Lob der Autonomie! Der steinewerfende „autonome“ Bürgerschreck ist gar kein Autono­mer, er ist bloß töricht. Wer dagegen als braver Bürger die staatlichen Gesetze nur um des lie­ben Friedens willen einhält, darf sich mit Recht autonom nennen. Ungefährlich ist der Kriminelle, der die Rechtsordnung an sich anerkennt. Ge­fährlich ist der dem Ge­setz äußerlich Gehorsame, der dessen mora­lischen Wurzeln untergräbt. Nur er ist der Auto­nome. Laßt uns von ihm reden!

Autonom ist nicht der Anarchist, der von der Gesetzlosigkeit träumt. Gäbe es sie, dann wäre eben die Anarchie das Gesetz, nach dem alle anzutreten hätten. Die sozia­len Spielregeln müssen nicht staatlich ver­ordnet sein. Die Regeln des Zusammenle­bens bestimmt, wer die Macht dazu hat, das für ihn und die Seinen Günstige allge­mein durchzusetzen. Hält einer für sich die Friedfertigkeit und das allgemeine Konsens­prin­zip für vorteilhaft, während der andere auf größere Ge­walt setzt, entscheidet die Macht, ob der Fried­liche dem Unfriedli­chen den Frie­den aufzwingt oder umge­kehrt. Je nach dem wird ihr weiteres Zu­sam­men­sein sich nach friedlichen oder un­friedlichen Spielregeln richten.

Einmal im Besitze der Herrschaft, um­gibt sich jeder mit einem Wall von Ge­set­zen. Sie befehlen, daß an der Herrschaft seiner Spielregeln bei Meidung von Strafe nicht gerüttelt werden darf. Vor allem aber: Wer sie bricht, handele unmo­ralisch. Wer das nicht glaubt, ist ein Autonomer. Daß er die Gesetze einhalten muß, reicht ihm. Aber muß er darum auch an ihre Moral glauben?

Eine Moral steckt in jedem Gesetz. Frü­her war Ehebruch strafbar. Heute ist er er­laubt. Gewandelt hat sich erst die herr­schende Moral, dann das Gesetz. In je­dem Ge­setz steckt ein moralisches „Du sollst!“. Gesetzesnormen unter­scheiden sich von Mo­ralbefehlen nur durch ihre staatliche Erzwingbarkeit. Moral läßt sich nicht offen er­zwingen. Sie läßt sich aber durch Indok­trinierung andressieren. Sie läßt sich auch durch öffentlichen Meinungsdruck und Mobbing aufrechterhalten. Wer sich daran nicht gewöhnen mag, ist ein Autonomer. 

Herrschende sind immer autonom: Sie geben den gesetzlichen Ton an. Sie bleiben an der Macht, solange sie die Re­geln regeln. Die oberste lautet: Wer die Rege­lungs­macht anzweifelt, handelt unmo­ralisch. Die Beherrschten sollen an eine andere als die Beherrschermoral gar nicht ohne Gewissensbisse denken dür­fen. Darum stehen Herr­schende vorwiegend auf der anderen Seite der Barrikade: Alle Herr­schaft gründet sich auf Heteronomie. Sie hält nur, solange sie für heilig und unabän­derlich gehalten wird. Wenn die Herr­schaftsideologie einmal bröselt, gibt es kein Halten mehr. So ging es dem Ancien régime vor 1789. So ging es auch der SED vor 1989. So geht es nicht ka­lendermäßig alle 200 Jahre, sondern immer dann, wenn die metaphysische Letzt­recht­fer­tigung einer Herrschaft nicht mehr ge­glaubt wird: überall, wo es zu viele Au­tonome gibt.

Autonomie ist eine Waffe wie alle Ideen. Sie sagt dem Gegner: Deine Gesetze sind bloß so viel wert wie deine Macht. Deine Moral ist nicht wahrer als meine Moral. Es gibt nämlich keine universale Moral für alle. Was der Mensch soll und was er für wert schätzt, muß er allein ent­scheiden. Niemandem ist der Sinn seines Lebens vorgeschrie­ben. Alle sind mora­lisch ebenbürtig. Keiner ist mit höheren Mächten im Bunde. Wer das von sich be­hauptet, der bildet es sich bloß ein, oder er lügt. Für den Autonomen gibt es keinen Gott und keine Hölle, es sei denn, er ent­schiede sich für den Glauben an sie. Für ihn gibt es auch keine moralischen Gedan­kengespenster wie den Geist der Ge­schichte oder den Geist der Humanität. Er glaubt noch nicht einmal an den Volks­geist, in dessen Namen man zu regieren pflegt, seit der Glaube an die Herrschaft von Gottes Gnaden verfassungsfeindlich ist.

Einer der Apostel der Autonomen war Max Stirner. Er glaubte auch nicht an all das schöne Wortgeklingel, mit dem sich die ideologische Zeitenwende an­bahnte. Da­mals stürzten die Aufklärer Gott und schrieb der Na­tur des Menschen bisher Ihm vorbehal­tene Prädikate zu wie die Sitt­lich­­keit, die Frei­heit und die Humanität. Sie erhoben eine be­­stimm­te Idee vom Menschen in den Rang religiöser Verehrung. Je­dem erlegten sie die moralische Pflicht auf: „Du sollst ein ganzer, ein freier Mensch sein.“ So prokla­mierten sie eine neue Religion, ein neues Absolutes, ein Ideal, nämlich die Frei­heit. Wie die Christen Missionare aus­gesandt hatten, weil die Men­schen Christen werden sollten, so erstanden jetzt Missio­nare der Frei­heit. Diese könnte dereinst, prophezeite Stirner 1844, „wie bisher der Glau­­be als Kir­che, die Sittlichkeit als Staat, so als eine neue Ge­mein­de sich konstituie­ren und von ihr aus eine gleiche ‚Propaganda‘ be­trei­ben.“ Könnte man das neue Ideal fin­den, gäbe es eine neue Reli­gion, „ein neues Seh­nen, ein neues Abquä­len, eine neue Andacht, eine neue Gott­heit, eine neue Zerknir­schung.“

Wer befiehlt uns, daß wir sollen sollen?
(Erzbistum Köln, Ausmalbild für Kinder zum 2. Fastensonntag, als Bildzitat hier vom Verfasser durch Sprechblasen modifiziert)

Wer zum Gehorchen notfalls bereit ist, aber nicht zerknirscht sein möchte, schert als räudiges Schäfchen aus der Lichterkette der Moralpflichtigen aus. Der moralische Aussteiger ist der Anfang vom Ende jeder Herrschaft. Der Partisanen­kampf gegen die soziale Vorherrschaft moralisierender Im­perative ist uralt. Im­mer werden Herr­schende die Beherrschten geistig binden wollen durch mo­ralische Heteronomie. Ohne verbind­lichen Glauben an ein heili­ges Allgemein­gültiges können nicht Mil­lionen Menschen zusammenleben. Immer wird es Men­schen geben, die den Zusam­menhang zwischen der Herrschaft und ih­rer Ideolo­gie durchschauen. Sobald sie „Ihr da oben und wir hier unten“ sagen, werden sie diese Hierarchie umdrehen wollen. Wer nach oben will, muß zuerst einmal ein Autonomer werden. Sobald er aber selbst herrscht, kann er nur oben bleiben, wenn die anderen jetzt an seine Moral glauben müssen. Robert Michels sah schon 1911 in jedem Revolutionär eine Veränderung vorgehen, sobald er an die Macht kommt: Die Revolutionäre von gestern wurden zu den Reaktionären von heute.

Autonom zu sein ist keine neue Ideolo­gie, keine Weltanschauung und keine fi­xe Idee für alle Zeiten. Wie alle geistigen Waffen darf sie dereinst einmal an den Na­gel gehängt werden. Wer sich mit dem Zeitgeist einig weiß und Lichterketten mag, braucht sie erst gar nicht zu führen. Er steht auf der anderen Seite. Wem es aber unerträglich ist, wenn ihm betroffene Fern­sehmatadoren Abend für Abend mit ver­biesterter Miene einreiben, was er gerade noch ohne Gewissensbisse den­ken darf; wer selbst entschei­den will, wen er lieben will und wen er häßlich fin­den möchte, der wird sich in der Rüstkammer der Aufklä­rung eindecken. Er wird sie als Autonomer wieder verlassen.

Die Aufklärung, daß die gemeinschaftsbildenden Tu­gen­den letztlich nicht reli­giös oder sonst metaphy­sisch begründbar sind, hat zum Verlust al­les des­sen ge­führt, was ein Gemeinwesen im Inner­sten zu­sam­men­hält. Gehlen zu­folge lö­ste sie „die Treue­pflicht zu außer­rationalen Wer­­ten auf, hob die Bin­­dun­gen durch Kritik ins Bewußtsein, wo sie ver­ar­bei­tet und zer­dampft wurden, und stellte For­meln bereit, die An­griffs­po­ten­tial, aber kei­ne konstruktive Kraft hatten.“ Das gilt überall, wo jemand sich Ent­scheidungs­freiheit herausnimmt. Nur das kritische, aufklärerische Bewußtsein vermag die erforderliche Angriffsenergie zu ent­fes­seln. Das zweischneidige Schwert der Auto­nomie kann die Legitimität je­der Herr­schaft zerstö­ren. Das kann nur ver­antworten, wer seine Existenz auf dem Spiel stehen sieht.

Er wird niemals so töricht sein, allein gegen alle kämpfen zu wollen. Nach ei­ner Formulierung der selbsternannten Kreuz­berger Autonomen soll Freiheit die Zeit­spanne sein, wenn der Stein aus der Faust fliegt bis zu seinem Auftreffen. Doch das ist Frei­heit nicht. Frei ist, wer die Macht dazu hat, dauerhaft seinen Le­bensentwurf zum all­gemeingültigen Maßstab zu ma­chen. Einzelgänger können darum nie wahrhaft frei sein: Ihre Freiheit endet an jeder Haustür jedes Nach­barn. Das Spiel „Ich gegen den Rest der Welt“ spielen ge­gen die 5 Milliarden an­deren nur Dumm­köpfe. Die Mindest­anzahl für eine erfolg­versprechende Teil­nahme an dem großen Spiel der Menschheits­gesellschaft ist – ich behaupte ein­mal: 80 Millionen! Mann­schaften, die weniger Mit­glieder zählen, nimmt keiner recht ernst. 

Mannschaftsgeist ist gefragt! Wenn wir die Wirkungen des Ge­mein­schaftli­chen wieder nutzbar machen wollen, muß die Auflösung der gemeinschaftsbil­denden Werte ein Ende haben. Sie sind der Mörtel, der die Bausteine unseres Gebäudes zu­sam­men­hal­ten soll. Um sie sozial wirken zu lassen, müssen wir den Vorhang der Aufklärung schließen und so­ziale Tugen­den verkünden und an­wen­den, als ob diese heilige und ewige Wahrheiten enthielten – unsere „Wahrheiten“! Es ist praktisch un­mög­lich, ein Volk von Autonomen zu­sam­menzuhalten, die an über­haupt nichts glau­ben.

Nur mit vereinten Kräften sind wir stark. „Der Ver­ein“, riet uns Stirner, „ist nur dein Werk­zeug oder das Schwert, wodurch Du deine na­tür­liche Kraft ver­schärfst und ver­größerst; der Verein ist für Dich und durch Dich da.“ Dumme Autonome halten sich für links. Sie werden Anar­chisten und verzich­ten auf die An­­nehmlichkeiten des Ge­mein­schafts­­­lebens. Schlaue Autonome denken weiter: Sie sind keinen Deut we­niger auto­nom, nur weil sie die Autonomie nicht auf sich al­lein be­ziehen, sondern auf ein paar Leute mehr. Jeder dient sich selbst am be­sten und nach­hal­tig­sten, indem er sich mit anderen zusam­men­schließt. Selbstbestimmung ist normative Autonomie, oder sie ist eine Farce. Nur mit vereinten Kräften können sich Menschen auf diesem Globus ei­nen Freiraum schaffen, in dem sie ihrer Eigenart entsprechend leben können.  Seine Freunde kann man sich aussuchen, seine Verwandten nicht.

Dumme Autono­me suchen sich ein paar gleichgesinnte Halbstarke und schmeißen Pfla­stersteine auf Polizisten. Kluge Autonome wissen: Ein Hühnerhaufen wird immer ohnmächtig blei­ben. Treue, Opfermut und Solidarität sind keine zerebralen Kün­ste. Die Mutter, die sich Tag für Tag für ihre Kinder ab­schuftet, der Sohn, der seine Heimat gegen eine In­vasion verteidigt, der Bruder, der für den Bruder ein­steht – sie alle folgen ihrem inner­sten Gefühl. Dieses sagt ihnen: Für viele habe ich mal einen Groschen übrig, aber nur für wenige hafte ich mit meiner ganzen Existenz. Nur wo brüderlich zu­sammengehal­ten wird, haben alle gemein­sam die Chance zur Autonomie: Zur Selbstbestimmung ge­gen die Eine Welt und gegen alle diejenigen, die sie bereits heute moralisch instal­lie­ren und die sie morgen be­herr­schen wollen.

(Erstpublikation in: Junge Freiheit 5/1996,
nachgedruckt in „eleusis“ Mitte 1996)