Kontrafunk-Edition: Vahlefelds Wutschrei
„Die liberale Demokratie“, schreibt Markus Vahlefeld in seinem neuen Buch, „ist der größte Etikettenschwindel des noch jungen 21.Jahrhunderts.[1] Die Worte wecken Neugier. Ist nicht liberal zu sein geradezu die neue Staatsdoktrin UnsererDemokratie? Ist sie womöglich gar keine?
Meine aufmerksamen Leser wissen schon lange, daß das Grundgesetz keine Staatsform Demokratie“ kennt, sondern eine Republik mit verschiedenen Merkmalen begründet, deren eines demokratisch zu sein lautet: Der politische Wille hat sich vom Volk zu den Staatsorganen hin zu bilden und so fort. Die Regierungsform dieser demokratischen Republik besteht in einem ausgeprägten Parlamentarismus nach englischem Vorbild.
Verfassungsfragen aber beschäftigen Markus Vahlefeld nicht weiter. Er arbeitet sich an unserer zum Wokismus neigenden politischen Klasse ab. Diese, weist er nach, hat mit Demokratie nicht viel am Hut. Sie mißbraucht nur den Namen jener antiken Staatsform, in der das Volk sich auf dem Marktplatz versammelte und selbst regierte.
Daß eine Idee sich endgültig durchgesetzt hat, erkennt man in der Geistesgeschichte immer daran, daß sich die gegensätzlichen Interessen und Meinungen jetzt um die richtige begriffliche Auslegung drehen. Wenn alle Liberale und alle Demokraten sein wollen, ist noch nichts gewonnen, wenn sie die Begriffe diametral verschieden benutzen.
Liberal zu sein, definiert die berühmte Mitte der Gesellschaft und wird ergo als Synonym für jenen Meinungskorridor benutzt, der die Demokraten in Abgrenzung zu den Undemokraten definiert.
Markus Vahlefeld, Die Krisenmaschine, S.21.
Der Autor malt sein Bild des real existierenden Liberalismus in grellen Farben und Kontrasten und schmückt es mit prallen Formulierungen. So hellsichtig er aber die sichtbaren Phänomene beschreibt, fehlt es doch an vielen Stellen am tieferen Verständnis.
So fällt Vahlefeld zwar über den Liberalismus ein vernichtendes Urteil, „nicht nur als theoretisches oder philosophisches Konstrukt […], sondern als Phänomen, das die unterschiedlichen Lager verbindet und noch wichtiger: für so viele Bürger und Wähler einen angenehmen Klang hat.“[2] Dabei bemerkt er nicht, daß der Begriff des Liberalismus die Lager allenfalls im Sinne einer Arena verbindet, in der erbitterte Auseinandersetzungen toben, einem Kampfplatz, auf den die Gegner sich geeinigt haben und wo sich sich gegenseitig aus dem Felde schlagen wollen.
Dazu bedienen sie sich theoretischer philosophischer Konstrukte, von denen aus sie den „wahren“ Liberalismus und die „wahre“ Demokratie verkünden. Wer diese ideologischen Konstrukte vernachlässigt, gerät trotz allen Eifers, trotz glänzender und witziger Formulierungen und trotz richtiger Teilanalysen auf eine schiefe Ebene:
Die Zivilgesellschaft Habermas’scher Prägung ist Symptom und Ursache zugleich für den eklatanten Niedergang und Nihilismus in der sogenannten liberalen Demokratie.
Markus Vahlefeld, S.213.
Leider übersieht Vahlefeld hier, daß Habermas keineswegs „Nihilist“ ist. Dessen prozeduralistische Diskurstheorie liegt voll in liberaler Urtradition und beruht auf einem umfassenden metaphysischen Glaubenssystem – allerdings einem anderen als dem katholischen, das bei Vahlefeld durchscheint und einen unverhandelbaren, endgültigen Wahrheitsbegriff vertritt.
Der Kern des Liberalismus besteht nicht in einem Nihilismus, sondern in dem Glauben, man könne Wahrheit prozedural erzeugen: Lasse man nur in einer Diskussion alle Gründe und Gegengründe zu Wort kommen, ergebe sich gleichsam aus ihrer Quersumme – wie von unsichtbarer Hand – die Wahrheit. Lasse man in einem Land alle ökonomischen Akteure frei und ungeniert ihren Eigeninteressen nachgehen, ergebe sich aus ihrer Quersumme – wie von unsichtbarer Hand – das Gemeinwohl.
Diese nur metaphysisch erklärbare „unsichtbare Hand“ bildet den Kern allen liberalen Denkens. Sie ist noch wirksam in der letzten verrückten Variante des Liberalismus: dem Wokismus: Man müsse jeder gesellschaftlichen Variante freien Lauf lassen und selbst die Perversion behüten wie ein seltenes Blümchen, denn erst wenn alle Akteure sich ungeniert ausleben können, darf man – wie von unsichtbarer Hand – das endliche Erscheinen des freien Menschen auf Erden erwarten.
Vahlefeld erkennt die dem Liberalismus bis hin zum Wokismus innewaltende Heilserwartung nicht. Er verwechselt Dekonstruktion und Nihilismus. Wer ein gegnerisches ideologisches Konstrukt angreift und dekonstruiert, bloß um sein eigenes an die Stelle zu setzen, ist keineswegs Nihilist. Nihilist ist, wer alle nur auf metaphysische Glaubensannahmen gestützten Ideologien lächelnd durchschaut, ohne den Ehrgeiz zu entwickeln, für seine eigene Metaphysik zu missionieren.
Darum liegt Vahlefeld daneben, wenn er „Nihilismus“ auf „Selbsthaß“ zurückführt:
Der Mythos des 21. Jahrhunderts heißt ja gerade nicht „Klimaveränderung“, sondern heißt „menschengemachter Klimawandel“, wobei es nur um die Menschen des Westens geht, die an diesem Klimawandel Schuld tragen. Damit amalgamiert dieser Mythos den Selbsthaß des Westens, den man gemeinhin Nihilismus nennt, mit einer Büßermentalität, die den Flagellanten des ausgehenden Mittelalters nachempfunden ist.
Vahlefeld, S.105.
Auch hier fällt wieder die gute Beobachtung, diesmal des westlichen Selbsthasses, auf, wird aber auf dem verkehrten Schuldkonto verbucht. Der tiefere Grund für die wiederkehrende argumentative Schieflage Vahlefelds besteht in seinem eigenen Glauben, von dessen Warte aus jeder Nihilismus des Teufels sein muß, der dualistische Weltbilder ablehnt. Das sind Weltbilder, die ein Jenseits hinter dem Diesseits behaupten, in dem Geister, Gespenster, Götter oder Dämonen walten. Vahlefeld polemisiert heftig:
Die Materie ist genauso wirklich oder unwirklich wie der Geist. Das Weltbild der Naturwissenschaften hat die Postmoderne flugs auf den denkenden und fühlenden Menschen angewandt und fand nichts mehr vor, was sich nicht im ständigen Abstoßungsspiel der Protonen, Neuronen und Elektronen befand. Der Geist wird entweder ganz geleugnet, auf Hirnströme heruntergebrochen oder als Spiritualität ins Reich des Aberglaubens verbannt. Auch die menschliche Seele ist zur Psyche mutiert und damit nur noch das Betätigungsfeld der Klinik.
Vahlefeld, S.39.
Er trauert um den Verlust des „verbindenden Mythenteppichs“, der für die Gemeinschaft eine Kulturraums identitätsstiftend wirkte. Da er damit die alte scholastische Universitas christiana meint, macht seinen Text problematisch und angreifbar. Es sei „die Funktion heutiger Narrative, Partikularinteressen als gleichberechtigte, kleine Erzählungen nebeneinander stehen zu lassen“ (S.41). Die „göttliche Ordnung der Dinge“ sei „endgültig abgeschafft“ (S.40). „Instinktiv ahnt der Mensch, daß das Göttliche in ihn hineinragt“ (S.86).
Hätte Vahlefeld damit Recht, müßte ich meine Zugehörigkeit zum Homo sapiens doch einer ernsthaften Prüfung unterziehen.
Im Liberalismus und Wokismus haben Vahlefeld und Rechte aber einen gemeinsamen Gegner. Seine Schrift erweist sich als Aufschrei eines uns Verbündeten aus tiefstem gläubigen Herzen, passagenweise als glänzend formulierter Wutschrei gegen die „schwarmdumme Elitenherrschaft“ (S.29), die alles zerstört, was wir lieben. Daß Vahlefeld dabei ein in punkto „Aufklärung“ noch etwas zurückgebliebener, weiterer Aufklärung bedürftiger Verbündeter ist, tut nichts zur Sache. Wir können uns in unserer Lage die Verbündeten nicht aussuchen, denn es sind zu wenige.
Wer „die Verwandlung einer funktionierenden freiheitlichen Gesellschaft in eine hysterisch-totalitäre Irrenanstalt“ (S.192) ablehnt, wird an dem Büchlein jedenfalls seine helle Freude haben.
Lesen Sie es, es lohnt sich, und seien Sie dabei nicht so kritisch wie ich!
[1] Markus Vahlefeld, Die Krisenmaschine, Angst und Herrschaft in der liberalen Demokratie, Kontrafunk Edition, Steckborn 2025, ISBN 978-3-9525739-7-6, S.17.
[2] Vahlefeld, S.22.
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