Die Russen kommen!

„Die Russen kommen!“ Für Millionen Deutsche als ihre Opfer von 1945 ist das die Tatarenmeldung schlechthin. Sie aktiviert tiefsitzende Traumata ganzer Generationen, auch die der sekundär traumatisierten Nachkriegsgeborenen. Die einen nahmen im Prozeß ihrer höchstpersönlichen Bewältigung rechte, betont wehrhafte Werthaltungen an. Die anderen erklärten die ganze Welt zu Freunden und woben sich jenes Spinnennetz gutmenschlicher Illusionen, das Putin jäh zerrissen hat. Er strickt bereits an einem neuen Spinnennetz von Lügen. Demnächst werden ukranische Kinder in der Schule lernen, ihr Land sei 2022 von Putin befreit worden.

Der emotionalen Wucht solcher Bilder kann sich nicht entziehen, wer Nemmersdorf, die Wilhelm Gustloff, Flucht und Völkermord an Deutschen 1945 verinnerlicht hat (Bildquelle Ukraine, 25.2.2022).

Der emotionalen Wucht der Bilder eines angegriffenen, um seine Freiheit kämpfenden Volkes und verängstigt in Bunkern sitzender Kinder kann man sich nicht entziehen. Man darf dabei aber niemals den politischen Verstand ausschalten. Dazu leistet hier der Bonner Publizist Theo Homann als Gastautor einen Beitrag.

Moskau läßt den Westen in einen Spiegel eigener Schwäche sehen

Theo Homann

Putins Statement:

„An alle, die eine Einmischung von außen in Betracht ziehen: Wenn Sie dies tun, werden Sie mit Konsequenzen konfrontiert, die größer sind als alle, denen Sie in der Geschichte gegenüberstanden. Alle relevanten Entscheidungen wurden getroffen. Ich hoffe, Sie hören mich.“

Moskau läßt den Westen in einen Spiegel eigener Schwäche sehen, und das wird man ihm dort ganz persönlich nie nachsehen. Er hat einen Plan – sie nicht; er schreibt Geschichte, von der andere nur reden, um nicht entscheiden bzw. handeln zu müssen. Pathetische Appelle, moralinsaure Mienen, dunkle Tuche, schwarze Bändchen am Sportlerarm, Absage des Karnevalzuges, man kennt die Riten, insbesondere seit den Sanierungsfeldzügen im Orient, wo es noch hieß: „Kein Blut für Öl!“

Sondersitzung jagt Sondersitzung, vor allem schmallippige ältere Damen tun sich neuerdings hervor beim Abfeuern leerer Drohungen und hohler Phrasen. Verbalsalve jagt Verbalsalve, seit 1978 semper idem. Die Endlos-Spirale westlicher Attentismen und Ausflüchte wurde nun jählings gestopt, der Taktiker im Kreml streicht den Gewinn seiner Schachpartie ein. Wer durch den Nebel der sattsam bekannten medialen Inszenierungen zu blicken vermag, der erkennt, daß der Westen sich nach der Implosion der SU auf einen illusionären Weg neoimperialer Aspirationen begeben hat:

Kein Ende der Geschichte

Der Westen war und ist eben keineswegs der Gewinner eines 1990f. prognostizierten „Endes der Geschichte“, der inskünftig den Kreml in seine Einzelteile zerlegen würde; Moskau ließ nie einen Zweifel daran, daß es diese Sicht der Dinge bekämpfen würde, was weder die EU, noch die US-NATO wahrnehmen wollte. Der Plan war, Rußland durch Einfluß-Orgas zu destabilisieren, einen Regime-Chance nach Kiewer Muster anzustreben, eine wirtschaftliche Modernisierung, Verflechtung und politische Anbindung wurde ernstlich nie angestrebt, da sie den Interessen der USA zuwiderliefe.

Die Ostküste trieb die maximale Erweiterung der NATO voran, bis dato sind es satte 14 (!) Staatsgebilde auf dem Boden des vormaligen Warschauer Paktes, die von den NATO-Vertragsherren mehr oder weniger freiwillig geschluckt wurden – wobei man den Art. 5, die Pflicht, jedem bedrohten Bündnispartner militärisch (!) beizustehen, freigiebig just an jene Gebilde verteilt hat, die für Russlands Sicherheitsinteressen von zentraler Bedeutung, für den transatlantischen Westen aber marginal sind.

Man wollte nicht sehen, dass der Kreml als primäres Ziel verfolgt, dem eigenen Land geostrategische Sicherheit zu verschaffen, damit zugleich die Wirtschaftsinteressen seiner Führungskaste zu sichern, woraus naturgemäß eine materielle Besserstellung breiter Kreise der Bevölkerung nicht zwingend folgt: durch wirtschaftliche Sanktionen ist eine solche Führungsschicht nicht ernsthaft erschütterbar, selbst das Ziel, die sanktionierten Oligarchen dazu zu bringen, den Paten Putin fallen zu lassen, um sich dem Westen gegenüber liberalophiler aufzustellen – es wird nicht erreichbar sein. Am Ende kommt es erfahrungsgemäß zu verstärkter Oppression nach innen, wobei schon der Druck einer feindlich gesinnten Außenwelt ein übriges tun wird, um die russische Gesellschaft „wie 1941-45 gegen die Faschisten“ zusammenzuhalten.

Mit einem Sanktionsregime versucht der Westen nun, auf Kosten vieler Interessen im Inland, Rußland vom Weltmarkt abzuschneiden; allerdings wird es in einer Welt von 8,5 MILLIARDEN MENSCHEN, nur knapp 10% davon im Natobereich, einem Rohstofflieferanten solchen Kalibers nie an Kunden mangeln. Dies zeigt, daß der Westen nach wie vor mental in der Welt des 20. Jhs. befangen ist: ich lieg‘ und besitz‘, wobei das simplizistisch anmutende Konzept des US-World-Policeman, der rund um den Globus alle 100 Meilen eine seiner Drohnen-Garnisonen postiert, längst nicht mehr funktioniert: aus vielen Gründen gingen seit den sechziger Jahren alle seine militärischen Interventionen erfolglos aus, unter weltweitem Verlust der Reputation des Möchtegern-Hegemons, der mutwillig anfängt, was er dann bloß übel zuende bringt. Putins Schachzug weist auch in diese Richtung: Europäer, Ukrainer – sie werden auch Euch verraten, quod erat demonstrandum…

Der Aufstieg China ändert alles

Der Aufstieg Chinas aber ist die Trumpfkarte im Spiel und hat die geostrategische Partie geradezu revolutionär verändert: wir erleben offenkundig weniger eine Blockkonfrontation alten Stils, vielmehr stehen wir vor der Wiederauflage jener zähen Stellvertreterkriege der Nachkriegsära: der Kreml agiert als eine Art Erkundungstrupp Pekings, das sich den Verlauf der causa Kiew genau ansieht, um womöglich alsbald seine „Marines“ in Richtung Taiwan einzuschiffen. Es riecht nach groß dimensionierten Entscheidungen, früher sprach man von Blut und Eisen.

Die in ökonomistischer Monoperzeptose befangenen, vom Einfädeln ihres jeweils nächstliegenden Wochen-Deals absorbierten westlichen Führungskasten haben den Instinkt für das Politische verloren; Putins emphatische Aktion ist kein lässiger Deal, sie ist durch und durch politisch, kalkuliert mit dem Ernstfall und preist Opfer, Kampf und Tod ein, Wirklichkeiten, die jenseits des egotistischen Konsumdenkens liegen und sich dem Krämerschema von Markt, Angebot und Nachfrage verweigern. Das Stammeln eines Bundeskanzlers ist die Frucht der jahrzehntelangen Ignoranz der anderen Perspektive, speist sich aus der ritualisierten Borniertheit zweier selbstgerechter Generationen, die womöglich blindlings auf den dritten Großkrieg der Moderne zusteuern, no wy out.

Der Ausbruch aus dem selbstgeschaffenen Gefängnis einer solchen „Wertelogik“ vermeintlicher Alternativlosigkeit hätte zunächst den Irrgarten des zigtausendfach redundant Gedachten und Gesagten zu verlassen, er müßte sich selbst, die eigene bräsige Eingespurtheit in Frage stellen, um zu pragmatischen Lösungen jenseits der (bigotten) „Werthaltungen des Westens“ zu kommen. Zu leisten wäre der „nachhaltige“ Abschied von vielen Tabus und Lebenslügen, die sich seit dem Ende des zweiten Großkriegs epidemisch verbreitet haben, längst wirken sie sich nur noch lähmend, infinit  Probleme aufschiebend, ihre Virulenz aufsteigernd aus; Botho Strauss dazu: „In der Sackgasse leben, heißt vom Durchgangsverkehr verschont zu bleiben.“