalen Gleichheitsdenkens ist die Vorstellung unerklärlich, ein Bürger müsse sich unter Umständen selbst für eine Vielzahl anderer aufopfern oder opfern lassen. Sie ist auch nicht zu begründen aus der extremen Perspektive eines Denkens, das den Staat nicht als wechselseitige Solidargemeinschaft versteht, sondern von einem Gesellschaftsvertrag. Den nämlich könnte ein Individuum jederzeit aufkündigen, wenn es ihm paßt. In dem Augenblick, in dem sich eine Abfangrakete auf das Flugzeug richtet, um eine noch viel größere Katastrophe zu verhindern, wäre das eine liberalem Denken naheliegende Option. Es denkt „vertragstreu“ nur, solange es ihm nützt.

Sieht man den Einzelnen in einem stetigen Spannungsfeld zwischen Individualinteresse und Gemeinschaftsgebundenheit, wird

„aus der Perspekive des sich seiner Gemeinschaftsgebundenheit bewußten Individuums […] subjektive Sinnhaftigkeit auch des möglichen Opfers kommuniziert, das seine Menschenwürde nicht autistisch in sich selbst, sondern in der bewußten und verantworteten Selbstaufgabe für andere, für eine Idee, für die Gemeinschaft findet.“[6]

Otto Depenheuer

Die Maxime dieser Haltung heißt: „Deutschland soll leben, und wenn wir sterben müssen!“ Die Worte stehen in Stein gemeißelt in Hamburg am Dammtor auf einem Soldatendenkmal.

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Die letzten Textabsätze sind diesem Buch entnommen.


[1] Depenheuer (2007), S.28 f.

[2] Depenheuer (2007), S.97.

[3] Herdegen (2005) Rdn. 43 zu Art.1 I GG.

[4] BVerfG Beschluß vom 9.5.2016 -1 BvR 2202/13-, Rdn.58.

[6] Depenheuer (2007), S.92 f..